Wolfsburg. Vor einem Jahr wurde Herbert Diess Chef des VW-Konzerns. Eine Bilanz.

Der April des vergangenen Jahres war einer der ganz besonders unruhigen Monate bei Volkswagen. Im Wolfsburger Machtzentrum rotierte der vom Aufsichtsrat angetriebene Personalstrudel, sog Top-Manager in die Tiefe. Konzernchef Matthias Müller und Personalvorstand Karlheinz Blessing mussten gehen. Überraschend verließ zudem Einkaufsvorstand Francisco Javier Garcia Sanz den Autobauer.

So, wie der Personalstrudel die einen in die Tiefe zog, so gab er andere frei, spülte sie nach oben. Das gilt besonders für den damaligen Chef der Kernmarke VW, Herbert Diess, der Freitag vor einem Jahr als neuer Vorstandsvorsitzender des Konzerns präsentiert wurde . Der promovierte Maschinenbauer kam im Juli 2015 nach Wolfsburg. In weniger als drei Jahren schaffte er es an die Spitze des Konzerns, der weltweit mehr als 640.000 Menschen beschäftigt. Auch wenn die vom Abgas-Betrug erzeugten internen Verwerfungen und Vakua seine Karriere begünstigt haben mögen, zeugt sein Aufstieg von ausgeprägtem Ehrgeiz und Durchsetzungsvermögen.

Tatsächlich nimmt der Supertanker VW unter der Führung Diess’ Fahrt auf. Vieles von dem, was VW zuvor versäumt hatte, setzte er auf seine Agenda: Das gilt für die Anbindung der Autos ans Internet. Das gilt aber vor allem für den Ausbau der Elektro-Mobilität. Kein anderer Autobauer der alten Schule geht den Wandel so vehement an . Der Konzern will 30 Milliarden Euro bis 2023 in die Entwicklung der E-Mobilität investieren.

Daneben gilt es, die Modelle mit Verbrennungsmotor zu pflegen . Schließlich müssen sie das Geld für die Zukunft verdienen. Um diese Mittel zu erhöhen und um attraktiver für Investoren zu werden, gewichtet Diess das Thema Wirtschaftlichkeit so offensiv wie keiner seiner Vorgänger. Ebenfalls um die Wirtschaftlichkeit zu verbessern und um Lücken im Unternehmens-Know-how zu schließen, strebt Diess zunehmend Partnerschaften an – in diesem Jahr hat VW bereits Kooperationen mit Ford, Microsoft und Amazon verkündet. Daneben verordnet Diess dem Konzern ein Programm, dass den CO2-Ausstoß von der Beschaffung bis zum Auto-Recycling bis 2050 auf null fahren soll.

Damit nicht genug: Die juristische Aufarbeitung des Abgas-Betrugs ist längst nicht abgeschlossen, wird weiter viel Geld, Zeit und Energie verschlingen. Und dann ist da noch der Kulturwandel.

Diese Aufzählung zeigt: Die Kombination aus geerbten Herausforderungen und dennoch selbst gesetzten Zielen zeugt vom Gestaltungswillen des 60 Jahre alten Managers. Für ihn spricht, dass er vor unangenehmen Aufgaben nicht zurückschreckt. Dazu gehört der Abbau tausender Arbeitsplätze. Allein in der Wolfsburger Zentrale stehen weitere bis zu 7000 Stellen zur Disposition . Es werden nicht die letzten gewesen sein, über die Unternehmen und Betriebsrat verhandeln müssen. Die Aufzählung zeigt auch: VW ist – wie die gesamte Branche – mitten in einem tiefgreifenden Wandel. Ausgang ungewiss. Viele der von Diess vorgegebenen Ziele sind Wetten auf die Zukunft, eine Flucht nach vorn. So weiß zum Beispiel niemand, ob der Umbau zur E-Mobilität tatsächlich eine Erfolgsgeschichte wird.

Aktuell ist der Autobauer wirtschaftlich zwar gut aufgestellt. Im vergangenen Jahr blieb unterm Strich ein Gewinn von 11,8 Milliarden Euro. Für dieses Ergebnis ist Diess aber nur teilverantwortlich, der Überschuss resultiert auch aus der Arbeit seiner Vorgänger. Und überhaupt: Was zählt der Erfolg von gestern noch morgen?

Was also bleibt, wenn die Einjahresbilanz Diess’ von Visionen, Zielen und den Erträgen seiner Vorgänger entschlackt wird? Diess macht Druck, Diess macht Tempo, Diess gestaltet, das ist bereits deutlich geworden. Diess konzentriert aber auch Macht. Als der Manager vor einem Jahr an die Spitze des Konzerns berufen wurde, blieb er Chef der Marke VW, hat nach wie vor das letzte Wort. Zudem übernahm er die Verantwortung für den größten und damit wichtigsten Einzelmarkt China . Diese Machtkonzentration widerspricht jedoch dem von ihm selbst formulierten Anspruch, die Verantwortung innerhalb des Unternehmens auf mehr Schultern zu verteilen.

Und Diess macht Fehler: Seit vielen Jahren gilt die Marke VW als Sanierungsfall. Deshalb steht sie ganz besonders unter Spar- und Effizienzdruck. Das im vergangenen Jahr nun endlich ordentliche Ergebnis der Marke wurde aufgefressen von hausgemachten Problemen. So kosteten die Schwierigkeiten bei der Umstellung auf das Verbrauchs- und Abgas-Prüfverfahren WLTP eine Milliarde Euro. Sie geht auch auf Diess’ Konto.

Die wohl größte Baustelle des Konzernchefs hat dagegen nur wenig mit Technik und Finanzen zu tun. Gemeint ist der Kulturwandel bei VW . Als Konsequenz aus dem Abgas-Betrug hat sich der Konzern selbst auferlegt, Offenheit und Kritikfähigkeit zu fördern. So sollen von Mitarbeitern Schwierigkeiten und Fehlverhalten angesprochen werden, bevor sie eine juristische Dimension erhalten. Zwar wird das Unternehmen nicht müde zu erklären, dass der Kulturwandel von den Mitarbeitern angenommen werde. Ein wichtiger Test ging aber gründlich daneben. Als Diess im März vor Managern wiederholt „Ebit macht frei“sagte, wurde seine sprachliche Verfehlung, die an das Nazi-Motto „Arbeit macht frei“ erinnert, nicht etwa von einem der Zuhörer korrigiert, sondern an Medien durchgestochen.

Kritiker führen das auf den aus ihrer Sicht zu autoritären Führungsstil des Konzernchefs zurück. Der beiße jeden weg, der sich ihm in den Weg stelle. Auch neutralere Beobachter bescheinigen Diess, alles andere als konfliktscheu zu sein – und zu wenig wertschätzend. In ihren Worten schwingt Sorge mit: Dass Diess immer wieder mit dem Betriebsrat aneinanderrasselt – geschenkt. Irritation löst dagegen aus, dass sich Diess mit allen und jedem anlege. Im Unternehmen, aber auch außerhalb: mit der Politik, mit dem Branchenverband VDA, mit anderen Herstellern. Zu beobachten war das in der jüngsten Diskussion um den Ausbau der E-Mobilität. Die Frage, die sich viele bei VW stellen: Wie will Diess seine Ziele erreichen, wenn er keine Verbündeten hat, wenn es ihm nicht gelingt, Mitstreiter um sich zu scharen? Dann könnte er ganz schnell isoliert sein – der Personalstrudel würde wieder rotieren.