Braunschweig. Bénédicte Savoy erhält die Braunschweiger Gauß-Medaille 2021. Im Umgang mit Kolonial-Sammlungen setzt sie auf Transparenz und Rückgabebereitschaft.

Seit Jahrzehnten versuchen afrikanische Länder, Teile ihres kulturellen Erbes aus europäischen Sammlungen zurückzuerhalten. Wie sie dabei immer wieder scheiterten, zeigt Bénédicte Savoy in ihrem Buch „Afrikas Kampf um seine Kunst“. Die Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft zeichnet die in Berlin lehrende französische Kunsthistorikerin, die Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron beriet und den Beirat des Berliner Humboldt-Forums 2017 unter Protest verließ, mit der diesjährigen Carl Friedrich Gauß-Medaille aus. Im Interview spricht die Raubkunst-Expertin auch über ihren Draht zu unserer Region.

Frau Savoy, was verbinden Sie mit Braunschweig?

Einiges. Vor allem die Zeit, in der ich an meiner Doktorarbeit gearbeitet habe. Es ging um Napoleons Kunstraub in Deutschland. Sein „Kunstkommissar“ Dominique-Vivant Denon war damals persönlich hier und hat viele Kunstwerke mitgenommen – insbesondere aus der Gemäldegalerie des Schlosses Salzdahlum. In Wolfenbüttel war es der Schriftsteller Stendhal, der viele wertvolle Bücher und Handschriften abtransportieren ließ. Das geschah hochoffiziell und wurde akribisch aufgelistet. Diese alten Listen habe ich mir in Braunschweig angeschaut. Ich habe viel Zeit im Herzog Anton Ulrich-Museum verbracht und mich mit dem Reichtum der Stadt um 1800 befasst. Später habe ich mit Studentinnen und Studenten ein Buch über Kunstsammlungen des 18. Jahrhunderts geschrieben. Auch darin war Braunschweig prominent vertreten. Sie sehen: Zumindest bis 1815 ist mir Ihre Stadt sehr gut vertraut. (lacht)

Wurden die geraubten Kunstwerke denn wieder zurückgegeben?

Ja, fast alles kam zurück. Braunschweig war dabei sehr erfolgreich. Alle Staaten, die damals vom Kunstraub betroffen waren, schickten bereits ab 1814, kurz nach der Völkerschlacht, Vertreter nach Paris. Ein Braunschweiger Emissär hieß Emperius. In seinem Tagebuch schildert er, wie er die Werke zurückholte.

Braunschweigs schwarzer Philosoph- Versklavt,vergessen

Afrikanische Länder, die seit Langem Kunstobjekte aus unseren Museen zurückfordern, waren dabei weniger erfolgreich. Warum kommt die Debatte über die Rückgabe von Kunstwerken aus der Kolonialzeit gerade jetzt in Fahrt?

Ein konkreter Auslöser war der Besuch von Emmanuel Macron Ende 2017 in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso. Dort sagte er vor 800 Studenten in einem mehr oder weniger improvisierten Moment einer langen Rede: „Das afrikanische Kulturerbe kann nicht nur in privaten Sammlungen und europäischen Museen zu finden sein. Es muss in Paris zur Geltung gebracht werden, aber auch in Dakar, in Lagos, in Cotonou. Ich will, dass in fünf Jahren die Bedingungen für die vorübergehende oder endgültige Rückgabe des afrikanischen Erbes an Afrika erfüllt sind.“ Dass ein Staatsoberhaupt das Wort „Rückgabe“ in den Mund nimmt, war ein Zeichen, dass er es ernst meint. Das hat Vieles ins Rollen gebracht.

Die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy lehrt an der TU Berlin. Am Freitag, 30. April 2021 erhält sie die Carl Friedrich Gauß-Medaille der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft.
Die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy lehrt an der TU Berlin. Am Freitag, 30. April 2021 erhält sie die Carl Friedrich Gauß-Medaille der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft. © TU Berlin/Dahl | DAVID AUSSERHOFER

Der zweite Teil meiner Antwort betrifft den Generationswechsel. Hier steht ein junger Präsident von 39 Jahren, der sinngemäß sagt: „Wir gehören nicht mehr der Generation der Kolonialzeit an. Lasst uns diese Dinge klären und gemeinsam eine andere Zukunft gestalten.“ Allen wird zunehmend klar, dass es keine guten Voraussetzungen für eine gemeinsame Zukunft sind, wenn die kolonialen Asymmetrien, die zwar auf dem Papier verschwunden sind, fortbestehen – etwa in Form der vielen Objekte in europäischen Museen.

