Wolfsburg. Chefredakteurin Kerstin Loehr erinnert sich an persönliche Begegnungen mit Professor Carl Hahn, dem langjährigen VW-Chef.

Die zahlreichen Nachrufe zu dem verstorbenen VW-Vorstandsvorsitzenden und Wolfsburger Ehrenbürger Carl H. Hahn ähneln sich in einem Punkt auf beeindruckende Weise: Egal, ob sie von Jung oder Alt kommen, aus dem Konzern oder aus Politik, Kultur oder Gesellschaft: Er gilt bis heute als ein großes Vorbild.

Es fallen Begriffe, die in unserem Sprachgebrauch selten geworden sind: kultiviert, gebildet, vornehm, elegant, integer, höflich, privilegiert, konservativ. VW-Personalchef Gunnar Kilian wählte in seiner Reaktion auf den Tod von Prof. Dr. Carl Horst Hahn die auf einem antiquierten Ritual beruhende, aber mächtige Formulierung: „Die Mannschaft verneigt sich dankbar vor seinem Lebenswerk für uns.“

Carl Hahn – ein „Herr“ eben, wie ihn unser Autor Eckhard Schimpf in seinem großen Rückblick auf das Leben des VW-Managers nannte – nicht ohne das „Abgedriftet-Sein dieses Begriffs ins Inhaltsleere“ zu betonen. Genau diese Empfindung, dass der Mann, der Volkswagen zum Weltkonzern formte, der Kunstliebhaber, Bildungspionier und immer wieder auch Gesellschaftskritiker, in unserer heutigen Welt eine Ausnahme-Persönlichkeit war, regt zum Nachdenken an.

Chefredakteurin erinnert sich an ersten Interviewtermin mit Carl Hahn im Kunstmuseum Wolfsburg

Szenenwechsel ins Jahr 2014: Mein erster großer Interview-Termin mit Carl Hahn in seinem Büro im Kunstmuseum Wolfsburg. Der Grund: kein Geburtstag, sondern ein Jubiläum – 60 Jahre in Wolfsburg. Es war der 6. Dezember 1954, als der promovierte Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Hahn nach einem Jahr als Diplomat in Paris nach Wolfsburg zu Volkswagen wechselte.

Auch wenn man gemeinhin Journalisten, was Kleidung angeht, gern eine Egal-Haltung unterstellt: Bei dem früheren VW-Vorstandsvorsitzenden galt – ungesagt – eine gewisse Etikette. Und so empfing Carl Hahn uns, den Fotografen und mich, selbstverständlich im traditionellen Business-Stil gekleidet, Anzug mit Krawatte. Und wie immer in dieser unvergesslich aufrechten Haltung, die einen sofort selbst erfasste. Der Konferenztisch, stilvoll für uns gedeckt. Blickfang war der Schreibtisch – kein kühles Designmöbel, sondern ein Stück Leben voller Details, die Hahns Liebe zu technischer Raffinesse, zu Kunst und Kultur offenbarten. Dahinter eine Bilderwand – zwei große Familien, eine berufliche, eine private.

Alles hatte Klasse.

Die Atmosphäre war und blieb besonders. Nein, locker oder lässig war sie nicht, aber persönlich, wertschätzend, sehr einnehmend. Da wurde nicht gequatscht, da wurden die Worte gesetzt, druckreif. Das steckte an – und forderte.

Carl Hahn in seinem Büro im Kunstmuseum Wolfsburg 2014.
Carl Hahn in seinem Büro im Kunstmuseum Wolfsburg 2014. © Regios24 | Yvonne Nehlsen

Zunächst sprachen wir über VW. Hahn sagte alles in einem schnittigen Statement: „Ich bin seit vielen Jahren nicht mehr ,Insider‘. Mir fehlen deshalb die Voraussetzungen für ein Urteil. Aber ich kenne die Menschen bei VW, darunter auch meine Freunde aus der Produktion, und weiß, dass sie alle Erfordernisse und den so wichtigen Zusammenhalt besitzen, um die immer anspruchsvolleren, immer schnelleren Veränderungen zu meistern.“

Hahn war gewohnt zu reden. Und gewohnt, dass die Menschen ihm zuhörten. Seine Themen an diesem Tag – und auch bei weiteren Interviews und inspirierenden Treffen in Wolfsburg – waren die großen gesellschaftlichen Herausforderungen, die heute aktueller sind denn je: Globalisierung, Erziehung, Bildung, Exzellenz. Themen, denen er auch weite Teile seiner Biografie „Meine Jahre mit Volkswagen“ widmete.

Erinnerungen an den früheren VW-Chef Carl Hahn

Ein Leben mit vielen Andenken. Carl Hahn zeigt uns seine unzähligen Erinnerungen 2017 in seinem Büro. In dieser Bildergalerie teilen wir eine Auswahl unserer wichtigsten Momente mit ihm.
Ein Leben mit vielen Andenken. Carl Hahn zeigt uns seine unzähligen Erinnerungen 2017 in seinem Büro. In dieser Bildergalerie teilen wir eine Auswahl unserer wichtigsten Momente mit ihm. © Simka/ regios24
Carl Hahn war von 1955 bis 1964 Geschäftsführer von Volkswagen USA. Mit dem Geschäftssitz der Vertriebsgesellschaft wollte Hahn in Englewood Cliffs, New Jersey in den USA durchstarten. Das Foto zeigt die Grundsteinlegung.
Carl Hahn war von 1955 bis 1964 Geschäftsführer von Volkswagen USA. Mit dem Geschäftssitz der Vertriebsgesellschaft wollte Hahn in Englewood Cliffs, New Jersey in den USA durchstarten. Das Foto zeigt die Grundsteinlegung. © Volkswagen
Carl Hahn spricht anlässlich des Übergangs vom Golf I zum Nachfolgermodell 1983 zur Belegschaft.
Carl Hahn spricht anlässlich des Übergangs vom Golf I zum Nachfolgermodell 1983 zur Belegschaft. © Volkswagen AG 60 Jahre WN
Der Grundstein für den immensen Erfolg in China: Carl Hahn im Jahr 1984 bei der Grundsteinlegung für die Fabrik in Shanghai.
Der Grundstein für den immensen Erfolg in China: Carl Hahn im Jahr 1984 bei der Grundsteinlegung für die Fabrik in Shanghai. © VW AG
1989 – die Grenze ist gefallen. Die DDR-Bürger besuchten Wolfsburg. Carl Hahn (rechts, helle Jacke) erinnerte sich in unserer Zeitung: „Die Innenstadt von Wolfsburg war voll mit Menschen aus Ostdeutschland. Ich stand in meiner VW-Jacke in der Porschestraße und bin mit den Besuchern ins Gespräch gekommen. Das war höchst interessant. Wir luden zur Besichtigung des VW-Werks ein und im Automuseum gab es eine Sonderausstellung zu ostdeutschen Motorrädern. Es machte die Ostdeutschen stolz, dass ihre technische Vergangenheit im Westen nicht vergessen und geehrt wurde.
1989 – die Grenze ist gefallen. Die DDR-Bürger besuchten Wolfsburg. Carl Hahn (rechts, helle Jacke) erinnerte sich in unserer Zeitung: „Die Innenstadt von Wolfsburg war voll mit Menschen aus Ostdeutschland. Ich stand in meiner VW-Jacke in der Porschestraße und bin mit den Besuchern ins Gespräch gekommen. Das war höchst interessant. Wir luden zur Besichtigung des VW-Werks ein und im Automuseum gab es eine Sonderausstellung zu ostdeutschen Motorrädern. Es machte die Ostdeutschen stolz, dass ihre technische Vergangenheit im Westen nicht vergessen und geehrt wurde. © VW
Eng verbunden mit Wolfsburg: Marisa und Carl Hahn beim 50-jährigen Stadtjubiläum.
Eng verbunden mit Wolfsburg: Marisa und Carl Hahn beim 50-jährigen Stadtjubiläum. © WN
1992: Carl Hahn, unter anderem mit Betriebsratschef Klaus Volkert (2. von rechts) empfangen Michail Gorbatschow im VW-Werk.
1992: Carl Hahn, unter anderem mit Betriebsratschef Klaus Volkert (2. von rechts) empfangen Michail Gorbatschow im VW-Werk. © BZV-Archiv
Im September 2008 zeigte uns Hahn in seinem Wolfsburger-Innenstadt-Büro diese frühe Zeichnung eines VW Golf.
Im September 2008 zeigte uns Hahn in seinem Wolfsburger-Innenstadt-Büro diese frühe Zeichnung eines VW Golf. © Bernward Comes
2005 veröffentliche Carl Hahn seine Biographie
2005 veröffentliche Carl Hahn seine Biographie © Klaus Helmke
2016 Eröffnung von Movimentos: Herbert Diess (links) wird erst in zwei Jahren VW-Vorstandschef werden. Den Posten bekleidete Carl H. Hahn zwischen 1982 und 1993.
2016 Eröffnung von Movimentos: Herbert Diess (links) wird erst in zwei Jahren VW-Vorstandschef werden. Den Posten bekleidete Carl H. Hahn zwischen 1982 und 1993. © Anja Weber regios24
Die BBS wird zur Carh-Hahn-Schule. Bei der Enthüllung im Jahr 2018 bedankte sich Hahn bei den Schülervertreterinnen Lisa Alaimo (von links), Claudia Gianchino und Elisa Paluch.
Die BBS wird zur Carh-Hahn-Schule. Bei der Enthüllung im Jahr 2018 bedankte sich Hahn bei den Schülervertreterinnen Lisa Alaimo (von links), Claudia Gianchino und Elisa Paluch. © regios24/Helge Landmann
"Ein wahrer Genuss", so Carl Hahns Meinung zum ID.3, hier im Bild mit dem früheren VW-Chef Herbert Diess (links) nach einer Testfahrt. Dem Elektromotor konnte Hahn viel abgewinnen. 2021 hatte er sich seinen eigenen ID.3 in der Autostadt abgeholt.
BZ/WN-Chefredakteurin Kerstin Loehr bei einem Interview mit Carl Hahn im August 2019.
BZ/WN-Chefredakteurin Kerstin Loehr bei einem Interview mit Carl Hahn im August 2019. © regios24/Lars Landmann
Anlässlich des  96. Geburtstages von Carl Hahn enthüllte das Kunstmuseum Wolfsburg im Sommer 2022 eine Portraitbüste des früheren VW-Chefs. Links: Künstler Ubbo Enninga.
Anlässlich des 96. Geburtstages von Carl Hahn enthüllte das Kunstmuseum Wolfsburg im Sommer 2022 eine Portraitbüste des früheren VW-Chefs. Links: Künstler Ubbo Enninga. © regios24/Helge Landmann
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Marisa und Carl Hahn-Stiftung lebt weiter

