Braunschweig. Der Chef des Braunschweiger Helmholtz-Zentrums spricht über Erfolge und Versäumnisse im Kampf gegen das Virus – und allgemeinen Corona-Überdruss.

In den letzten Monaten gaben sich Politiker am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) die Klinke in die Hand. Seit Beginn der Corona-Krise ist die Expertise der Forschungseinrichtung im Süden Braunschweigs gefragt wie nie zuvor. Dirk Heinz (60) ist ihr Wissenschaftlicher Geschäftsführer. Im Interview zieht er eine Zwischenbilanz der Corona-Krise und nimmt Stellung zu Argumenten von Impfskeptikern.

Ende März hatten Sie in einem Interview unserer Zeitung gesagt: „Wir sind nicht wehrlos gegen Corona.“ Inwieweit sehen Sie sich darin heute bestätigt?

Glücklicherweise sehe ich kaum Korrekturbedarf, wenn ich mir anschaue, was ich damals prognostiziert habe. Das gilt auch für diese Aussage. Wir wissen inzwischen sehr viel mehr über diese Infektion. Und wir wissen, wie wir uns schützen können. Zum einen können wir das durch unser Verhalten erreichen – Stichwort Lockdown. Zum anderen haben wir künftig Impf- und Wirkstoffe, die uns den Umgang mit dem Virus noch leichter machen werden. Wir müssen das Virus weiterhin sehr ernst nehmen, aber wir sind ihm nicht hilflos ausgeliefert.

Was haben wir als Gesellschaft richtig gemacht?

Richtig war, die Menschen gut darüber zu informieren, womit wir es zu tun haben. Richtig war auch der erste harte Lockdown, in dem es gelang, die Infektionszahlen zu drücken. Weite Teile der Bevölkerung haben das verstanden und hervorragend mitgemacht. Das hat zu den deutlich rückläufigen Zahlen im Sommer geführt. Das Problem solcher Infektionskrankheiten ist, dass sie im Hintergrund fortbestehen und sich in der Fläche weiterverbreiten. Im Frühjahr hatten wir noch Hotspots, etwa Ski-Orte, einzelne Altersheime oder fleischverarbeitende Betriebe. Im Sommer dann hat sich der Erreger gleichmäßig im Land verteilt. Daraus hat sich jetzt im Winterhalbjahr wieder ein exponentielles Wachstum entwickelt.

Womit wir bei den Fehlern wären, die gemacht wurden.

Die jetzigen Maßnahmen hätte man früher, schneller und vielleicht auch energischer ergreifen können. Ein Soft-Lockdown beeindruckt das Virus nicht wirklich.

Haben Sie die Wirkung eines „weichen“ Lockdowns von vorneherein bezweifelt?

Ja. Mein Kollege Michael Meyer-Hermann, der die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten berät, hat frühzeitig bezweifelt, dass eine Kontaktverringerung von 40 Prozent ausreicht. Der dramatische Unterschied, den wir heute gegenüber Oktober sehen, ist die hohe Zahl von Schwerstbetroffenen. Damals war die Lage in den

Dirk Heinz im Oktober bei der Verleihung der Gauß-Medaille an die diesjährige Chemie-Nobelpreisträgerin Emmanuelle Charpentier. Er hielt die Laudatio auf seine ehemalige HZI-Kollegin.
Dirk Heinz im Oktober bei der Verleihung der Gauß-Medaille an die diesjährige Chemie-Nobelpreisträgerin Emmanuelle Charpentier. Er hielt die Laudatio auf seine ehemalige HZI-Kollegin. © PS | Peter Sierigk

Kliniken noch entspannt. Vier Wochen später sah es ganz anders aus. Deswegen müssen wir die Kontakte jetzt drastisch einschränken. Ich weiß, wie schwierig es für die Politik ist, die unterschiedlichen Interessen – Gesundheitsschutz, Wirtschaft, Schulen – abzuwägen und Entscheidungen zu treffen. Trotzdem hätte es hier besser laufen können. Neuseeland hat frühzeitig einen knallharten Lockdown verhängt und so das Infektionsgeschehen stark gesenkt. Hätten wir es auch so gemacht, wären wir heute in einer besseren Lage und hätten nicht diese hohe Zahl von Opfern: weit über 500 Corona-Tote. Das entspricht ein bis zwei großen Flugzeugabstürzen – täglich. Umso wichtiger ist es, die Gelegenheit jetzt zu nutzen. Natürlich ist es traurig, ausgerechnet zu Weihnachten und Neujahr derart eingeschränkt zu sein. Aber dafür spricht, dass das Arbeitsleben in dieser Zeit ohnehin heruntergefahren ist. Zum anderen ist es, in den Worten unserer Kanzlerin, alternativlos.

Wie lange werden wir diese Disziplin brauchen?

Es gibt ja die Erfahrungen anderer Länder. Neuseeland hat fünf Wochen gebraucht, Island sechs. Allerdings sind diese Länder Inselstaaten und dadurch stärker isoliert. Gut für uns wäre, wenn unsere Nachbarländer ebenfalls in einen ähnlich starken Lockdown gingen. Bei den Niederlanden ist dies erfreulicherweise der Fall. Sicher ist, dass der Lockdown über mehrere Wochen gehen muss, um Wirkung zu zeigen und die Reproduktionszahl deutlich zu senken. Momentan steckt jeder Erkrankte mehr als eine weitere Person an. Zu unseren wichtigsten Aufgaben zählt jetzt, besonders gefährdete Personen, vor allem die Älteren, zu schützen. Hierüber müssen wir uns noch schärfer Gedanken machen. Die Stadt Tübingen etwa schützt die Altersheime zusätzlich. Das Personal und die Besucher dort werden täglich getestet. Und die sinkenden Infektionszahlen zeigen: offenbar mit Erfolg. Letztlich ist auch jeder Einzelne gefragt. Weihnachten gemeinsam mit den betagten Großeltern zu feiern, halte ich für keine gute Idee in diesem Jahr.

Hätte man bei der Pandemiebekämpfung von Anfang an viel stärker nach dem Gefährdungsgrad einzelner Personengruppen differenzieren müssen?

Theoretisch ist das schon richtig. Tatsächlich müsste man die Inzidenzzahl, die wir für die Gesamtbevölkerung im Blick haben, stärker nach Personengruppen – Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, Senioren – betrachten. Und dann haben wir natürlich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es ist essenziell, dass die Wirtschaft soweit wie möglich weiterläuft – aber nur unter entsprechenden Schutzbedingungen. Masken haben sich mittlerweile, wenn nicht als hundertprozentiger, so doch als hervorragender Schutz erwiesen. Schwierig wird es, wenn man in Gruppen in der Kantine zusammensitzt, isst und sich unterhält. Aufgrund des Aerosolausstoßes ist das Infektionsrisiko hier hoch. Umso wichtiger ist das Abstand-Halten sowie zusätzlicher Schutz, etwas durch Plexiglasscheiben und Luftfilteranlagen.

Unser Verhalten ist das eine. Wie beurteilen Sie den Beitrag von Arzneimitteln und Impfstoffen, um mit der Krise fertig zu werden?

Der ist ganz entscheidend, insbesondere der Beitrag der Impfstoffe. Bei den Medikamenten ist die Situation schwieriger.

Warum?

Hier wurden nur wenige Fortschritte erzielt. Der Wirkstoff Remdesivir, der die Vermehrung der Viren hemmt, funktioniert leidlich gut, allerdings auch nur in der frühen Phase der Erkrankung. Dann gibt es die Antikörper-Medikamente, wie sie auch in Braunschweig entwickelt werden. Präsident Trump ist ja während seiner Erkrankung in den Genuss eines solchen Präparats gekommen, das ihn in der Tat sehr schnell geheilt hat. Aber solche teuren, aufwendigen Medikamente sind nicht massentauglich. Drittens gibt es Arzneimittel wie Kortikosteroide, die ein Überschießen des Immunsystems hemmen. Allerdings haben unsere Forscher kürzlich festgestellt, dass das Immunsystem bei Covid-19 gar nicht völlig außer Kontrolle gerät, sondern vielmehr verwirrt ist. Die Immunzellen scheinen ihre normale Funktion zu verlieren. Deshalb ist auch diese Wirkstoffgruppe nur begrenzt geeignet. Als sehr hilfreich bei der Behandlung haben sich Blutverdünner wie Heparin erwiesen. Covid-19 betrifft nämlich nicht nur die Atemwege, es ist auch eine schwerwiegende Gefäßerkrankung, die zu vielfältigen Infarkten führen kann.

Große Hoffnung liegt auf der Impfung, die jetzt in greifbarer Nähe ist. Wird sie uns helfen, 2021 zur Normalität zurückzukehren?

Ich bin sehr optimistisch, dass wir 2021 aufatmen und wieder ganz normal Weihnachten feiern können – vor allem dank der Impfstoffe. Wir Deutschen können stolz darauf sein, dass wir beim Wettlauf der Impfstoffe mit zwei Herstellern – Biontec und Curevac – vorne mit dabei sind. Deren Impfstoffe sind RNA-basiert. Das heißt, sie enthalten Informationen über das Erbgut des Virus. Diese Informationen werden im Körper in Eiweiße des Virus übersetzt, gegen die wir dann eine Immunität entwickeln. Dieses Verfahren ist ausgesprochen elegant. Außerdem lassen sich diese Impfstoffe schnell, leicht und günstig produzieren. Und ihre Wirksamkeit von 95 Prozent ist schon enorm.

Wie sieht es mit der Verträglichkeit aus?

Zum jetzigen Zeitpunkt deutet alles darauf hin, dass es keine schweren Nebenwirkungen gibt. Daher die Zulassungen in den USA und in Großbritannien. Die in der EU steht ja kurz bevor.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von einem externen Anbieter, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Impfskeptiker behaupten, die bevorstehende Impfkampagne komme einem großen gentechnischen Experiment gleich.

Es handelt sich zwar um genbasierte Impfstoffe. Das heißt aber nicht, dass man mit einer Nukleinsäure impft, die sich in unser Erbgut einfügt und dort irgendwelche schlimmen Dinge anrichtet. Das ist es ja, was einige Menschen offenbar befürchten. Die verabreichte RNA kann sich aber nicht in Genome integrieren. Dazu fehlt es an einem entscheidenden Enzym, über das übrigens manche Viren verfügen. Zwar wurde bei Nervenzellen eine solche umgekehrte Transkriptase beobachtet. Jedoch ist es extrem unwahrscheinlich, dass hierdurch ausgerechnet ein in den Muskel gespritztes RNA-Molekül in DNA – die materielle Basis der Gene – übersetzt wird und diese dann auch noch in unser Erbgut eingebaut wird. Diese Möglichkeit ist so vage, so theoretisch, dass ich sie von der Hand weise.

Das heißt, der Übergang ins menschliche Genom ist ausgeschlossen?

Ja. Die Gentechnik ist hier nur ein Vehikel, um unserem Immunsystem einen Steckbrief des Virus zu präsentieren. Der Weg in unserem Körper ist eindeutig: vom Gen, dem Träger der Erbinformation, zur RNA zum Protein – und nicht umgekehrt. Diese Regel ist grundlegend für das Funktionieren unseres Organismus. Was jedoch stimmt, ist: Es ist ein neuartiger Impfstoff, mit dem wir wenig Erfahrung haben. Wir wissen etwa nicht, wie lange die dadurch erworbene Immunität anhält. In einem Jahr sind wir da schlauer. Gleiches gilt bei der Frage, ob jemand, der geimpft ist, das Virus trotzdem noch übertragen kann. So lange wir dies nicht wissen und andere Teile der Bevölkerung noch gefährdet sind, sollten Geimpfte weiterhin Vorsicht walten lassen und sich an die Hygieneregeln
halten.

Werden in absehbarer Zeit weitere Impfstoffe hinzukommen?

Ja, zu den RNA-Impfstoffen kommen noch die klassischen, vektorbasierten Impfstoffe, wie sie die Russen, die Chinesen und mehrere Unternehmen entwickelt haben. Wir werden in Kürze über eine Palette verschiedener Vakzine verfügen, was von großem Nutzen ist, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Wir brauchen verschiedene Impfstoffe, weil die Wirksamkeit je nach Bevölkerungsgruppe unterschiedlich ausfällt. Bei der Grippeimpfung haben wir die Erfahrung gemacht, dass sie bei älteren Patienten mitunter nicht so gut wirkt. Das ist bei dem Corona-Impfstoff zum Glück anders.

Trotzdem fragen sich manche: Wie kann es sein, dass nach so kurzer Zeit schon Corona-Impfstoffe zur Verfügung stehen? Wo ist der Haken?

In der Tat: Normalerweise dauert die Entwicklung von Impfstoffen deutlich länger. Jede einzelne klinische Phase – die Überprüfung der Sicherheit, der Wirksamkeit und der Schutzwirkung in der Fläche – dauert üblicherweise je zwei bis drei Jahre. Wenn man das für drei Phasen zusammenzählt, landet man schnell bei sechs bis sieben Jahren. Hinzu kommen noch die Zulassung durch die zuständige Behörde, welche normalerweise ein bis zwei weitere Jahre in Anspruch nimmt, und die aufwendige Herstellung. Dass eine Zulassung nach wenigen Wochen erfolgt, wie wir es jetzt gerade in den USA, Großbritannien und bald in der EU erleben, ist unter normalen Umständen undenkbar.

Wie ist das möglich?

Wegen der akuten Notlage und des riesigen Bedarfs an Impfstoffen haben Regierungen, Wissenschaftler und Firmen große Anstrengungen unternommen und enorme Summen investiert. Dabei verfolgen die Staaten natürlich auch das Ziel, Impfstoffkontingente fürs eigene Land zu erhalten. So erklärt sich, dass, was sonst Jahre dauert, in zehn Monaten geschafft wird. Diese Beschleunigung wird möglich, weil die Phasen der klinischen Prüfung, die normalerweise nacheinander erfolgen, parallel ablaufen. Damit einher geht freilich, dass wir mit diesen Impfstoffen noch keine langjährigen Erfahrungen sammeln konnten. Aber ich glaube, in unserer Situation ist das angebracht.

Ein Ziel des Lockdowns ist es, die Gesundheitsämter wieder in die Lage zu versetzen, Infektionsketten und Kontaktpersonen nachzuverfolgen. Die von HZI-Forschern entwickelte Software Sormas soll dazu beitragen. Warum glauben Sie, dass dieses System die Behörden maßgeblich entlastet?

Die Gesundheitsämter haben mit einem Fülle an Informationen zu tun. Laboratorien, Krankenhäuser und Hausarztpraxen übermitteln die Fälle nicht selten händisch. Die Gesundheitsämter nehmen diese Informationen auf und geben sie dann an die entsprechenden Landesämter beziehungsweise ans Robert-Koch-Institut weiter. Wenn wir uns ein Schaubild der Neuinfektionen anschauen, sehen wir jedes Wochenende einen Knick. Der kommt aber nicht zustande, weil das Coronavirus sonntags Pause machen würde. Die Ansteckungen gehen natürlich weiter, allerdings werden die entsprechenden Zahlen zeitverzögert weitergeleitet. Dieser Knick ist ein Hinweis darauf, dass die Gesundheitsämter am Wochenende schließen. Das schreit regelrecht nach einem vernetzten digitalen System, das die Fälle automatisch übermittelt und etwa für Austausch und Abstimmung zwischen benachbarten Landkreisen sorgt, wenn diese von einem gemeinsamen Ausbruchsgeschehen betroffen sind. Ein digitales Werkzeug wie Sormas kann hier viel Erleichterung bringen. Das gilt auch beim Nachverfolgen der Kontaktpersonen vom Infizierten. Bisher müssen die Gesundheitsämter diesen Personenkreis täglich anrufen, um sich nach Corona-Symptomen zu erkundigen. Mit Sormas und einer vernetzten Handy-App, über die Betroffene regelmäßig selbst eingeben, wie es ihnen geht, könnte das automatisiert erfolgen. Unzählige Telefonate könnten so eingespart werden.

Das leuchtet ein. Aber wie sieht es mit der Umsetzung aus?

Die ist nicht so einfach. Die Gesundheitsämter, in Deutschland sind es um die 400 an der Zahl, nutzen ganz unterschiedliche Systeme. Mittlerweile verwenden rund 50 davon Sormas – oft noch parallel zu ihren altbewährten Arbeitsweisen. Die Erfahrungen, die mir berichtet werden, sind ganz unterschiedlich. Manche Gesundheitsämter sind begeistert, andere sind vorläufig zum alten System zurückgekehrt. In der Pandemie in ein komplett neues System zu wechseln, ist es kein Kinderspiel. Die Ämter, die damit arbeiten, brauchen

