Braunschweig. Die Braunschweiger TU-Professorin Jakobi spricht über Fehlannahmen vor dem Krieg und erklärt, warum die Friedensverhandlungen so schwierig sind.

Politische Analysen sind heikel, vor allem wenn sie sozusagen „live“ zu entstehen haben. Prof. Dr. Anja P. Jakobi, die Leiterin des Instituts für Internationale Beziehungen der TU Braunschweig, forscht seit vielen Jahren über Fragen der internationalen Sicherheitspolitik. Und sie hat sich sogar unserer Bitte gefügt, im Gespräch über den Krieg in der Ukraine das zuletzt überstrapazierte Wort „Glaskugel“ (die wir ja alle nicht haben) auszusparen.

Frau Prof. Jakobi, so schwierig das aus der Distanz zu sagen ist: Wie beurteilen Sie die Chancen auf eine Verhandlungslösung zwischen Russland und der Ukraine?

Das ist wirklich schwierig einzuschätzen, wir kennen die Verhandlungspositionen nicht genau. Vor allem mit Blick auf Russland gibt es Unklarheiten, die mit der großen Frage zusammenhängen, worauf dieser Angriff eigentlich hinauslaufen sollte oder soll. Wenn es darum ging, einen Regierungswechsel zu erzwingen und das gesamte Territorium einzunehmen, ist man aktuell sehr weit davon entfernt. Wenn es darum ging, die Ukraine zu schwächen, dann ist das in gewisser Weise schon erreicht. Und wenn es darum ging, herauszufinden, wie die Nato auf einen Angriffskrieg reagiert, wissen wir erst recht nicht so genau, wie die Reaktion des Westens eingeschätzt wird.

Welche dieser drei Möglichkeiten russischer Beweggründe halten Sie für besonders plausibel?

Die russische Führung achtet schon darauf, sich nicht in die Karten schauen zu lassen, ich bin da lieber vorsichtig. Was wir immerhin sagen können: Es scheint Fehleinschätzungen gegeben zu haben, schwere Fehleinschätzungen. Das ukrainische Nationalbewusstsein wurde unterschätzt. Offenbar glaubten Putin, seine Regierung und Teile der russischen Öffentlichkeit tatsächlich, dass ihre Annahme, die Ukraine wäre in erster Linie russisches Interessengebiet, auch in der Ukraine von vielen Menschen geteilt würde. Erschwerend kam womöglich das hinzu, was „group think“ genannt wird. Keiner in der entscheidenden Gruppe der russischen Führung will der Abweichler oder Bedenkenträger sein und kritische Fragen stellen. Stark hierarchisch geprägte Strukturen sind dafür besonders anfällig. Hinzu kommt klassischerweise eine Art des „Überoptimismus“ der politischen Führung in Bezug auf ihre militärischen Fähigkeiten, also eine Selbstüberschätzung, was mit militärischen Mitteln erreicht werden kann. Dazu passen die Berichte darüber, dass russische Geheimdienstler plötzlich verschwunden seien, weil ihre Einschätzungen sich als geschönt und somit falsch herausgestellt hätten. In der Folge all dessen stellt sich natürlich die Frage, wie lange der Krieg noch so geführt werden kann – mit den vielen gefallenen Soldaten und Zivilisten, mit all den ökonomisch katastrophalen Folgen auch für Russland.

Was heißt das für die Chancen der Friedensverhandlungen?

Es geht darum, gesichtswahrend aus der Situation herauszukommen. Beide Seiten müssen mit dem Ergebnis leben können, sonst ist das den eigenen Gruppen nicht zu vermitteln. Alles andere ist unrealistisch. Die Ukraine kann Russland sicher nicht im klassischen Sinne besiegen. Russland kann die Ukraine offenbar nicht vollständig unter Kontrolle bringen. Es muss also ein Waffenstillstand vereinbart werden – wobei es die Hypothek gibt, dass andere Vereinbarungen, etwa aus den 1990er Jahren, schon verletzt worden sind. Außerdem ist leider damit zu rechnen, dass die Kampfhandlungen noch einmal verschärft werden, bevor man zu einem Verhandlungsergebnis kommt. Dabei stellt sich die Frage nach den politischen Kosten für den Angreifer und den Angegriffenen auf verschiedene Weise. Spannend finde ich die Frage, ob die ukrainische Führung bereit ist, sich wirklich auf Neutralität einzulassen.