Und in den allerletzten Monaten ist noch die „Black lives matter“-Debatte hinzugekommen. Die jüngere Generation, die empfindlich ist, was Rassismus angeht, junge schwarze Deutsche, Französinnen, Belgierinnen oder Briten, auch die sogenannten Diasporas verschaffen sich eine Stimme. Und die Frage der Museen kann man nicht losgelöst davon betrachten.

Böses Blut- Wie der Rassismus in die Welt kam

Glauben Sie, dass der Wind sich unumkehrbar gedreht hat?

Tatsächlich glaube ich, dass das der Gang der Geschichte ist. Wahrscheinlich werden wir uns in zwei, drei Jahren fragen, warum es – etwa bei der Rückgabe der Benin-Bronzen – so einen erbitterten Widerstand gegeben hat. Denn die Sache ist doch ziemlich klar. Noch vor fünf Jahren, als ich im Sommer 2017 aus dem Beirat des Humboldt-Forums austrat, war noch die Rede davon, ich hätte eine „Sommerlochdebatte“ losgetreten. Das kam damals von Verantwortlichen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Was für eine krasse Fehleinschätzung – und wie arrogant.

Welche Bedeutung haben die Objekte in europäischen Museen für die afrikanischen Länder heute?

Das ist eine komplexe Frage, weil die Bandbreite der Objekte so groß ist. Das fängt an bei dynastischer Hofkunst, wie sie etwa von den britischen Truppen 1897 in Benin City geplündert wurde oder 1892 von den Franzosen in Abomey. Das sind königliche Attribute, vergleichbar von den Kronjuwelen europäischer Monarchien. Diese Kategorie von Kunstwerken ist besonders emotional besetzt, weil gleichzeitig mit der Wegnahme diese Königreiche aufhörten zu existieren. Für die Menschen war dies das Ende der vorkolonialen Zeit. Einen anderen Stellenwert als diese königlichen Insignien haben Waffen, Schmuck, Gebrauchsgegenstände, sakrale Objekte. Es wurde ja alles mögliche gesammelt. Das lässt sich nicht über einen Kamm scheren. Man kann aber sagen: Die Erinnerung an die Momente der Zerstörung ist oft noch sehr präsent. Die Menschen in Benin wissen, dass es in Abomey einen Palast gab, der von den Franzosen in Brand gesteckt wurde. Das habe ich erfahren, als ich 2017 zusammen mit meinem Kollegen Felwine Sarr dort war. In welchen europäischen Museen sich die Objekte befanden, das wussten unsere Gesprächspartner zunächst oft nicht. Das lag sicher auch daran, dass die Museen, gerade deutsche, lange wenig bis nicht zu ihren Afrika-Sammlungen publiziert haben.

Top-Lobbyist des deutschen Kolonialismus

Haben vor allem die königlichen Kunstobjekte die herausragende Bedeutung für die afrikanischen Länder?

Ja. Vor allem diese Objekte werden zurückgewünscht. Es gibt diese übertriebene Angstmacherei, die Museen würden leer, wann man Kunstwerke zurückgäbe. Dabei wollen die Gesprächspartnerinnen und -partner keinesfalls alles zurück – das wären Hunderttausende Stücke. Tatsächlich geht es um ausgewählte besonders wertvolle und symbolisch, historisch oder religiös wichtige Objekte. Das muss man immer wieder betonen.

Was ist heute die dringlichste Aufgabe der Museen mit Blick auf die außereuropäischen Sammlungen?

Da habe ich seit 20 Jahren eine klare Antwort, und die ist auch der Grund, aus dem ich beim Humboldt-Forum ausgetreten bin, weil man sie dort nicht hören wollte: Das Allerwichtigste ist, maximale Transparenz darüber herzustellen, wie die Objekte ins Museum gekommen sind. Diese Informationen dürfen nicht in Büchern versteckt werden, sondern müssen dort stehen, wo die Objekte gezeigt werden. Besucherinnen und Besucher sollen erfahren, woher ihre Begeisterung und ihre ästhetischen Emotionen beim Betrachten der Objekte rühren. Wenn man, wie wir in Europa, das Privileg hat, diesen kulturellen Konsum zu genießen, muss man auch wissen, woher, wie, unter welchen Umständen und um welchen Preis diese Objekte zu uns gekommen sind. Nur so kann man sich eine politische Meinung bilden. Solange es für das Publikum so aussieht, als wären diese Objekte wie Ufos bei uns gelandet, erscheint der Gedanke an eine Rückgabe nur absurd.

Fall Wissmann- Verein fordert offene Kolonialismus-Debatte

Was können Museen durch mehr Transparenz gewinnen?

Sehr viel – weil historische Zusammenhänge hergestellt werden. Es ist aber auch ein ethischer Gewinn. So wie es fair produzierten Kaffee gibt, brauchen wir auch faire Museen.

Wie weit auf dem Weg der Transparenz sind wir vorangekommen?

Lange sind die Museen sehr offen damit umgegangen, dass Objekte aus der Kolonialzeit stammten. In einer meiner Vorlesungen zeige ich meinen Studierenden gerne den Scan eines Bestandskatalogs des Städtischen Museums Braunschweig. Zur völkerkundlichen Sammlung liest man da: „Die Schwerpunkte dieser Abteilung liegen naturgemäß geografisch bei den alten deutschen Kolonien und in der Blütezeit des deutschen Kolonialismus“.

Bis weit in die Nachkriegszeit gingen deutsche Museen oft noch relativ offen mit der kolonialen Herkunft ihrer Sammlungsobjekte um. Der Katalog der afrikanischen Sammlung des Städtischen Museums Braunschweig von 1969 zeigt dies.
Bis weit in die Nachkriegszeit gingen deutsche Museen oft noch relativ offen mit der kolonialen Herkunft ihrer Sammlungsobjekte um. Der Katalog der afrikanischen Sammlung des Städtischen Museums Braunschweig von 1969 zeigt dies. © TU Berlin | Savoy

Erst Anfang der Siebziger begannen Museen, das zu verschweigen – weil man, wie es hieß, „keine Begehrlichkeiten wecken“ wollte. Deswegen erfährt man teils bis heute nicht, was man in den sechziger Jahren noch freimütig preisgab.

...und weitere Jahrzehnte früher sogar noch stolz hervorhob.

So ist es. (lacht) Den Zeitgenossen um 1900 war völlig klar, dass die Objekte erst vor drei Jahren als Kriegstrophäe hergebracht worden waren. Heute ist der Umgang damit sehr unterschiedlich. Manche Museen haben es begriffen und geben sich große Mühe, zum Beispiel das Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln. Andere fangen gerade erst an, das als Selbstverständlichkeit zu sehen. Die Umsetzung wird da sicher noch ein Weilchen dauern.

Herero-Kultobjekt vermisst – Spur führt nach Braunschweig

Welche Rolle sollte heute spielen, wie die Objekte damals erworben wurden?

Auch hier ist die Bandbreite groß. Aber angesichts des krass asymmetrischen Machtverhältnisses in der Kolonialzeit kann man ein echtes Einverständnis als Grundlage des Erwerbs nicht voraussetzen. Das lässt sich anhand Archivquellen sehr gut nachvollziehen. Wir haben es oft mit Wegnahme als Kriegstrophäen oder mit Erpressungen zu tun. Auch die wissenschaftlichen Expeditionen der Franzosen in den dreißiger Jahren waren oft wie brutale Razzien. Sicher gibt es Hinweise, dass manche Objekte freiwillig abgegeben wurden, aber in der Hochzeit des Kolonialismus um 1900 war das eher selten der Fall.

Aber hatten Einwohner der Kolonien nicht auch ein Bewusstsein dafür, dass es einen Markt gab, für den sie produzieren konnten?

Ja, das stimmt. In Kamerun gab es Handwerkergilden, die Objekte für die Soldaten und Kolonialbeamten fertigten. Aber dabei handelt es sich eher um Souvenirs, um minderwertige Ware, die Experten auf den ersten Blick erkennen. Das sind nicht die Objekte, deren Rückgabe irgendjemand fordert. Grundsätzlich würde ich sagen: Wenn Staaten, Gruppen oder Familien einen sehr starken, begründeten Wunsch äußern, bestimmte Gegenstände zurückzuerhalten, sollte man sich dem nicht verschließen, nur weil diese vielleicht einst legal erworben wurden. Ich denke, soviel Bescheidenheit sollten wir aufbringen – zumal viele Objekte ohnehin in den Depots der Museen schlummern.

Braunschweiger Kolonialdenkmal- Stadt plant Künstler-Wettbewerb

Ihr Festvortrag zur Gauß-Medaille heißt „Lost in Lists – was Museen schaffen oder nicht“. Was ist denn machbar – und was nicht?

Obwohl die Wissenschaft seinerzeit als Legitimation diente, all diese Objekte in europäischen Museen regelrecht anzuhäufen, war von vorneherein klar, dass eine wissenschaftliche Bearbeitung nie zu leisten sein würde. Die Museumsdirektoren wollten in ihrer Hybris immer mehr und mehr. Noch vor einigen Jahren befanden sich in Berlin manche Stücke noch in den originalen Transportkisten. Man hatte es nicht einmal geschafft, sie auszupacken.

Kunstwerken aus dem früheren Königreich Benin – hier 2002 im Leipziger Museum für Völkerkunde. Die Skulpturen, Reliefplatten und weitere Werke aus Bronze, Elfenbein und Holz stammen aus der Zeit zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert.
Kunstwerken aus dem früheren Königreich Benin – hier 2002 im Leipziger Museum für Völkerkunde. Die Skulpturen, Reliefplatten und weitere Werke aus Bronze, Elfenbein und Holz stammen aus der Zeit zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert. © dpa | Wolfgang_Kluge

Machbar ist dagegen, dass Museen sich ihrer eigenen Geschichte stellen, im Guten wie im Schlechten. Sie sind nun mal Institutionen mit zwei Gesichtern: einem hellen, sonnigen und einem düsteren. Zu glauben, dass man die schrecklichen Geschichten unter einer dicken Bleidecke verschwinden lässt, wie ich es beim Humboldt-Forum kritisiert habe, und das dann niemandem auffällt, ist ein Fehlschluss. Solche Geschichten arbeiten weiter in einer Gesellschaft. Mut zur eigenen Vergangenheit, ein bisschen Demut, ein bisschen weniger Arroganz – das sollte drin sein.

Die FAZ schrieb über Sie, dass Sie das Thema der kolonialen Raubkunst aus der Aktivisten-Ecke auf die politische Ebene gebracht haben. Ist das einer Haltung geschuldet, mit der Sie forschen?

Als Historikerin und Kunsthistorikerin geht es mir darum, historisch belegte Fakten freizulegen. Wenn diese angenehm sind, ist das so. Wenn sie unangenehm sind, ist das auch so. Im Fall der kolonialen Objekte geht es um Fakten, die lange verschwiegen wurden oder nicht bekannt waren. Jetzt wird manches davon als unangenehm empfunden, und die Politik reagiert darauf. Aber mein Ziel ist einzig und allein dieses Freischaufeln. Das ist mein Job. Insofern ist meine Haltung schlicht die einer Wissenschaftlerin.

Herkunft von Braunschweiger Afrika-Sammlung wird untersucht

Täuscht der Eindruck, dass es Ihnen auch um Gerechtigkeit geht?

Als Emmanuel Macron mich und Felwine Sarr beauftragte, für Frankreich zu dem Thema zu forschen, wusste ich noch nicht, was wir in den Archiven finden würden. Wir haben uns dem Thema ohne vorgefertigte Meinung genähert. Dann fingen wir an zu arbeiten. Ich für meinen Teil habe mir Aneignungsgeschichten angeschaut. Und die waren schrecklich. Von Woche zu Woche habe ich mehr Schlimmes erfahren. Erst aus der Schrecklichkeit der Quellen speiste sich unsere Empfehlung, Unrecht anzuerkennen und sich um eine neue Ethik der Beziehungen zu bemühen.

Es ist Ihnen widerfahren.

Ja, absolut. Die historischen Fakten haben mich dazu getrieben.

Die Gauß-Medaille

Die Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft verleiht seit 1949 alljährlich die Carl Friedrich Gauß-Medaille „für hervorragende wissenschaftliche Leistungen“. 2020 erhielt die Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier die Gauß-Medaille.

Die Auszeichnung erinnert an Carl Friedrich Gauß (1777-1855), den wohl bedeutendsten Schüler des Collegium Carolinum, des Vorläufers der Technischen Universität Braunschweig.

Die Verleihung der Carl Friedrich Gauß-Medaille findet pandemiebedingt virtuell statt. Die Veranstaltung – inklusive Vortrag von Savoy – wird am Freitag, 30. April, ab 14 Uhr übertragen im YouTube-Kanal „Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft“.

Diese Themen könnten Sie auch interessieren:

Aufarbeitung des kolonialen Erbes- Deutscher Museumsbund publiziert Leitfaden

Raubkunst unterm Christenkreuz

Museumschefin über Benin-Bronzen als globale Kunst

Zweigeteiltes Humboldt Forum - Eintritt neben freiem Zutritt

Streit um Benin-Bronzen - NDR Kulturjournal künftig mit ausführlichen Hintergründen zu aktuellen Debatten

Kolonialismus-Debatte- Große Töne und nichts dahinter?