Braunschweig. Kraft, Bewegung, Koordination: In einem Braunschweiger Fitnessstudio werden individuelle Trainingspläne für schwerkranke Kunden entwickelt.

Der Krebs interessiert sich nicht dafür, wer man ist. Ob Banker oder Beamter, Chirurg oder Supermarktkassiererin, Rentner oder Student, Star oder Sternchen. Wenn Kinder die Tumordiagnose erhalten, ist der Schock besonders groß. Auch das gehört zum medizinischen Alltag in Deutschland. Etwa 500.000 Menschen erhalten diese düstere Diagnose im Jahr.

So schwer diese zunächst für Erkrankte und ihre Angehörigen ist, so sehr macht doch der Blick auf die jüngsten Statistiken Hoffnung. Dank des weiter voranschreitenden medizinischen Fortschritts gleicht eine Krebserkrankung heute viel weniger als noch vor 20 Jahren einem Todesurteil. „Berücksichtigt man, dass die Menschen heute im Durchschnitt viel älter werden, so geht die Krebssterblichkeit in Deutschland seit Jahren zurück, und die Lebenserwartung Betroffener ist stark angestiegen. Vor 1980 starben mehr als zwei Drittel aller Krebspatienten an ihrer Krebserkrankung. Heute kann mehr als die Hälfte auf dauerhafte Heilung hoffen“, schreibt das Deutsche Krebsforschungszentrum in der Helmholtz-Gesellschaft auf seiner Internet-Seite.

Prävention und Rehabilitation

Wer gesund lebt und sich sportlich fit hält, ist dennoch nicht davor gewappnet, an Krebs zu erkranken. Selbst im größten Asketen können Tumore wachsen, auch Nicht-Raucher an Lungenkrebs erkranken. Wer das bestreitet, wäre ein Scharlatan. Und dennoch ist Elke Paschek, Geschäftsführerin des Injoy-Fitnessstudios in Braunschweig, überzeugt: „Sport kann ganz generell einen präventiven Charakter haben und kann helfen, während und nach einer Krebstherapie, sein körperliches Befinden wieder besser in Einklang zu bringen.“

Paschek ist staatlich examinierte Physio-Therapeutin und hat sich seit Jahren auf das Training mit Krebspatientinnen und Krebspatienten spezialisiert. Damit hat das Studio ein Alleinstellungsmerkmal in der Region Braunschweig. Paschek steht hierfür im engen Austausch mit der Wissenschaft – namentlich mit der Uni Heidelberg und dem Centrum für Integrierte Onkologie der Uniklinik Köln. Letzteres Institut hat auch die sogenannte Onkologische Trainings- und Bewegungstherapie (OTT) entwickelt – und Pascheks Studio zertifiziert.

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Zwei Narben, großer Kraftverlust – die Patientenakte Kleuker

Die Diagnose Krebs traf Eberhard Kleuker vor drei Jahren. Heute hat der 74-Jährige Hoffnung, den Kampf gegen die Krankheit zu gewinnen. Im Fitnessstudio durchläuft er gerade den dortigen Kraft-Zirkel, an dem unterschiedliche Geräte unterschiedliche Muskelgruppen in Anspruch nehmen. Auf Anweisung von Paschek zieht Kleuker kräftig am Gerät „Latzug“, das den Latissimus am Rücken kräftigen soll, und lässt die Apparatur dann wieder nach oben gleiten. „Schön langsam“, sagt Paschek. „Nicht zu schnell, damit es auch einen Effekt hat“, sagt sie zu ihm. „Natürlich“, erwidert Kleuker. Der Tumor hatte sich bei ihm im Mundraum breit gemacht. Die Operation war kompliziert. An der Medizinischen Hochschule Hannover ließ er sich operieren. Dort gebe es einen absoluten Fachmann für diese Krebsart, sagt Kleuker, während er seinen Pullover auszieht. Er ist ins Schwitzen geraten. Zwei große Narben hat die Operation hinterlassen. Eine am Hals nach einem Luftröhrenschnitt. Die andere Narbe am Oberarm. Hier wurde ihm Haut entnommen, um diese an anderer Stelle zu „verpflanzen“. „Schauen Sie mal“, sagt er, während er seinen Mund öffnet. „Meine Zunge sieht etwas anders aus als bei gesunden Menschen.“ Wie Transplantationschirurgie funktioniert, das weiß Kleuker jetzt ganz genau.

Die Wochen, die er im Krankenhaus verbringen musste, wird Kleuker nicht vergessen. Zwei Wochen war er an Maschinen angeschlossen, danach habe er sich nicht mehr wiedererkannt. „Alle Muskeln hatten sich zurückgebildet.“ Er erzählt von einer Autofahrt. Es ging zur Reha nach Süddeutschland. Ein Freund habe ihn damals dorthin bringen wollen. „Wir mussten schon in Höhe Göttingen auf den Parkplatz fahren, weil ich nicht mehr im Auto sitzen konnte“, sagt Kleuker und drückt sich in diesem Moment mit beiden Armen auf Steiß und unteren Rücken. „Alles tat mir weh.“ Nach der Reha habe er sich dann zur OTT im Injoy angemeldet. Für Kleuker scheint es jetzt aufwärts zu gehen. Nicht nur die aufgelegten Kiloscheiben an den Geräten werden mehr, auch seine Kraft nimmt zu. Das Wichtigste aber: „Alle Nachuntersuchungen sind bislang unauffällig. Die Ärzte sind zufrieden“, sagt er.

Individuelle Trainingspläne

Etwa 500.000 Menschen erkranken jedes Jahr an Krebs in Deutschland, die Zahl ist eher steigend. Die Heilungschancen aber auch.
Etwa 500.000 Menschen erkranken jedes Jahr an Krebs in Deutschland, die Zahl ist eher steigend. Die Heilungschancen aber auch. © Jürgen Runo | Jürgen Runo

So wie bei Kleuker erarbeitet Paschek auch mit anderen Krebspatienten zunächst einen individuellen Trainingsplan, der dann in der OTT umgesetzt werden soll. Drei zentrale Fragen gilt es, im Anamnesegespräch zu klären. „Was sind die Defizite, was die Ressourcen und was die Ziele?“, erklärt sie. Dabei würden Blaupausen nicht helfen, sagt Paschek, sondern man müsse das Training individuell auf die jeweiligen Bedürfnisse und die Nebenwirkungen der medizinischen Therapien abstimmen. Es sei ein Unterschied, ob jemand während oder nach einer Chemotherapie seine Fitness verbessern wolle oder im Falle von Brustkrebs- oder Prostatakrebs-Diagnosen das Stadium einer medizinisch verordneten Anti-Hormon-Therapie durchlaufe. Ist jemand nach einer Operation in der Phase der Rekonvaleszenz oder steht er vor einem operativen Eingriff? Auch hier müsse der Trainingsplan flexibel gestaltet werden. Benötigt jemand nach einem entfernten Gehirntumor Übungen für eine verbesserte Koordinationsfähigkeit oder ist mehr Kraft und Beweglichkeit das Ziel? „Bei uns sind viele Frauen, die nach einer Brustkrebsdiagnose und einer Operation ein sehr empfindliches Narbengewebe aufweisen. Im Bereich der Brust mehr Beweglichkeit zu schaffen, erfordert andere Übungen als bei Patienten, die diese Operationen nicht über sich ergehen lassen mussten“, gibt Paschek Beispiele. Derzeit kämen pro Woche drei bis vier neue Kunden, die vorher an Krebs erkrankt seien, zur Beratung. „Der Bedarf ist enorm.“

Zusammenspiel: Fitness, Kraft, Ernährung

Künftig will Paschek das Angebot in ihrem Fitnessstudio noch ergänzen. Neben Bewegung, Kraft und Koordination sollen auch Ernährungsfragen stärker in den Blick rücken. Dafür hat sie sich mit der Diätassistentin Eva C. Marschal eine Fachfrau ins Boot geholt, die eine ambulante Beratung anbietet. Unter dem Namen „Palimar“ (Paschek/Link/Marschal) firmiert nun am Standort des Injoy-Studios in Braunschweig das neu eingerichtete Gesundheitszentrum, das einen Dreiklang versucht. Erstens: Das altbewährte Fitness- und Gerätetraining plus die Kursangebote. Zweitens: die Onkologische Trainingstherapie. Und Drittens: Ernährungsexpertisen im Falle schwerer „lebensverändernder Erkrankungen“ wie beispielsweise bei einer Krebserkrankung.