Hahn erläuterte unmissverständlich: „Die heutige Zeit zu verstehen, erfordert eine entsprechende Ausbildung. Wir bereiten unsere Mitmenschen jedoch nicht genug auf die Realitäten in Europa und der Welt vor. Mangelndes Verständnis führt dann schnell zu Unsicherheit und Angst, die der schlechteste aller Ratgeber und damit ein großes Problem für unsere Demokratie ist.“ Wie wahr. Ein Visionär.

Berührt hat mich damals, mit welch inniger Empathie Carl Hahn mir seine Fotowand erklärte – wie dieser so weit gereiste Mensch gleichzeitig so viel Familiensinn und so viel Wolfsburg-Liebe vermitteln konnte. Wie er kurz innehielt, bevor er liebevoll über seine verstorbene Frau Marisa sprach, die in einem seiner vielen Projekte weiterlebte: der Marisa und Carl Hahn-Stiftung.

Es war nur eine von Dutzenden Aktivitäten, die sein Leben in den vergangenen Jahrzehnten bestimmten. Work-Life-Balance? Da hielt es der frühere VW-Chef mit Konfuzius: „Wähle einen Beruf, den du liebst, und du wirst nie wieder arbeiten müssen.“ Und dann war da noch die Liebe zur Kultur in Wolfsburg, die Carl Hahn schon zu Zeiten seines großen Lehrmeisters, Generaldirektor Heinrich Nordhoff, begeistert und ihn letztlich dazu angeregt hatte, das Kunstmuseum zu initiieren.

Gerade in den letzten Jahren aber wurden die Kleinen unter uns zu seiner großen Herzensangelegenheit: Seine Kinder und Enkelkinder. Aber mehr noch, alle Kinder. In mehreren Kindergärten in Wolfsburg förderte Hahn die Zweisprachigkeit, denn sein Credo lautete: „Die angeborene Intelligenz wird mit jeder Sprache erhöht. Das macht aus unseren Kindern bessere Kinder, weil sie klüger sind.“ So hatte seine Frau Marisa, die Amerikanerin, konsequent mit den gemeinsamen Kindern zu Hause englisch gesprochen.

Geradezu kämpferisch wurde Hahn, wenn es um das deutsche Bildungssystem ging: „Unsere Schulen haben die Pflicht, unsere Kinder auf die Welt von morgen vorzubereiten. Mit einem Bildungssystem von gestern wird das jedoch nicht gelingen. Ich kann unseren Kultusministern daher nur raten, sich endlich einmal einen chinesischen Kindergarten und Eliteschulen anzusehen. Fortschritt wird schließlich von Eliten erzeugt.“ Dieses Wort Eliten, lange verpönt, aus dem Mund eines Privilegierten, wie Hahn sich selbst nannte, klingt ganz selbstverständlich – kühl und allein der Sache verpflichtet. Wie so vieles, was bleibt von Carl H. Hahn.

Lesen Sie hier alle Texte zum Tode von Carl H. Hahn: