Braunschweig. Bei der Orakel-Veranstaltung unserer Zeitung sieht die Sozialexpertin den Zusammenhalt der Gesellschaft bedroht und hofft auf ein Grundeinkommen.

Bezahlbare Wohnungen fehlen, Pflegekräfte fehlen, immer mehr Menschen droht Altersarmut – große Probleme, vor denen die Gesellschaft steht. Wie werden wir 2018 damit umgehen? Was können wir tun, um die Herausforderungen zu meistern? Darüber spricht Sozialexpertin Hildegard Schooß im Interview mit Jens Gräber.

Die Bundestagswahl im Herbst hat vieles verändert. Mit der AfD sitzt nun eine extrem rechte Partei im Deutschen Bundestag. Welche Folgen wird das haben?

„Wir brauchen eine Image-Kampagne, die Pflegeberufe wieder ins rechte Licht rückt.“
„Wir brauchen eine Image-Kampagne, die Pflegeberufe wieder ins rechte Licht rückt.“ © Hildegard Schooß, Sozialexpertin

Bislang gab es im politischen Diskurs eine stillschweigende Übereinkunft, eine Art Verpflichtung für gutes Benehmen im Umgang miteinander, die die meisten

Menschen auch eingehalten haben. Zum Beispiel, andere Menschen nicht zu diffamieren und schon gar nicht Unwahrheiten

zu verbreiten. Diese Grenzen wurden von Pegida und AfD eingerissen.

Wenn die Vertreter der AfD auf den rechtsextremen Sprachgebrauch ihrer Mitglieder angesprochen werden – wie zum Beispiel die Verunglimpfung von Menschen mit Migrationshintergrund wie Jérôme Boateng oder die Diffamierung von Medien als „Lügenpresse“ –, dann beschwichtigen sie.

Das bedeutet, sie übernehmen keine Verantwortung für solches Verhalten. Dieses Verhaltensmuster hat schrecklicherweise bereits zunehmend auch in der Gesellschaft Platz gegriffen und wirkt wie ein Dammbruch. Als Folge davon ist eine Verrohung der Sprache unüberhörbar. Man lese das in den sozialen Medien nach. Für die Gesellschaft bedeutet das einen riesigen Kulturverlust, der den alltäglichen respektvollen Umgang miteinander erheblich gefährdet.

Wie gehen wir am besten damit um?

Wir müssen sehr bewusst und achtsam damit umgehen, im Bereich der Medien allemal. Aber auch im normalen, alltäglichen Umgang. Wir dürfen dergleichen nicht zulassen. Unter den AfD-Wählern und ihren gewählten Vertretern befinden sich viele mit guter Bildung, das hat mich überrascht, mein Eindruck war zunächst ein anderer. Diese Phänomene sind also weniger eine Frage der Bildung. Wir können die Anhänger der AfD als Protestwähler betrachten – dann kommt es auf die anderen Parteien an mit ihren Antworten auf die Fragen der Wähler. Wir können auch darauf hoffen, dass sich die Partei mangels Kompetenz selber erledigt – dann wäre der Spuk vorbei. Aber die Bürger und Bürgerinnen müssen ihre Verantwortung, sich im Alltag gegen Rechts zu positionieren, auch annehmen.

Warten wir ab, ob sich die Fraktion der AfD im Parlament ihrer Verantwortung für die Demokratie würdig erweisen wird. Ich hoffe darauf.

Was erwarten sie von den Politikern der übrigen Parteien?

Von politisch verantwortlichen Menschen kann man sich nur wünschen, dass sie den Vertretern rechtsextremen Gedankenguts gegenüber in der Diskussion deutlich machen, wo die Erwartungen der Mehrheit der Bevölkerung stehen. Es ist wichtig, dass man sich nicht nur empört, sondern dass mehr über die Konsequenzen gesprochen wird. Dass aufgezeigt wird, wo es hinführt, wenn ich keine Zuwanderer will. Welche Folgen es für unsere Gesellschaft hat, wenn wir Hilfesuchende ausgrenzen.

Das Thema Flüchtlinge war ein großes bei den gescheiterten Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, FDP und Grünen. Es wurde viel unter dem Stichwort Obergrenze diskutiert. Brauchen wir die? Und sind wir auf einem guten Weg, die Flüchtlingskrise zu bewältigen?

Es ist jedenfalls blauäugig, unpolitisch und unchristlich, zu glauben, dass man durch eine Obergrenze eine weltweite Katastrophe in den Griff kriegen kann. Das beweist nur, wie wenig sich die Befürworter darum kümmern, wie es in unserer Welt aussieht. Wir grenzen damit Menschen aus, die unserer Unterstützung bedürfen.

In Salzgitter ist ja ein Aufnahmestopp für Flüchtlinge durchgesetzt worden, inzwischen sind dem andere Städte gefolgt. Der Grund ist, dass hier mehr Flüchtlinge aufgenommen wurden als anderswo und die Behörden mit der Verwaltung überfordert sind. Das ist verständlich, durch den Aufnahmestopp wird natürlich Zeit gewonnen. Ob das nun wirklich notwendig war oder nicht – ich glaube eher nicht. Die Stadt Salzgitter hat sich sehr engagiert und vieles richtig gemacht. Die Überforderung macht jedenfalls deutlich, dass immer noch zu viele Mängel beim Umgang mit der Zuwanderung bestehen.

Die gute Nachricht ist: Grundsätzlich stehen immer noch sehr viele Menschen der Aufnahme von Geflüchteten positiv gegenüber. Deshalb muss auch immer wieder darüber gesprochen werden, wie die Zugewanderten unsere Gesellschaft beeinflussen.

Viele Menschen erleben die Zuwanderung als eine Bereicherung und sind bereit, sich für die

Integration von Menschen zu engagieren und einzusetzen. Das sieht man sehr deutlich hier bei uns im Mütterzentrum. So kann Integration gelingen: mit vielen kleinen Hilfen für den Alltag der Menschen. Dann verbindet sie etwas auf der ganz persönlichen Ebene.

In vielen Städten ist Wohnraum knapp. Das hat die Unterbringung von Flüchtlingen teils massiv erschwert, aber auch der Rest der Bevölkerung hat es oft schwer, eine Wohnung zu finden – oder sie kostet eine horrende Miete. Das Problem ist auch den Parteien bekannt, die Ideen zur Lösung bleiben aber oft vage. Am konkretesten ist der Vorschlag, mehr in den sozialen Wohnungsbau zu investieren. Kann das helfen?

Ich glaube, das ist das einzige, was wirklich was bringt. Der Rest der Diskussion wirkt auf mich so, als ob das Problem nicht erkannt wäre. Vielerorts ist das Problem immer größer geworden, weil der soziale Wohnungsbau zu lange von der Politik vernachlässigt wurde. Man hat den Bestand an Wohnungen privatisiert, an Investoren verkauft, die nicht an den Bedürfnissen der Mieter interessiert waren – und damit den Einfluss auf die Wohnungswirtschaft verloren. Viele Wohnungen sind teuer saniert und kosten die entsprechende Miete, andere sind verwahrlost und stehen leer. Das kriegt man jetzt nicht mehr zurückgedreht. Für Menschen mit geringem Einkommen fehlt aber dieser Wohnraum.

Gerechtigkeit bei der Verteilung von Wohnraum gibt es wohl nur, wenn mehr sozialer Wohnungsbau betrieben wird und die entsprechenden Strukturen dafür geschaffen werden. Finanziert werden muss das wohl – auch – mit Steuergeldern. Die Möglichkeiten sind sicher noch nicht ausgeschöpft, ich glaube, dass dieses Thema nicht durch den Markt allein geregelt werden kann. Da müssen wir umdenken, hier kann es nicht nur um Rendite gehen. Auf menschenwürdiges Wohnen haben auch Menschen mit wenig Geld ein Anrecht.

Stichwort Armut: Die droht vielen Prognosen zufolge auch immer mehr künftigen Rentnern. Unser Leser Eckart Sander merkt an, ihn überzeuge die Politik angesichts der Schere zwischen Arm und Reich nicht. Was können wir im kommenden Jahr tun, um das Problem in den Griff zu bekommen?

Es war ja symptomatisch, das im Wahlkampf die Fragen zu Armut, Rente, Pflegenotstand erst ganz am Ende thematisiert wurden. So, als ob diese wichtigen Bereiche keine Rolle für Politiker spielen würden. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass man nicht bereit ist, dafür eine sichere Finanzierungsbasis zu schaffen.

Die wirklich Reichen wehren sich bekanntermaßen gegen eine stärkere Besteuerung von Vermögen, weil sie Angst um ihren Profit haben. Ich finde aber, dass wir in einer Solidargemeinschaft leben. Da gilt immer noch der alte Grundsatz: Wenn ich habe, dann muss ich auch geben. Klar ist: Nicht alle profitieren vom Reichtum unseres Landes, zu viele fallen einfach durch das Raster. Wenn die Schere zwischen Arm und Reich noch schneller auseinandergeht, wird daraus ein gefährlicher sozialer Sprengstoff. Wir können nicht zuschauen, wie Menschen einfach verelenden. Ich bin eine Anhängerin der Idee des Grundeinkommens. Ich halte das immer noch für die gerechteste Form von staatlicher Grundsicherung.

Glauben Sie denn, dass die Mehrheit der Menschen trotz eines Grundeinkommens noch arbeiten würde?

Von dem finanziellen Aspekt mal ganz abgesehen, wäre es doch ein armes Leben, wenn ich mich nirgends engagiere und nicht in den Genuss komme, Interaktion mit anderen Menschen zu erleben und zu erfahren, wie ich mit meinen Fähigkeiten etwas beitragen kann. Natürlich gibt es Menschen, auch sehr reiche, die das trotzdem nicht tun. Vielen fehlt die soziale Kompetenz, da haben wir einen echten Notstand. Die soziale Kompetenz müssen wir ständig stärken, das ist kein „Gedöns“, wie es Gerhard Schröder mal formuliert hat, sondern der Stoff, der die Gesellschaft zusammenhält.

Also ja, es wird dann auch diejenigen geben, die gar nichts tun. Die haben wir heute aber auch schon in allen Schichten der Gesellschaft. Und die Erfahrung in anderen Ländern wie Finnland, wo es ein Modellprojekt zum Grundeinkommen gibt, zeigt, dass es recht gut läuft. Die Leute sagen: Ich bin den Druck los, also kann ich mich da engagieren und da arbeiten, wo ich einen Sinn sehe. Solche grundsätzlichen Veränderungen brauchen aber lange. Ich wage zu hoffen, dass die neue Regierung sich endlich sachgerecht damit beschäftigt und gute Konzepte entwickelt.

Wird das dann auch helfen, den Notstand bei der Pflege zu lindern? Oder reicht es, die Menschen, die dort arbeiten, einfach besser zu bezahlen?

Wir sind ja schon dabei, die Lücken in den Pflegeberufen durch Anwerbung im Ausland auszugleichen und Zugewanderte zu bewegen, in diese Berufe zu gehen. So haben wir das damals mit den Gastarbeitern auch schon gemacht. Ob das dieses Mal besser gelingt, wird sich noch zeigen müssen. In der Pflege bringen Menschen aus anderen Kulturen oft eine ganz besondere Haltung mit. Viele aus asiatischen Ländern haben eine hohe Achtung vor dem Alter und machen schon deshalb diesen Beruf gerne.

Wir haben aber ein Wertschätzungsproblem mit den Pflegeberufen, das zeigt sich bei der Bezahlung, den Arbeitsbedingungen, auch bei der Ausbildung. Was wir brauchen, ist eine Image-Kampagne, die diesen wichtigen Beruf wieder ins rechte Licht rückt. Es geht vor allem um die soziale Anerkennung.

Und ja, wir müssen auch fragen, warum wir ein Besoldungssystem favorisieren, in dem Pflegende am unteren Ende festsitzen. Das ist ungerecht gegenüber denen, die sich acht Stunden am Tag um einen kranken alten Menschen kümmert. Allerdings, das alles im Rahmen des kapitalistischen Systems zu lösen, wo mit den Alten Geld verdient wird, ist schwer. Wichtiger als die Frage, wie wir Pflege künftig bezahlen wollen, sind deshalb Fragen wie: Was sind uns die Alten wert? Wollen wir sie in unserer Mitte behalten? Oder sollen sie abgeschoben werden, weit weg vom Alltagsleben, in Billigpflege, als Rendite-Objekt?

Das sind wichtige Fragen, die nur begrenzt mit Geld zu tun haben, sondern vielmehr unter ethischen Aspekten zu betrachten sind.