Frustrierend sei, kritisiert Paschek, dass wenig niedergelassene Ärzte in der Region diese Informationen an ihre Patienten weitergeben würden, obwohl die Informationen an diese weitergereicht worden seien unter anderem durch einen entsprechenden Flyer. „Es gibt einige onkologische Schwerpunktpraxen, die das machen. Andere Ärzte tun das nicht. Die Menschen schlagen hier dann eher per Zufall auf und sind sehr traurig, nicht schon früher von dem Angebot gehört zu haben.“

Frau Meineckes Suche nach Koordination

Auch Astrid Meinecke nutzt das Angebot. Es gebe Menschen, die merkten erst hier, dass viele andere dasselbe oder ein ähnliches Schicksal teilten, erklärt Paschek. Auch Meinecke spricht von Gleichgesinnten, die man treffen könnte. Das sei aber kein Muss. „Man kann auch einfach seine Übungen machen und nach Hause fahren“, sagt Studioleiterin Paschek, die mit Co-Geschäftsführer Heiko Link auch im strengsten Corona-Lockdown dafür sorgte, dass die medizinisch notwendige Behandlung der Krebspatienten fortgesetzt werden konnte. Niemand werde hier gezwungen, sich zu offenbaren. Viele nutzten aber die Möglichkeit, sich auszutauschen.

Bei Meinecke wurde ein Tumor im Gehirn entfernt. Vor der OP hatten die Ärzte ihr noch drei Monate Zeit gegeben. Der Eingriff sei an ihrem 53. Geburtstag im Oktober gewesen, erklärt sie heute. Ihre Überlebenschance stünden laut Ärzten nun bei sechs Prozent. Aktuell befände sie sich in der dritten Therapie, es sei eine Tablettenchemo. Vorher war sie auch schon bestrahlt worden. Im Gespräch mit unserer Zeitung zeigt sie sich trotz schwieriger Prognose kämpferisch. Die Übungen, die Paschek mit ihr machen würde, würden helfen, ihre nach der Operation eingeschränkte Motorik zu verbessern. „Mir fehlt ganz oft das Gleichgewicht, dann falle ich einfach um.“

Der besondere Yogakurs

An dem Kurs „Yoga und Krebs“ bei Jana Cordes versucht Meinecke, so oft wie möglich teilzunehmen. Cordes gibt ihn zweimal in der Woche. Insgesamt betreut die Solo-Selbständige in den Räumlichkeiten des Injoy-Studios neun Kurse – von Tanz- über Kraft- bis hin zu den Yogakursen. „Yoga und Krebs haben etwas gemeinsam. Es gibt enorm viele Varianten“, sagt sie. Yoga sei nicht gleich Yoga und Krebsdiagnosen seien auch ganz unterschiedlich. Sie setze in den Krebskursen ausschließlich auf Übungen, die einen dynamisch-fließenden Charakter besäßen. Hohe Intensität mit langanhaltenden Atemübungen gehörten nicht dazu, erklärt Cordes. Es gehe deutlich ruhiger zu. Und dennoch würde man immer wieder den Ausgleich zwischen Kräftigung und Entspannung suchen, so Cordes, die während der Stunde immer wieder die Teilnehmer auffordert, „in sich reinzuhören“. Wer eine Pause brauche, solle sich diese auch gönnen. „Macht nur das, was Ihr Euch zutraut“, ist der Satz, den man während der Stunde am häufigsten hört. Auf zwölf Personen ist der Kurs laut Cordes limitiert, oft kämen aber wesentlich weniger zu den Stunden, nicht erst seit der Pandemie. „Die Übersichtlichkeit der Gruppe ist ein Vorteil. So kann ich besser den Blickkontakt mit den einzelnen Teilnehmern suchen. Und wenn ich das Gefühl habe, die Übungen strengen sie oder ihn über seine Kraftreserven hinaus an, kann ich eingreifen“, erzählt sie.

Für Meinecke ist das Training im Studio zu einem Halt geworden, in einer Zeit, die von großer persönlicher Unsicherheit geprägt ist. Es strukturiere ihren Tag. Bis zu vier Mal versuche sie in der Woche zu kommen, wenn es ihre Gesundheit zulasse. Derzeit sei das leider nicht der Fall, sagt sie und merkt an, wie das Unwohlsein in ihr wachse. „Wenn ich keinen Sport machen kann, merke ich, wie ich in ein Loch falle.“

Alle Texte zu den Gesundheitswochen

Die zwei Jahre Corona-Pandemie und jetzt der Krieg in der Ukraine haben unser Leben verändert. Ängste und Sorgen gehören zu unserem Alltag, Körper und Seele reagieren, machen uns dünnhäutiger. Um diesen Belastungen standzuhalten und auch dort helfen zu können, wo wirklich Not ist, brauchen wir hier und da den Blick auf uns selbst. In diesem Sinne wollen wir Ihnen in unseren „Gesundheitswochen“ Rat geben. Hier finden Sie alle Texte: