Braunschweig. Susanne Pfleger sagt den Theatern in Wolfsburg und Braunschweig und auch der HBK eine gute Zukunft voraus.

Susanne Pfleger ist bestens vernetzt in der Kunstszene der Region und darüber hinaus. Seit einigen Jahren bringt sich die Direktorin der Städtischen Galerie Wolfsburg eloquent und kenntnisreich in die Orakel-Aktion unserer Zeitung ein, wenn es um die Trends in der internationalen und regionalen Kulturlandschaft von morgen geht. Unser Redakteur Martin Jasper sprach mit ihr auch über die Zukunft der HBK und die Folgen des Aufstands der Frauen nicht nur in Hollywood.

Wenn wir davon ausgehen, dass es schon wieder nicht Adonis wird: Wer bekommt den Literatur-Nobelpreis?

Nach Bob Dylan und Kazuo Ishiguro wäre eigentlich einmal wieder eine Frau an der Reihe. Aber da ich ja gerne auf die etwas umstrittenen Außenseiter setze, bringe ich Michel Houellebecq ins Spiel. Der französische Romancier sorgte zuletzt mit dem Roman „Die Unterwerfung“ (Original: „Soumission“) für Aufsehen – eine Utopie und gleichzeitig eine intelligente Gesellschaftssatire. Persönlich ist mir Houellebecqs stets zur Schau getragener Weltekel manches Mal zu heftig, aber er ist zweifelsohne ein Schriftsteller von Weltrang, dessen mehrdeutige Werke und Gedankenexperimente immer wieder Debatten anstoßen.

„Während meiner Studienzeit verging an der HBK kein Semester ohne größere Protestaktionen.“
„Während meiner Studienzeit verging an der HBK kein Semester ohne größere Protestaktionen.“ © Susanne Pfleger, Direktorin der Städtischen Galerie WolfsburgFoto: Kleinschmidt

Wer bekommt den Büchner-Preis, die bedeutendste deutsche Literatur-Auszeichnung?

Der Büchner-Preis ist eine Würdigung mit großer Tradition, der eher auf Bewährtes setzt. Vielleicht ist die Jury 2018 einmal etwas mutiger und zeichnet Feridun Zaimoglu aus. Seinen jüngsten Roman „Evangelio“ empfand ich als ansprechende Abwechslung im Luther-Jahr. Der türkischstämmige Autor zeigt hier wie immer großen Kenntnisreichtum. Bei Zaimoglu handelt es sich nicht nur um einen brillanten und vielseitigen Künstler, sondern auch um eine aktive und einflussreiche Stimme, die sich in den aktuellen politischen Diskurs einbringt.

Wer bekommt beziehungsweise verdient den Goslarer Kaiserring. Warum?

Steve McQueen mit seinem irritierenden Werk wäre ein interessanter Preisträger. Der Filmemacher, Fotograf und Videokünstler ist einer der bedeutendsten englischen Gegenwartskünstler. Stets spielen seine die traditionellen Gattungsgrenzen überschreitenden Arbeiten mit den Erwartungen des Publikums und fordern die Wahrnehmung heraus. Er trifft den Nerv unserer Zeit.

(Anmerkung der Redaktion: Vor kurzem hat die Stadt Goslar bereits den Kaiserring-Preisträger für das Jahr 2018 bekanntgegeben: Es ist der deutsche Fotokünstler Wolfgang Tillmanns. Zumindest im Hinblick auf das Medium hatte Susanne Pfleger also das richtige Gespür)

Wenn man sich die Theaterregion Braunschweig/Wolfsburg anschaut, fällt auf, dass das Theater in Wolfsburg boomt. Wird es in der Zuschauergunst das Staatstheater Braunschweig überflügeln?

Das Wolfsburger Scharoun-Theater war schon immer sehr gut ausgelastet. Seit der Einweihung Anfang der 1970er Jahre ist die Akzeptanz beim Wolfsburger Publikum sehr hoch, obwohl es während der Bauzeit damals durchaus Kontroversen gab. Nach der äußerst gelungenen Sanierung des Baukörpers und der Spielstätte in den letzten drei Jahren wurde das Theater noch beliebter. Ich kann dem Intendanten Rainer Steinkamp zu „seinem“ Haus nur gratulieren. Beim Wolfsburger Scharoun-Theater handelt es sich aber im Gegensatz zum Staatstheater Braunschweig um ein Bespieltheater ohne eigenes Ensemble. Braunschweig ist ein Mehrspartenhaus mit eigenem Ensemble und einem eigenen Staatsorchester. Hier kann Raum für Experimente und neue Inszenierungen geboten werden. Das heißt, wir sprechen über zwei verschiedene Spielstätten, die man nicht über einen Kamm scheren kann. Ich wünsche beiden Theatern 2018 eine Auslastung über 90 Prozent!

Was unternimmt die neue Intendantin Dagmar Schlingmann, um ihr Haus zu neuer Blüte zu führen?

Na ja, das Staatstheater Braunschweig ist ja kein verdorrter Busch, der erst einmal hochgepäppelt werden muss, damit man ihn wieder beachtet. Frau Schlingmann hat ein gut ausgestattetes Haus übernommen, das in Braunschweig eine große Tradition hat. Sie wird sicher – wie wir alle – ein besonderes Augenmerk auf die jungen Menschen haben, die bisher vielleicht mit dem Theater noch nicht so recht warm werden konnten. Da sind mit dem Jungen Staatstheater, das eine eigene Sparte bildet, gute Voraussetzungen gegeben. Insgesamt wird sie das Profil des Staatstheaters noch weiter schärfen und es als eine Spielstätte etablieren, die alle gerne besuchen.

Wird endlich mal eine Braunschweiger Inszenierung zum Berliner Theatertreffen eingeladen? Wenn ja, welche?

Uff, da muss ich passen.

Der Start des umstrittenen Berliner Volksbühnen-Intendanten Chris Dercon darf als desaströs bezeichnet werden. Was wird sich dort tun? Kann sich Dercon im Sattel halten?

Schaut man sich die Rezensionen an, waren nicht alle einer Meinung und die meisten eher verhalten, aber Desaster ist vielleicht etwas zu negativ, oder? Zugegeben, mich hat das Programm auch nicht vom Hocker gerissen. So hätte ich mir für einen solch wichtigen Eröffnungsabend eine neue, für die Volksbühne entwickelte Arbeit von Tino Sehgal gewünscht und nicht die Wiederholung der schon bekannten Performances. Aber man sollte Chris Dercon schon eine Chance geben und seine Suche nach dem Theater von morgen begleiten. Durch den digitalen Wandel verändert sich auch das Publikum, es hat sich schon dramatisch verändert. Das beobachten wir auch in den Museen. Eine Befragung von Theaterkonventionen, wie Dercon sie praktiziert, macht Sinn. Er bleibt noch im Sattel, und beim nächsten Orakel schauen wir mal.

Die HBK Braunschweig ist nach wie vor in der Krise. Studenten streiken, Mitglieder verlassen den Förderverein, der Vizepräsident Lange geht von Bord, die Präsidentin Vanessa Ohlraun hält sich gern auf Tauchstation auf. Wird es ihr gelingen, den Tanker wieder auf Kurs zu bringen und die innere Zerrissenheit der Hochschule zu überwinden? Wenn ja – wie?

Während meiner Studienzeit – die zugegeben schon länger zurück liegt – verging kein Semester ohne größere Protestaktionen. Besetzungen, Streiks und Boykotts waren an der Tagesordnung. So gesehen finde ich es ausgesprochen erfrischend, wenn die Studierenden sich öffentlichkeitswirksam artikulieren, um auf Probleme, die sie betreffen, aufmerksam zu machen. Mittlerweile ist ein Kompromiss gefunden, und es wird an einem Konzept für Öffnungszeiten gearbeitet. Wie immer ist eine intensive und gute Kommunikation aller Beteiligten ein wichtiges Instrument, um Kontroversen zu überwinden oder erst gar nicht entstehen zu lassen.

Mein Orakel sagt, die Zeichen für einen neuen Anfang stehen gut: Der Hochschulentwicklungsplan liegt vor, Frau Ohlraun kann im Frühjahr ein neues Präsidium vorstellen, es gibt einen neuen Kulturminister, in naher Zukunft können Stellen besetzt werden und in weiter Zukunft entsteht ein Campus.

Wird der Verlust des eisernen Sparbesens Lange dazu führen, dass erneut finanzieller und organisatorischer Schlendrian in der HBK einzieht?

Ganz bestimmt nicht. Der Besen von Herrn Lange wie auch die engagierte Arbeit des gesamten Präsidiums haben ja eine gute Basis für wirtschaftlich verantwortungsvolles Denken und Arbeiten gelegt. Langes Stelle wird so bald als möglich ausgeschrieben und wieder besetzt. Und es ist für das neue Präsidium hilfreich, wenn die Zeit der Vakanz mit einer Vertretung überbrückt wird.

Wird Frau Ohlraun Ende des Jahres 2018 noch im Amt sein?

Ja.

Wird der Film „Aus dem Nichts“ von Fatih Akin einen Oscar gewinnen?

Da Fatih Akins Film auch für den Golden Globe nominiert ist, wird er den Oscar in der Sparte bester nicht-englischsprachiger Film gewinnen.

(Anmerkung der Redaktion: Den Golden Globe für den besten nicht-englischsprachigen Film hat Akin am Sonntag bereits erhalten.)

Was kann die Kultur dazu beitragen, das derzeit sehr angespannte Verhältnis zwischen den Geschlechtern („Me too“) zu verbessern? Wird dies überhaupt im nächsten Jahr ein Thema von Kunst und Kultur sein?

Das Verhältnis der Geschlechter ist von jeher ein Thema in der Kunst – egal von welchem Blickwinkel aus und in welcher Konstellation. So hat sich Steve McQueen beispielsweise in dem Film „Shame“ beeindruckend mit Sexsucht auseinandergesetzt. Gesellschaftliche Befindlichkeiten und Probleme spiegeln sich in Musik, Theater, Literatur oder bildender Kunst und werden weitergedacht – E oder U ist dabei ganz nebensächlich. Deshalb brauchen wir ja für die Bewältigung unseres Lebens so dringend die Kultur.

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