Dirk Heinz (links) an der Seite von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD). Dieser besuchte das Helmholtz-Zentrum im Mai 2020.
Dirk Heinz (links) an der Seite von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD). Dieser besuchte das Helmholtz-Zentrum im Mai 2020. © Braunschweiger Zeitung | Bernward Comes

Schulungen und viel Unterstützung, die wir Tag und Nacht gewährleisten. Noch sind manche Fragen des Datenschutzes und der Kompatibilität zu anderen Computersystemen ungelöst. Die Kompatibilität zu anderen Softwaresystemen muss datensicher und verlässlich sein. Dies in der gegenwärtigen Krise zu lösen, ist eine enorme Herausforderung. Wir rechnen damit, Anfang des kommenden Jahres eine Sormas-Version anbieten zu können, die in allen Gesundheitsämtern verwendbar ist.

Haben die Landkreise und Städte denn den Wunsch, Ihr System flächendeckend einzuführen?

Der Wunsch eine flächendeckenden Einführung kommt vor allem aus der Bundes- und Landesebene, denn dort machen sich die verzögerten Übermittlungen und die schwankende Datenqualität am ehesten bemerkbar. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder verlangt inzwischen, dass Sormas von allen Gesundheitsämtern in seinem Bundesland verwendet wird. Die Landräte und Bürgermeister wollen natürlich vor allem wissen, wie realistisch eine schnelle Einführung in den Gesundheitsämtern, die ihnen unterstehen, tatsächlich ist. Ihr Hauptinteresse ist, dass die Abläufe in den Städten und Kreisen reibungslos funktionieren.

Sie haben Bayern angesprochen. Und wie sieht es in Niedersachsen aus?

Ich werbe natürlich dafür, dass Niedersachsen zum Sormas-Land wird. (lacht) Immerhin ist das System in einer niedersächsischen Forschungseinrichtung, dem HZI, entwickelt worden. Zudem sind mehrere niedersächsische Firmen beteiligt. Insofern, meine ich, sollten wir auch das Vorzeige-Land sein, dass Sormas nutzt. Ministerpräsident Stephan Weil hat sich bei seinem Besuch im HZI begeistert gezeigt und sofort Mittel für die Entwicklung der erwähnten Handy-App bereitgestellt. Das Land Niedersachsen ist hier großartig in Vorleistung getreten.

Wie viele der Gesundheitsämter in Niedersachsen sind denn bislang mit diesem System unterwegs?

Derzeit nutzen in Niedersachsen zehn der 43 Gesundheitsämter Sormas intensiv. In unserer Region ist Peine mit an Bord. Braunschweig hat sich für eine eigene Lösung in Zusammenarbeit mit dem Städtischen Klinikum entschieden. Ich kann das verstehen, aber zur Einheitlichkeit trägt es leider nicht bei.

Die Corona-Krise wirft auch ein Schlaglicht auf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Manche klagen, dass wir von Virologen regiert werden. Andere kritisieren die Politik, nicht genügend auf die Wissenschaft zu hören. Müssen wir uns die verschiedenen Verantwortlichkeiten von Wissenschaft und Politik wieder stärker bewusst machen?

Vorweg gesagt: Streit, Aushandeln, Abwägen – in der Öffentlichkeit und in den Parlamenten – das gehört in einer Demokratie dazu. Auch eine Debatte über die Rolle von Wissenschaft ist begrüßenswert, allerdings nicht in der hitzigen Form, in der das momentan mitunter geschieht.

Die Virologen, die Sie ansprechen, stehen ja nur stellvertretend für die gesamte Wissenschaft, die in weniger als neun Monaten ein enormes Wissen über diese Infektion angesammelt hat. Wenn ich das mit der Spanischen Grippe 1918 und 1919 vergleiche – damals wusste man nicht einmal, welcher Erreger die Erkrankung überhaupt auslöst – kann man heute sagen: Wir haben das Coronavirus wirklich durchleuchtet und schon unglaublich viel verstanden. Aber wie es in der Wissenschaft so ist, entstehen beim Lösen einer Aufgabe immer neue Fragen. Bei Corona gilt dies umso mehr, da es sich um eine komplexe, schwierige Erkrankung handelt. Wir wissen etwa noch nicht, ob Covid-19 wegen der Langzeitfolgen – Stichwort Post-Corona-Syndrom: das reicht von Müdigkeit über neurologische Störungen bis zu Infarkten – nicht drastische Auswirkungen auf die Zukunft hat. Deswegen ist es auch absolut richtig, dass die Virologen warnen: Nehmt diese gefährliche Erkrankung bitte sehr ernst! Die Epidemiologen und Modellierer, die die Verbreitung der Krankheit und die Auswirkungen von Corona-Maßnahmen berechnen, können die Infektionsverläufe inzwischen recht gut vorhersagen. Und sie können wertvolle Hinweise geben, wie wir uns in Ermangelung von Arzneimitteln und Impfstoffen relativ gut vor einer Infektion schützen können. Das erlaubt uns, ohne allzu große Schäden die nötige Zeit zu gewinnen.

Insgesamt finde ich es bewundernswert, wie gut der Dialog zwischen Wissenschaft und Politik in Deutschland klappt. Wenn man das mit den USA vergleicht, wo Präsident Trump seinen eigenen Chef-Immunologen Anthony Fauci als „Idioten“ abkanzelt, sind wir doch, gelinde gesagt, ein gutes Stück weiter. Ausländische Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich spreche, beneiden uns darum.

Gleichzeitig muss klar sein, dass die Entscheidung am Ende bei der Politik liegt.

Richtig. Wissenschaftler können nur beraten, was sie auch tun sollen. Ich bin aber sehr skeptisch, wenn Wissenschaftler etwa Statements abgeben wie: „Wir sollten die Schulpflicht aussetzen.“ Solche Entscheidungen kann nur die Politik treffen. Die Wissenschaft kann bestenfalls aufgrund ihrer Forschung bestimmte Szenarien vorhersagen. Entscheiden müssen die Politiker.

Und es stimmt: Manchmal kommt es hier zu einer Durchmischung – etwa durch die vielen Talkshows und die neue Prominenz einzelner Wissenschaftler. Man redet plötzlich von Star-Virologen, wobei ich mich schon frage, was das eigentlich genau sein soll. Hier müssen wir auf dem Teppich bleiben und uns fragen: Was ist die eigentliche Aufgabe der Wissenschaft? Die Antwort lautet: Wir wollen Ungewissheit abbauen – auch für die Politik. Wenn die Grundlagen, auf denen Politiker ihre Entscheidungen treffen, zu 95 Prozent sicher sind statt zu 50 Prozent, ist das ein klarer Vorteil.

Die Politik ist gefragt, diese Erkenntnisse und Anregungen aufzunehmen und mit anderen Interessen abzuwägen – aus der Wirtschaft, aus dem sozialen Leben, aus der Kultur, aus dem Bildungssystem. Auch bei diesen Belangen ist es übrigens wichtig, dass die Wissenschaft an Bord ist. Da sind dann keine Virologen gefragt, sondern beispielsweise Ethiker, Ökonomen und Sozialwissenschaftler.

Trotzdem fehlt es offenbar vielen Menschen an Vertrauen in das Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik.

Und das macht mir Sorgen. Dieser Eindruck entsteht wahrscheinlich, weil sie in den Medien erleben, dass Herr Drosten dieses sagt, Herr Krause jenes, und Frau Brinkmann vielleicht wieder etwas anderes. Unterschiedliche Sichtweisen innerhalb der Wissenschaft sind jedoch unverzichtbar. Trotzdem wird mancher am Ende denken: Ich kann es nicht mehr hören.

Außerdem darf man nicht vergessen, dass wir mittlerweile doch alle coronamüde geworden sind. Corona ist das erste, was einem morgens einfällt und das letzte, woran wir denken, wenn wir abends das Licht ausmachen. Wir sind des Themas überdrüssig. Da geht es mir nicht anders. Umso mehr müssen wir einen kühlen Kopf bewahren.

...und Zusammenhänge erklären.

Ja, das zählt auch zu unseren Aufgaben. Der Wissenstransfer in die Gesellschaft ist überaus wichtig. Und wir können nicht erwarten, dass die komplexen Prozesse, mit denen wir es bei der Corona-Pandemie zu tun haben, sofort von jedem verstanden und abgespeichert werden. Ich erlebe in meinem eigenen Umfeld, dass Menschen Zweifel haben und fragen: Ist Corona nicht eigentlich nur eine normale Grippe? Und dann nützt es überhaupt nichts, diese Leute in die Ecke zu drängen. Vielen fehlt es schlicht an Wissen, und dadurch wird man anfällig für krude alternative Erklärungen. Statt diese Menschen als Ignoranten abzustempeln, sollten wir Wissenschaftler ihnen immer wieder geduldig erklären, was wir wissen und was noch nicht. Gerade wenn es um Entwicklungen in der Zukunft geht, können auch wir nichts garantieren, weil immer Unvorhergesehenes passieren kann. Fest steht: Mit dem Coronavirus werden wir noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, zu tun haben. Den H1N1-Erreger, der vor über hundert Jahren die Spanische Grippe ausgelöst hat, gibt es ja auch noch heute. Auch Corona nistet sich bei uns ein. Daraus müssen wir das Beste machen.

Das Braunschweiger Helmholtz-Zentrum ist 2020 regelrecht zu einem „Corona-Zentrum“ geworden. Sie haben einen Großteil Ihrer Arbeit auf Corona-Forschung umgestellt. Regelmäßig kamen Politiker zu Besuch. Wie schwer wird es, die Weichen nach dem Ende der Pandemie wieder auf Normalmodus zu stellen?

Vorweg: Vom Normalmodus sind wir noch weit entfernt. Im kommenden Jahr wird das noch nicht der Fall sein. Dafür gibt es noch viel zu viele Fragestellungen, denen wir uns um Zusammenhang mit Corona widmen müssen. Wir haben große Mengen an Mitteln eingeworben, und die damit verbundenen Forschungsprojekte führen wir über die nächsten Jahre fort. Diese Mittel haben uns erlaubt, zu wachsen und die Aufmerksamkeit zu bekommen, die unsere Arbeit verdient.

Aber Sie haben schon recht: Es gibt natürlich noch viele andere Herausforderungen, die mit Infektionskrankheiten verbunden sind und denen wir uns am HZI widmen. Ich nenne nur das Stichwort Antibiotikaresistenz. Außerdem bauen wir neue Institute auf für personalisierte Medizin – also für patientengerecht maßgeschneiderte Behandlungen. Ein weiteres Beispiel: Wir befassen uns mit der Übertragbarkeit von Infektionen zwischen Tier und Mensch. All das dürfen wir nicht wegen Corona links liegen lassen.

Was bleibt denn ganz konkret liegen?

Das ist eine wichtige Frage. Als Vizepräsident des Forschungsbereichs Gesundheit der Helmholtz-Gemeinschaft bin ich im engen Austausch mit anderen Gesundheitszentren – etwa dem Deutschen Krebsforschungszentrum oder dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. Das sind Einrichtungen, die sich mit anderen Krankheitsbereichen befassen. Dort ist die Sorge groß, dass aufgrund der Pandemie weniger Arztbesuche stattfinden und Vorsorgeuntersuchungen vernachlässigt werden. Das kann dazu führen, dass in den nächsten Jahren Krebs oder Stoffwechselerkrankungen häufiger auftreten. Das heißt, man muss sehr darauf achten, dass Corona nicht die alleinige Aufmerksamkeit erhält. Sonst müssen wir eine Nach-Corona-Welle an anderen Erkrankungen befürchten, die leicht zu vermeiden gewesen wären. Das würde bedeuten, die Fortschritte, die wir erzielt haben, aufs Spiel zu setzen.

Zur Person

Dirk Heinz, geboren 1960, studierte in Freiburg im Breisgau Chemie und wurde in Basel mit einer Doktorarbeit auf dem Gebiet der Strukturbiologie pro-moviert. Für seine Habilitation kehrte er nach Freiburg zurück.

1998 wechselte Heinz an die damalige Gesellschaft für Bio-technologische Forschung, das heutige Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig. Von 2002 bis 2013 leitete er hier eine Forschungsabteilung.

Seit August 2011 leitet Dirk Heinz das HZI als Wissenschaftlicher Geschäftsführer. An der TU Braunschweig hat er eine Professur für Strukturbiologie. Er sitzt in zahlreichen wissenschaftlichen Beiräten und Aufsichtsgremien von Forschungseinrichtungen, Universitäten und Kliniken.

Coronavirus in der Region – hier finden Sie alle Informationen

Coronavirus in Niedersachsen- Alle Fakten auf einen Blick