Braunschweig. Im Interview spricht Heinz über den Kampf gegen das Coronavirus, Vorschläge zur Überwachung der Kontaktsperre per Handy und den Forscherwettlauf.

Wenige Forschungseinrichtungen sind in der aktuellen Coronakrise ähnlich gefragt wie das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig. Über die Wirksamkeit von Kontaktsperren und die Fortschritte bei der Corona-Forschung sprachen wir mit Dirk Heinz, dem Wissenschaftlichen Leiter des HZI.

Ende Dezember fingen die deutschen Zeitungen an, über die „mysteriöse Lungenkrankheit“ im chinesischen Wuhan zu berichten. Heute ist Deutschland selbst wegen des Coronavirus im Ausnahmezustand. Wann wurde Ihnen klar, dass es so dick kommen würde?

Bis weit in den Februar lief unser Leben hier ja noch weitgehend normal. Gleichwohl ist uns schon damals bekannt geworden, dass das Maßnahmennetz der chinesischen Regierung bei Weitem nicht so engmaschig war, wie es manchmal schien, und dass ein Weitertragen der Infektion keineswegs ausgeschlossen war. Richtig klar, worauf wir zusteuern könnten, wurde mir erst, als das Virus in Europa ankam.

In Italien.

Ja, dort ist das Virus erstmals in größeren Fallzahlen aufgetreten. Nach meinen Informationen hängt das damit zusammen, dass in der Textilindustrie Norditaliens sehr viele Chinesen als Näher arbeiten. Dadurch, dass der Verkehr zwischen beiden Ländern lange uneingeschränkt blieb, kamen die Übertragungen zustande. Spätestens als die Fallzahlen dort Mitte Februar deutlich anstiegen, war mir klar, dass diese Epidemie auch Europa massiv betreffen wird.

Wie stehen wir angesichts der Pandemie heute in Deutschland da? Laut aktuellen Berichten flacht die Kurve der Ansteckungszahlen ja leicht ab.

Noch wäre ich da sehr vorsichtig. Wenn sich dieser Trend Ende der Woche bestätigt, kann man vielleicht sagen: Es geht offenbar in die richtige Richtung. Die derzeitigen Zahlen spiegeln aber immer noch einen Anstieg von etwa 4000 Coronafällen in Deutschland pro Tag. Auch die Zahl der Todesfälle steigt weiter. Und die weltweite Dynamik ist ja auch noch da. Aber natürlich gibt es die Hoffnung, dass die drastischen Einschränkungen Wirkung zeigen.

Zwei Corona-Tote in Wolfsburg – 2071 Infizierte in Niedersachsen

Hätten Sie sich die Maßnahmen schon früher gewünscht?

Hinterher ist man immer schlauer. Aber es ist ja auch nicht so, dass wir in unseren deutschen Kliniken schon italienische Verhältnisse hätten. Wäre das öffentliche Leben eine Woche früher eingeschränkt worden, dann gäbe es jetzt vielleicht weniger Fälle. Aber dann hätten wahrscheinlich viele Menschen gefragt: Ist das wirklich notwendig? Daher glaube ich, es wurde rechtzeitig reagiert.

Wie steht es denn um den Schutz von Medizinern und Pflegern?

Da gibt es leider große Engpässe. Das medizinische Personal, das tagtäglich mit Infizierten in Kontakt kommt und im Zweifelsfall viel höheren Dosen an Erregern ausgesetzt ist, muss wesentlich stärker geschützt werden als wir normalen Bürger. Und hier fehlt es an Masken und anderer Schutzausrüstung. Ich sehe dringenden Handlungsbedarf. Wenn jetzt Personal ausfällt oder sogar ernsthaft erkrankt, bricht das ganze System zusammen. Das wäre eine Katastrophe.

Hätte der Staat früher Vorsorge treffen müssen?

Als Wissenschaftler sehe ich die jetzige Lage auch als eine Art Experiment – und zwar, wie ich betone, nicht im zynischen Sinne. Eine solche Situation mit all ihren Verästelungen und ihren vielen Unbekannten hatten wir noch nie. Und man hat sie so nicht kommen sehen. Hätte man das Ausmaß geahnt, dann hätte man vor zwei Monaten vielleicht nicht zahlreiche Schutzmasken als Hilfsleistung nach China geliefert, von wo sie nun zurückgeschickt werden. Jetzt muss die Politik aber vor allem dafür Sorge tragen, dass die vorhandenen Masken nicht zu Wucherpreisen verkauft werden. Wenn größere Firmen, die ohnehin auf Minimalbetrieb laufen, noch Schutzausrüstungen in größerer Stückzahl haben, dann gebietet es die staatsbürgerliche Pflicht, diese jetzt den Kliniken zu spenden.

Wie erleben sie den Umgang der normalen Bürger mit der Epidemie und den Einschränkungen?

