Braunschweig. Der Braunschweiger Epidemiologe erklärt im Interview die Besonderheiten des Coronavirus-Ausbruchs – und wie es weitergehen könnte.

Gérard Krause ist dieser Tage ein gefragter Interviewpartner. Der Abteilungsleiter des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung in Braunschweig (HZI) ist einer der hochkarätigen deutschen Experten für die derzeitige Coronavirus-Epidemie. Als Epidemiologe beschäftigt sich der 55-jährige Professor und langjährige Fachgebiets- und Abteilungsleiter am Robert Koch-Institut mit der Ausbreitung und Bekämpfung von Krankheiten.

Herr Prof. Krause, was fällt Ihnen zum Umgang der Deutschen mit dem Coronavirus ein?

Dass manche Leute jetzt offenbar denken, massenweise Lebensmittel bunkern zu müssen, das finde ich schon eigenartig und übertrieben. Ich frage mich beinahe, wie so etwas zustande kommt. Ich kenne niemanden, der sowas empfiehlt oder für notwendig erachtet. Vielleicht sehen manche Menschen im Fernsehen, dass es in Italien zu Hamsterkäufen gekommen ist, und meinen nun, es genauso machen zu müssen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass solches Verhalten zum Glück nicht repräsentativ ist.

Und wenn wir darauf schauen, wie Politik und öffentliche Verwaltung der Epidemie begegnen?

Ich will mich ungern als Oberlehrer aufspielen und Schulnoten verteilen. Aber ich denke, man kann schon sagen, dass nichts dramatisch falsch gemacht wurde. Von meiner Zeit am Robert-Koch-Institut, der zuständigen Bundesbehörde, weiß ich, wie sich das Managen einer solchen Epidemie von innen anfühlt. Für Außenstehende, für Bürger und Medien, ist es manchmal schwer nachzuvollziehen, warum es vielleicht an einem Tag „Hü“ heißt und am anderen „Hott“. Das hat aber damit zu tun, dass sich der Kenntnisstand von einem Tag auf den anderen verändern kann. Die Lage ist agil. Darauf muss man sich einlassen.

Sie meinen, auf die vielen Unbekannten bei einem neuen Virus?

Ja. Man kann eben nicht vorhersagen, wie sich die Dinge in den kommenden zwei Wochen entwickeln. Wir wissen etwa nicht, ob sich die voraussichtlich wärmeren, frühlingshafteren Temperaturen positiv auswirken werden, so dass die Übertragbarkeit des Virus nachlässt. Wir wissen nicht, inwieweit ein Doppeleffekt zwischen dem Coronavirus und der laufenden Influenzawelle stattfindet. Offen ist auch noch die Frage sogenannter Kreuz-Immunitäten, also, ob Antikörper, die wir bereits gegenüber anderen Corona-Varianten entwickelt haben, uns auch vor den neuen Virus schützen.

Wissen wir denn mittlerweile. wie hoch der Anteil schwerer Erkrankungen durch das neue Coronavirus ist?

Das ist immer noch schwer einzuschätzen. Aus dem täglichen Umgang wissen wir, dass gerade die leichten Corona-Infektionen, die symptomfrei verlaufen, nicht vollständig erfasst werden. Das ist auch völlig OK, schließlich ist es nicht notwendig, hier alle einzelnen Fälle zu zählen. Auf der anderen Seite werden die schweren Erkrankungsfälle annähernd flächendeckend erfasst. So entsteht schnell der falsche Eindruck, dass der Anteil der schweren Verläufe besonders hoch ist. Dabei ist er in Wirklichkeit vielleicht noch geringer, als die bereits nach unten korrigierten Zahlen vermuten lassen.

Kann man unter diesen Umständen absehen, wie es mit der Epidemie weitergeht?

Es gibt viele Unwägbarkeiten. Immerhin können wir mittlerweile relativ sicher sagen, dass das Virus sehr leicht übertragbar ist und dass ein großer Teil der Erkrankten nur sehr leicht erkrankt. Letzteres ist eine gute Nachricht. Aber beides geht ja oft miteinander einher.

Wie ist das zu erklären?

Oft lassen sich Krankheitserreger nur dann gut übertragen, wenn sie nicht gleich zu schweren Krankheiten führen. Wenn ein Virus die Erkrankten gleich ins Bett zwingt oder diese sogar in großer Zahl daran sterben, können sie ja nicht mehr am öffentlichen Leben teilnehmen. Entsprechend tragen sie dann nicht mehr zur Verbreitung des Virus bei. Dieser Zusammenhang ist fast so etwas wie ein Naturgesetz.

Ist das genaue Nachverfolgen der Infektionswege angesichts der jetzigen Verbreitung des Virus noch von großer Bedeutung?

Das rückwärtige Nachverfolgen, also die Suche nach „Patient Null“, halte ich nicht mehr für so wichtig. Das Nachverfolgen in der Gegenwart dagegen schon. Damit meine ich: Wenn es einen Erkrankten gibt, dann müssen wir uns sofort kundig machen, wer mit diesem Mensch Kontakt hatte und nun womöglich die Krankheit inkubiert – also ausbrütet. So kann man die Verbreitung verlangsamen, die Erkrankten frühzeitig behandeln und gegebenenfalls auch zu Hause isolieren. Und schließlich – das halte ich für das Entscheidende – kann man so schauen, ob sich unter den Kontaktpersonen womöglich Menschen befinden, die besonders gefährdet sind: Leute, die Vorerkrankungen haben oder immununterdrückende Medikamente nehmen.

Um dem Virus zu begegnen, halten sich die Behörden an den nationalen Pandemieplan. Erstellt worden ist dieser allerdings mit Blick auf Influenza-Grippeviren. Wie gut ist dieser Plan in der derzeitigen Situation?

Anders als bei Influenza haben wir gegen das Coronavirus weder einen Impfstoff noch eine spezifische Therapie. Das sind Unterschiede. Aber ansonsten gibt es große Parallelen. Ein wesentliches Element der Pandemiepläne von Bund und Ländern ist die Frage: Was passiert, wenn viele Leute gleichzeitig krank werden? Wie können Betriebe ihre Arbeit aufrecht erhalten? Wie müssen die Hygienemaßnahmen aussehen? Und vieles von dem, was die Pläne hier vorsehen, kann man eins zu eins auf die jetzige Situation übertragen.

Millionen Menschen weltweit laden sich derzeit auf ihre Handys Apps, die offizielle Daten verwenden und vor Orten mit vermeintlicher Corona-Ansteckungsgefahr warnen. Was ist davon zu halten?

Davor kann ich nur warnen. Leider gibt es solche abenteuerlichen Vorschläge mittlerweile auch für Deutschland. Solche Apps schüren völlig unnötige Ängste. Räumliche Nähe ist längst nicht das entscheidende Kriterium für eine Übertragung des Erregers. Deshalb ist es eine Illusion, auf diesem Weg Übertragungen wirklich nachverfolgen zu können. Wenn Leute, die solche Anwendungen nutzen, aufgrund falscher Schlüsse in die Arztpraxen strömen oder ihre Proben in Laboren untersuchen lassen, werden wichtige Kapazitäten gebunden, die gerade jetzt dringend anderweitig benötigt werden.

Die meisten Corona-Fälle werden aus Asien, vor allem China, und aus Europa gemeldet. In Afrika gibt es südlich der Sahara bisher erst einen bestätigten Fall – in Nigeria. China ist in Afrika wirtschaftlich und personell stark engagiert. Ist unser Bild der Lage dort realistisch?

Das ist eine berechtigte Frage. Es gibt mehrere Aspekte, die diese geringe Zahl erklären könnten. Erstens: Die Gesundheitsversorgung ist dort so anders, dass viele Leute bei leichteren Erkrankungen gar nicht zum Arzt gehen. Zweitens: Wenn Patienten mit Fieber in einer Praxis oder Krankenstation auftauchen, dann ist der erste Reflex der Krankenpfleger, die ja dort in der Regel die Primärversorgung übernehmen, eine Malaria-Diagnose zu stellen und die Patienten entsprechend zu behandeln. Zumindest in Malariagebieten ist das nichts Ungewöhnliches. Es gibt aber noch einen dritten Faktor, der eine Rolle spielen könnte: Vielleicht ist die Übertragung des Virus unter den gegebenen klimatischen Verhältnissen weniger effektiv. Diesen Effekt sehen wir etwa bei der Influenza. Sicherlich spielt auch eine Rolle, dass die Frühwarnsysteme in vielen afrikanischen Ländern nicht so gut entwickelt sind wie bei uns.

Erster Coronavirus-Fall in Nigeria

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    Sie haben das kostenlose Computersystem Sormas mitentwickelt, das ärmeren Ländern dabei helfen soll, professionell mit Epidemien umzugehen. Wie sind Ihre Erfahrungen damit?

