Braunschweig. Professor Menzel sieht die Zukunft des Bayern Horst Seehofer in Berlin. Der Anti-Terror-Kampf werde im kommenden Jahr schwieriger.

Professor Ulrich Menzel ist das Polit-„Orakel“ unserer Zeitung. Andre Dolle sprach mit ihm über die Große Koalition, Trump und den Terror.

Von Pakistan über Barcelona und Manchester bis nach New York starben 2017 Hunderte Menschen bei islamistischen Anschlägen. In den USA erschossen Einzelgänger Dutzende Unschuldige. Müssen wir uns damit abfinden, dass es auch 2018 solche Anschläge geben wird?

Ja. Manche Islamisten, die sich dem IS angeschlossen haben, kommen als Einzelkämpfer zurück nach Europa. Die Gefahr von Anschlägen nimmt sogar zu. Weihnachtsmärkte lassen sich durch Betonpoller absichern, aber nicht jeder Karnevalsumzug oder jedes Rockkonzert. Überwachungskameras haben keine abschreckende Wirkung, da die Attentäter es sogar begrüßen, wenn sie später in den Nachrichten zu sehen sind.

„Trump hat von seinen großspurig angekündigten Vorhaben wenig realisiert. Ob die Steuerreform ihre Wirkung erzielt, wird man sehen.“
„Trump hat von seinen großspurig angekündigten Vorhaben wenig realisiert. Ob die Steuerreform ihre Wirkung erzielt, wird man sehen.“ © Ulrich Menzel, Politikwissenschaftler

Unser Leser Gert Thiele aus Braunschweig fragt: Brauchen wir nicht eine einheitliche europäische Datenbank, in der die Daten der IS-Kämpfer registriert sind und für alle EU-Staaten zugänglich sein sollen?

Der Berlin-Attentäter Anis Amri wurde über einen langen Zeitraum überwacht. Wie solche Informationen bewertet werden, das ist eine ganz andere Sache. Es gibt Indizien, dass er nicht festgenommen wurde, weil man über seine Telefonate die Hintermänner in Syrien orten konnte und mit einem Luftschlag ausschalten wollte. Hätte man ihn festgenommen, wären diese gewarnt worden. Und – je mehr Personen ins Visier geraten, desto schwieriger wird die Überwachung. Unter den Flüchtlingen werden zudem „Schläfer“ sein, die sich lange unauffällig verhalten, bis sie durch eine Mail oder ein Telefonat in Marsch gesetzt werden.

In Syrien und im Irak ist das Schreckenskalifat des IS fast geschlagen. Wird der IS 2018 besiegt werden?

In dem Moment, als der IS sich territorial als Quasi-Staat dargestellt hat, wurde er angreifbarer. Zwar entfaltete der IS eine Sogwirkung auf seine Anhänger, aus dem asymmetrischen wurde aber ein symmetrischer Konflikt. Die USA, Russland, Syrien oder die Türkei hatten ein Ziel für ihre Luftangriffe und Drohnen, Kämpfer standen sich gegenüber. Der IS hat seine Lektion gelernt. Er braucht zwar Ausbildungslager und Rückzugsorte. Das wird er künftig aber dezentral organisieren in Ländern, die vom Staatszerfall bedroht sind – wie Libyen oder Jemen.

Noch einmal unser Leser Gert Thiele. Er fragt: Sollten die EU-Sanktionen gegen Putin und Russland wieder rückgängig gemacht werden?

Außenminister Gabriel hat kürzlich eine außenpolitische Grundsatzrede gehalten. Wenn die USA sich aus Verpflichtungen zurückziehen und Lücken hinterlassen, die von Akteuren wie Putin gefüllt werden, muss das die Konsequenz haben, dass auch Deutschland und die EU bereit sind, solche Leerstellen zu schließen. Das kann zur Folge haben, dass Deutschland und seine europäischen Partner Positionen besetzen, die gegen diejenigen der USA verstoßen. Dazu zählen auch die Sanktionen gegen Russland. Für Gabriel sind diese nicht im deutschen Interesse, da wir auf Gas aus Russland angewiesen sind.

Frankreich ist so ein enger Partner Deutschlands. Der Sieg Macrons bei den Präsidentschaftswahlen bedeutet die große Gelegenheit für die EU, trotz Brexit und wütender Populisten einen Neustart hinzulegen. Wird dieser 2018 gelingen?

Das geht nur, wenn Deutschland mitzieht. Auch die SPD will einen Neustart Europas, Gabriel fordert eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, SPD-Chef Martin Schulz will das Projekt Europa voranbringen. Es ist ein Glücksfall, dass ein Pro-Europäer in Frankreich Präsident geworden ist. In der Union hat Macron aber kein Pendant. Ihr reicht es derzeit, die EU zusammenzuhalten, die sehr fragil geworden ist, man denke nur an die Rechtspopulisten in Polen oder Ungarn.

Die große Reizfigur, US-Präsident Trump, hat mit seiner Ankündigung, Jerusalem als Israels Hauptstadt anzuerkennen, große Proteste in muslimischen Staaten ausgelöst. Was ist zu erwarten?

Trump hat die Proteste billigend in Kauf genommen. Er steht in den USA unter Druck. Von all seinen großspurig angekündigten Vorhaben hat er wenig realisiert. Ob die Steuerreform des US-Präsidenten tatsächlich die Wirkung erzielt, die er beabsichtigt, wird man sehen. Trumps Umfragewerte gehen zurück. Er will seine Klientel mit einem Erfolgserlebnis bedienen. Eine Gruppe, die ihn gewählt hat, sind die Evangelikalen, deren Vorfahren aus Glaubensgründen aus Europa ausgewandert sind. Für diese konservativen christlichen Stammwähler ist Jerusalem symbolisch ganz besonders besetzt.

Trump hat auch die Gangart gegenüber Nordkorea sehr verschärft.

Da gibt es eine Parallele. Die USA sind nicht mehr die globale Ordnungsmacht. Sie waren für die Sicherheitspolitik zuständig, wir konnten unter ihrem Schutz Sozialpolitik machen. China besetzt die Lücke in Asien. Das Terrain, das die USA preisgegeben hat, versucht Trump durch symbolische Politik zu schließen. Mit Nordkoreas Kim Jong-Un haben sich zwei Partner im Geiste getroffen. Trump ist letztlich nicht in der Lage, Nordkorea Vorgaben zu machen. Das kann nur China, von dessen Lieferungen das Land abhängig ist. China wird Nordkorea rote Linien vorgeben, dabei aber diskreter vorgehen als Trump.

Zu Deutschland: Werden wir einen Flüchtlingszuzug wie 2015 noch einmal erleben?

Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Das Erstarken der AfD und die daraus resultierende Verschiebung in der Parteienlandschaft haben die etablierten Parteien aufgeschreckt. Das Flüchtlings-Abkommen mit der Türkei ist wirksam. Man mag zwar Ungarn und Österreich für ihren rigiden Flüchtlingskurs kritisieren, klammheimlich ist man aber froh darüber, dass beide ihre Grenzen dicht gemacht haben. Nun haben wieder Spanien, Italien und Griechenland das Problem. Die von der CSU geforderte Obergrenze von 200 000 Flüchtlingen pro Jahr wird faktisch nicht mehr erreicht.

Mit dem Ausgang der Bundestagswahl und der langwierigen Regierungsbildung ist eine Verunsicherung über das Land gekommen. Eine erneute Große Koalition ist wahrscheinlich. Kommt sie?

Ja, als regelrechte – und nicht als eine fiktive wie die Kooperations-Koalition oder tolerierte Minderheitsregierung. Etliche der jetzigen Minister in der SPD und der Union wollen ihre Posten behalten. Viele Abgeordnete fürchten Neuwahlen. Durch das starke Abschneiden der AfD und der FDP kam es aufgrund der Überhang- und Ausgleichsmandate zu einem aufgeblähten Parlament mit 709 Abgeordneten. Dadurch wurde der Einbruch für die Wahlverlierer personell abgemildert. Bei einer Neuwahl könnte der Effekt verloren gehen.

Wann steht die Koalition? Der neue SPD-General Klingbeil aus Munster in Niedersachsen rechnet damit nicht vor dem kommenden Mai.

Der Handlungsdruck ist nicht so groß, denn es gibt ja eine Geschäftsführende Regierung. Nahles wird sich ärgern, dass sie Oppermann nicht den SPD-Fraktionsvorsitz gelassen hat. Jetzt hätte sie Arbeitsministerin bleiben können.

Es gibt Verlierer nach dem Jamaika-Aus. Wie stehen FDP-Chef Lindner und Kanzlerin Merkel da?

Lindner wollte der neue Polit-Star werden, Seehofer wollte sich über die Koalitionsverhandlungen gegenüber Söder behaupten. Ein Teil der Personalfragen ist geklärt. Söder wird Seehofer beerben, der nun heißer Kandidat für die Nachfolge Nahles’ als Bundesarbeitsminister ist – ein eleganter Übergang von der Bayerischen Staatskanzlei in die Bundesregierung. Dafür müsste die CSU ein Ministerium opfern: das Verkehrsministerium. Dobrindt ist mit dem Vorsitz der CSU-Landesgruppe bereits bedient worden.

Und Merkel? Und noch einmal die Frage: Wann steht die Koalition?