Ich bin wirklich beeindruckt. Schließlich sind die Einschränkungen unseres täglichen Lebens einschneidend. Wir sind soziale Wesen. Die Verringerung der sozialen Kontakte ist sehr schwierig für uns – von den Kindergartenkindern bis hin zu den älteren Menschen in den Pflegeeinrichtungen. Letztere sind ohnehin häufig in einer bedauernswerten Lage, und die jetzigen Maßnahmen sorgen für weitere Verunsicherung. Auf meinem täglichen Weg mit dem Fahrrad zur Arbeit nehme ich wahr, wie stark der Verkehr, auch auf der Autobahn, abgenommen hat. Braunschweigs Innenstadt ist unglaublich leer. Daran sehe ich, dass die Appelle fruchten und die Leute ihren gesunden Menschenverstand gebrauchen. Das ist jetzt ganz, ganz wichtig.

Coronavirus in der Region – hier finden Sie alle Informationen

Unsere Redaktion erreichen viele Fragen von Lesern, die wissen möchten, ob es möglich ist, sich an alltäglichen Gegenständen zu infizieren – sei es an einer Brötchentüte, an der Käseverpackung aus dem Supermarkt oder an der Tageszeitung.

Die Frage „Was fasse ich noch an, was nicht?“ stellen wir uns alle. Das Coronavirus überträgt sich per Tröpfcheninfektion, also über die Wassertröpfchen in der Atemwolke. Natürlich können diese Tröpfchen über Umwege auch auf Klinken oder Griffen landen. Auch wenn die Haltbarkeit der Viren auf Oberflächen begrenzt ist, sollte man die Schutzmaßnahmen – Hände waschen und sich nicht ins Gesicht fassen – einhalten. So sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Infektion drastisch. Den Einkaufswagen im Supermarkt zu desinfizieren, ist nicht nötig. Obst, Gemüse und Frischfleisch sollte man, wie sonst übrigens auch, vor dem Verzehr oder der Zubereitung waschen. Die größte Ansteckungsgefahr besteht normalerweise in vollgestopften öffentlichen Verkehrsmitteln. Diese Gefahr ist durch die geltenden Maßnahmen zum Glück gebannt.

Der frühere Innenminister Gerhart Baum hat sich heute vehement dagegen ausgesprochen, Handydaten zu nutzen, um zu überprüfen, ob die Bürger die Einschränkungen einhalten. Wäre eine Handyortung aus Sicht des Infektionsschutzes denn sinnvoll?

Die im Raum stehende Auswertung von Handydaten, um die Kontaktsperre zu kontrollieren, sehe ich sehr kritisch. Zum einen gefällt mir nicht, dass der Vorschlag auf Misstrauen gegenüber der Bevölkerung basiert. Zweitens ist eine solche Kontrolle überflüssig, da sich die Leute ja weitestgehend an die Einschränkungen halten. Und drittens: Was ist, wenn die Leute einfach ihr Handy zu Hause lassen? Die Überprüfbarkeit ist also gar nicht gegeben. Auch dass man mittels Handydaten Infektionswege nachvollziehen kann, bezweifele ich.

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Wie weit ist die Arbeit des HZI gerade eingeschränkt?

Alle Mitarbeiter die können, arbeiten zu Hause. Die Belegschaft auf unserem Campus haben wir auf ein Viertel reduziert. Wir haben frühzeitig einen Krisenstab eingerichtet und Vorkehrungen getroffen, damit wir als systemrelevante Institution, die zum Coronavirus forscht, weiterarbeiten können – selbst wenn es zu einem globalen Shutdown kommt. Die meisten Laboraktivitäten haben wir stark zurückgefahren. Gleichzeitig haben wir unsere virologische und epidemiologische Arbeit stark auf Corona fokussiert. In diesen Bereichen tun wir jetzt noch mehr als vorher.

Wie hilft das HZI momentan anderen Einrichtungen?

Das Städtische Klinikum hat uns gefragt, ob wir es mit unserer Technik bei der Testung von Patienten-Abstrichen unterstützen können. Wir sind sofort aktiv geworden. Und nicht nur wir: Auf einen von uns gestarteten Aufruf hin beteiligen sich jetzt auch Partnereinrichtungen wie die TU Braunschweig. So ist eine erstaunliche Zahl von Geräten zusammengekommen, die dem Klinikum nun sukzessive zur Verfügung gestellt werden – inklusive dem zur Bedienung erforderlichen technischen und medizinischen Personal. Dass wir hier helfen können, freut uns sehr – umso mehr, als unser Beispiel jetzt auch an anderen Standorten Schule macht.

Könnten Sie ein ausgewähltes Beispiel für Corona-Forschung am HZI beschreiben?

Die Strategie unseres Instituts erlaubt zum Glück, relativ schnell auf Entwicklungen wie die Corona-Epidemie zu reagieren. Unsere Forscher haben die Möglichkeiten, die Ihnen das HZI für die Coronaforschung bietet, sofort erfasst. Ein Projekt, das ich hervorheben will, ist Sormas: ein digitales Seuchen-Management-Tool auf Mobilfunkbasis. Dieses in jahrelanger Arbeit entwickelte System ist sehr aufwändig, aber auch sehr anpassungsfähig. Ihm haben wir nun ein Modul zur Erfassung von Corona-Ausbrüchen hinzugefügt. Unser führender Epidemiologe Gérard Krause ist gerade zusammen mit dem Robert Koch-Institut dabei, das System für deutsche Gesundheitsämter nutzbar zu machen, um ihnen einen besseren Überblick über die Lage zu verschaffen. Ein anderes Beispiel unserer Arbeit ist unsere Wirkstoffplattform, die wir nach einem Mittel gegen Corona durchforsten. Die Wirksamkeit überprüfen wir in unseren gesicherten Laboren an echten Coronaviren, die wir aus verschiedenen Ländern erhalten haben. Wir haben also in kurzer Zeit schon viel auf die Beine gestellt.

Fast täglich liest man Meldungen über Erfolge bei der Entwicklung von Impfstoffen oder Arzneien. Wie ordnen Sie diese ein?

Sehr positiv. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass wir dieses Virus erst seit drei Monaten kennen, bin ich begeistert von der Forschungsaktivität, die wir weltweit schon entfaltet haben. Das ist ein gigantischer Erfolg, der zeigt: Wir sind nicht wehrlos. Die Forscher verfolgen hierbei oft altbewährte Ansätze. Dazu gehört auch, zu testen, ob existierende Anti-Viren-Medikamente, etwa gegen HIV, Ebola oder Malaria, auch gegen das neuartige Coronavirus wirken. Für Laien klingen diese einzelnen Nachrichten wahrscheinlich ein Stück weit nach Kakophonie. Aber es ist gut, dass all dies passiert. Und glücklicherweise wird die Forschung immer besser koordiniert – etwa von der Weltgesundheitsorganisation. Auch das HZI ist bei diesen Bemühungen involviert.

Die Braunschweiger Biotech-Firma Yumab, eine Gründung von TU-Forschern, hat jetzt verkündet, menschliche Antikörper gegen das Coronavirus entdeckt zu haben.

Das ist eine tolle Nachricht. Damit würden wir über ein ganzes Arsenal von echten humanen Antikörpern verfügen, die zukünftig produziert und zur Therapie einsetzt werden könnten. Gerade für besonders schwere Fälle, wie gerade in Italien, wäre eine Passiv-Immunisierung durch ein solches Medikament eine großartige Sache.

Wer die Krankheit durchgemacht hat, ist mit hoher Sicherheit immun – aber für wie lange?

Ob die Immunität lebenslang hält oder man sich nach gewisser Zeit neu infizieren kann, muss noch geklärt werden. Am HZI untersuchen wir gerade Serum-Proben von Rekonvaleszenten. Anhand der vorhandenen Antikörper kann man herausfinden, ob jemand immun ist. Diese Information ist ganz maßgeblich. Betreffende Personen könnten sich ja wieder frei bewegen und, sozusagen in vorderster Front, an ihre Arbeitsplätze zurückkehren, dorthin, wo jetzt noch alle Bänder stillstehen. Solche Tests aufzubauen, wäre ein nächster Schritt.

Virologen und Epidemiologen sind derzeit gefragte Interviewpartner. Alle Menschen möchten wissen, wie es am nächsten Tag weiter geht. Andererseits ist Forschung ja langfristiger ausgerichtet. Wie spannungsreich ist die Rolle als öffentlicher Aufklärer für Sie und Ihre Kollegen?

Das ist schon extrem. Und manche unserer Forscher – etwa Melanie Brinkmann – bewältigen hier in diesen Wochen ein immenses Pensum. Die immer gleichen Standardfragen „Wann kommt der Impfstoff?“, „Wann kommt das Medikament?“, auf die es nun mal keine einfachen Antworten gibt, können auch ermüden. Trotzdem verstehe ich den Wissensdurst der Öffentlichkeit und den Wunsch nach Expertenmeinungen. Deshalb bin ich froh, dass unser Zentrum hier ganz vorne mit dabei ist. Das steht uns und auch Braunschweig sehr gut an. In Zukunft sollten aus meiner Sicht aber auch andere Experten verstärkt gehört werden: etwa Psychologen, Soziologen oder Wirtschaftsfachleute. Schließlich müssen wir uns auch mit den gesellschaftlichen Konsequenzen – bei uns und weltweit – auseinandersetzen. All das zu Ende zu denken, davon sind wir noch meilenweit entfernt.

Zur Person

Dirk Heinz, geboren 1960, studierte in Freiburg im Breisgau Chemie und wurde in Basel mit einer Doktorarbeit auf dem Gebiet der Strukturbiologie promoviert. Für seine Habilitation kehrte er nach Freiburg zurück.

1998 wechselte Heinz an die damalige Gesellschaft für Biotechnologische Forschung, das heutige Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig. Von 2002 bis 2013 leitete er hier eine Forschungsabteilung.

Seit August 2011 leitet Dirk Heinz das HZI als Wissenschaftlicher Geschäftsführer. An der TU Braunschweig hat er eine Professur für Strukturbiologie. Er sitzt in zahlreichen wissenschaftlichen Beiräten und Aufsichtsgremien von Forschungseinrichtungen, Universitäten und Kliniken.