Wenn ich „Neutralität“ höre, denke ich unwillkürlich: Ja, darauf kann man sich doch einlassen. Hauptsache, der kriegerische Wahnsinn hört dann endlich auf.

Die Frage ist aber, ob er dann wirklich aufhören würde. Es geht ja nicht nur um die Frage, den Krieg zu beenden, sondern auch um das Problem, ein Wiederaufflammen des Konflikts zu verhindern. Wir unterscheiden zwischen Kriegen als Reaktion auf einen unmittelbaren Anlass und solchen mit langfristigen, dahinterliegenden, sozusagen schwelenden Ursachen - was hier der Fall ist. Die Hegemonie-Bestrebungen Russlands leben aller Voraussicht nach fort. Entscheidend ist also: Was ist eine Sicherheitsgarantie wert? Die Idee: Die Ukraine würde nicht der Nato beitreten, aber die Länder x und y sagen zu, im Falle eines Angriffs Beistand zu leisten. Das Problem: Werden diese Zusagen dann wirklich eingehalten? Und unter welchen Umständen: Was ist mit Beistand bei Auseinandersetzungen auf eher niedrigem Niveau? Ohne offizielle Kriegserklärung oder Armee? Da fallen einem natürlich sofort die Aktionen der Freischärler in den Separatistengebieten ein.

Welche Rolle könnte Deutschland bei Friedensverhandlungen spielen? Ist diese gewisse deutsche Zurückhaltung – etwa im Vergleich zu Polen – womöglich von Vorteil, wenn es darum geht, die Rolle des Maklers zu besetzen? Oder ist das eine Selbstbeschwichtigungs-Idee, um besser mit unserem schlechten Gewissen zurechtzukommen?

Es kämen einige andere Staaten für die Rolle des Maklers in Frage. So sehr ich den Wunsch der deutschen Öffentlichkeit verstehe, dass Deutschland eine positive Rolle spielt, was einen Waffenstillstand angeht und auch eine so oder so zu gestaltende Nachkriegsordnung: Die Idee einer „Friedensdividende“ kommt mir aktuell illusorisch vor. Für die deutsche Außenpolitik ist dieser Krieg in jedem Fall eine Zäsur. Und nicht nur für diese. Ganz viele Fragen liegen auf der Systemebene auf dem Tisch. Welche Rolle spielen künftig die UN, was ist mit den G20 – existieren sie weiter? Mit oder ohne Russland? Vieles, was seit den 90er Jahren im Sinne des Multilateralismus versucht wurde, steht auf der Kippe. Dafür ist wieder mehr von Blöcken und Allianzen die Rede.

Was meinen Sie - steigt die Gefahr einer globalen Eskalation mit der Dauer des Krieges?

Das klingt jetzt hart, aber diese Entscheidung liegt zunächst bei der angreifenden Partei. Russland beschränkt den Krieg bisher auf die Ukraine. So etwas wie die Verletzung des Nato- Luftraums – wie in der Türkei im Zuge des Krieges in Syrien - scheint nicht vorzukommen. Wenn sich jedoch die Raketenangriffe stärker auf den Westen der Ukraine konzentrieren, dann steigt das Risiko der Eskalation. Was ist, wenn eine Rakete aus Versehen in Polen landet? Die Literatur über Kriege ist voller Geschichten über situative Risiken und mögliche folgenschwere militärische Fehler. Noch verhält sich die Nato generell zurückhaltend. Wenn die russische Armee weitere und auch international geächtete Waffen einsetzen würde, ist jedoch unklar, wie sich diese Position auf Dauer halten lässt.

Vielfach hört man Selbstkritik à la „Warum haben wir das nicht kommen sehen?“ Geht Ihnen das auch in der Szene der politikwissenschaftlichen Forschung, in der Sie sich bewegen?

Ja, teilweise, wobei hier schon unterschiedliche Positionen existieren, und es eben nicht so ist, als ob das niemand hat kommen sehen. Aber nicht immer werden diese eher pessimistischen Positionen dann auch gerne gehört. Mir scheint eine Diskussion in unserem Fach in jedem Fall angebracht. Das Thema Sicherheitspolitik, das wir an der TU schon lange behandeln, sollte bestimmt im Fach insgesamt wieder eine größere Rolle spielen. In Anbetracht des grausamen Krieges ist das jedoch natürlich nicht das vordringliche Problem.