    Sehr gut. Sormas ist schon bei sehr großen Ausbrüchen zu Einsatz gekommen – von Lassafieber, Affenpocken und Meningitis. Momentan deckt das System 400 Landkreise mit rund 85 Millionen Menschen in Nigeria und Ghana ab. Das System lauft kontinuierlich – nicht erst, wenn es zu Krisen kommt. Schließlich soll es ja gerade zur Entdeckung von Epidemien beitragen. Jüngst haben wir das System aktualisiert, so dass wir jetzt auch auf das Coronavirus reagieren können. Beim dem genannten Fall in Nigeria wird Sormas aktuell eingesetzt, um die Kontaktpersonen zu identifizieren und zu betreuen.

    Kann man sich Sormas vorstellen wie eine Handy-App für Gesundheitsbehörden?

    So ist es. Allerdings ist das System aus Datenschutzgründen auf speziellen, eigens hierfür bestimmten Mobiltelefonen installiert. Das Ganze funktioniert vernetzt, in Echtzeit und synchronisiert sich laufend. Das hat zur Folge, dass die Zahl erfasster Kontaktpersonen wie beim Schneeballprinzip in kurzer Zeit in die Höhe schnellen kann. Auf Papier oder mit klassischen Excel-Listen alleine wäre das nicht zu managen.

    Was leistet Ihr System ganz konkret?

    Nehmen wir den Corona-Fall in Nigeria. Der Patient hatte zahlreiche Kontakte zu Menschen in ganz Nigeria verteilt. Hier stellt Sormas sowohl die Rückverfolgung der Infektionsketten als auch das klinische Monitoring lückenlos sicher. Das Gleiche gilt bei Verdachtsfällen. Schon während ein Verdachtspatient im Krankenhaus ist, Proben entnommen und untersucht werden, kann man anfangen, alle Kontaktpersonen der vergangenen 14 Tage ausfindig zu machen. Das sind in afrikanischen Ländern schnell sehr viele Menschen. Diese Menschen, die vielleicht übers ganze Land verteilt leben, werden aufgesucht und überwacht. Deswegen ist es so wichtig, dass Sormas, das die Daten verwaltet und alle Aufgaben steuert, mobil funktioniert. So wissen die Behörden und das medizinische Personal an jedem Ort, was sie zu tun haben. Wenn dann eine Kontaktperson Beschwerden bekommt, wird auch sie automatisch als Verdachtspatient geführt. Übrigens passen wir das System gerade an, um es auch deutschen Gesundheitsämtern anzubieten.

    Sehen Sie denn hierfür in Deutschland Bedarf?

    Nicht bei der Erfassung von Verdachtsfällen. Aber zum Management der Kontaktpersonen gibt es bislang nichts Vergleichbares. Das könnte die Arbeit der Gesundheitsämter auch hier erleichtern.

    Am Anfang der aktuellen Corona-Epidemie mutmaßten manche, einem autoritär regierten Land wie China werde es am ehesten gelingen, das Virus mit drastischen Maßnahmen unter Kontrolle bringen. Wie sehen Sie das?

    Unabhängig davon, von welchem Land oder welcher Epidemie wir sprechen, kann man es auch so sehen: In einem sehr autoritär regierten Land, werden unerwünschte Hinweise auf beginnende Epidemien unter Umständen nicht rechtzeitig kommuniziert. Dadurch können sich die nötigen Maßnahmen auch verzögern.

    Die von China genannten Zahlen wurden ja gerade anfangs oft angezweifelt. Hilft es Ihnen bei der Einschätzung der Epidemie, jetzt, da der Erreger hier angekommen ist, auf deutsche und europäische Daten zuzugreifen?

    Schon. Zum Glück handelt es sich dabei um kleinere Datensätze – also um relativ wenige Fälle. Dass wir jetzt Zugang zu differenzierten und gut auszuwertenden Informationen haben, liegt aber auch daran, dass wir in den letzten Wochen genügend Zeit hatten, uns auf die Ankunft des Virus vorzubereiten.

    Wird sich die Coronavirus-Epidemie, ähnlich wie die Grippesaison, mit Einsetzen des Frühlings verabschieden?

    Es gibt zumindest Grund, das zu hoffen. Schließlich wissen wir, dass viele Atemwegserkrankungen sich in der kalten, nassen Jahreszeit besser verbreiten als in der warmen, trockenen. Ich gehe aber davon aus, dass wir das Virus nicht in wenigen Wochen völlig ad acta legen werden. Wahrscheinlich müssen wir uns dem Thema im Herbst erneut stellen – ähnlich wie der Influenza. Wir wissen es nicht. Gespannt bin ich, wie sich die öffentliche Wahrnehmung des Coronavirus entwickeln wird. Momentan ist die Berichterstattung in den Medien ja sehr intensiv. Aber ein und dasselbe Thema lässt sich ja auch nicht unbegrenzt lange verkaufen.

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