Es kann gut sein, dass Merkel nur noch eine halbe Legislaturperiode amtiert, um ihre innerparteilichen Kritiker zu besänftigen. Auch Merkel ist nach den Einbußen bei der Bundestagswahl und den gescheiterten Jamaika-Verhandlungen geschwächt. Manche innerparteilichen Personalfragen sind bereits abgeräumt, das macht die Verhandlungen einfacher. Ich rechne mit zügigen Verhandlungen zwischen Union und SPD.

Die SPD wollte sich in der Opposition erneuern. Schleift Merkel die Partei nun auf 15 Prozent?

Die CDU hat das gleiche Problem. Auch sie hat enorme Verluste zu verzeichnen. Für die Union ist dramatisch, dass sie den 30 Prozent nahe kommt. Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft betrifft auch die Parteien. Es gibt immer weniger Industrie-Arbeiter. Selbst in unserer stark industriell geprägten Region steht der Roboter am Band. Stabsstellen-Mitarbeiter oder Entwicklungsingenieure sind keine klassischen SPD-Wähler. Die Sozialdemokratie befindet sich überall in Europa im Abwind – denken Sie nur an Österreich und Frankreich. Der Versuch, die SPD für die neuen Dienstleistungsberufe zu öffnen, war nicht erfolgreich. Viele SPD-Wähler arbeiten im Öffentlichen Dienst.

Warum?

Das ist eine Spätfolge der 68er. Viele Lehrer wählen SPD. Sie wird sich über die Regierungsarbeit besser positionieren als in der Opposition. Deswegen glaube ich nicht, dass Merkel die SPD noch tiefer drückt.

Wird sich Martin Schulz an der SPD-Spitze halten können?

Er war nicht die richtige Wahl. Mir ist immer noch schleierhaft, wie der Schulz-Hype Anfang 2017 entstehen konnte. Nach der Bundestagswahl hat er durch den Oppositionsentscheid seinen Kopf gerettet. Er wird aber keine besondere Rolle in der Regierung spielen und erst recht keine Partei-Ära prägen. Wir werden in den nächsten zwei Jahren in allen Parteien einen Führungswechsel erleben. Das gilt auch für die Grünen.

Was wird aus dem Goslarer Sigmar Gabriel?

Der bleibt Außenminister. Er hat seine Rolle gefunden, macht nicht mehr die unstete „Rampensau“, sondern gibt den abwägenden Staatsmann.

In Niedersachsen haben sich CDU und SPD – anders als im Bund – im Wahlkampf stark beharkt. Was erwarten Sie von der Großen Koalition unter Ministerpräsident Weil?

Nach der Wahl ist es anders als vor der Wahl. In Bund und Land werden die Großen Koalitionen geräuschlos funktionieren.

Der Streit um die Flüchtlingspolitik hat sich ausgeweitet zum grundsätzlichen Konflikt. Zerfällt das Land in Eliten und Abgehängte, in Weltoffene und Nationalisten?

Die Globalisierung ist bei uns angekommen – mit allen Konsequenzen. Globalisierung heißt nicht nur, dass man für drei Euro T-Shirts kaufen kann und in Kenia Club-Urlaub macht. Sie heißt auch neue Völkerwanderung und bedeutet, dass der Online-Händler Amazon dafür sorgt, dass dem Geschäft in Peine die Kunden ausgehen. Globalisierung heißt, einen wenig qualifizierten Sockel von Arbeitskräften zu haben, die um ihre Jobs fürchten müssen. Es gibt eine Spaltung in die Gewinner und die Verlierer der Globalisierung.

Die Leidtragenden des Globalisierungsdrucks bilden ein Reservoir für die AfD. Diese stellt 92 Abgeordnete im Bundestag, darunter Parlamentarier mit zweifelhaftem Ruf. Feiern gar völkische Ideen Wiederauferstehung?

Die AfD ist ein Gebräu von allem. Die anfänglich eurokritische Professorenpartei wurde von Frauke Petry und ihrem Flügel abgemeldet. Die Partei wurde radikaler, hatte aber immer noch einen bürgerlich-konservativen Kern. Seitdem gab es bereits die zweite Häutung: Unter Höcke und Poggenburg gibt es eine fließende Grenze zur NPD und den Reichsbürgern. Die AfD bleibt heterogen, weil sie Protestwähler von rechts und links mobilisiert, wird deshalb viel mit sich selbst zu tun haben. Leute aus einem prekären Milieu sind auf einmal als Abgeordnete an die Fleischtöpfe gekommen. Die AfD streitet sich mit drei anderen Parteien – jeder auf ihrem Feld um die härteste Opposition. Die Wirkung der AfD wird, allein schon wegen des Rückgangs der Flüchtlingszahlen, verpuffen.