Przemysl. Voller Bahnsteig, leere Blicke: In Przemysl zeigt sich das Grauen der Kriegsfolgen und der Schwung der Helfer. Eine Reportage von Harald Likus.

Was man so daherredet: „Oh, Aleksandra, der Kaffee ist nicht so lecker, oder?“ Aleksandra nimmt noch einen Schluck von der Brühe mit dem nur teilweise aufgelösten Instant-Pulver aus dem Becher, den sie am Freiwilligenstand im Hilfszentrum bekommen hat. Sie sagt: „Es gibt Schlimmeres als schlechten Kaffee.“ Dann macht sie eine Pause und fügt hinzu: „Viel Schlimmeres.“ Dabei hat sie wieder diesen Blick, der nicht leicht zu bezeichnen ist: erstarrt-fassungslos, unheilvoll leer. Und nun weiß man nicht, was man sagen soll. Es gibt kein harmloses Kaffeegeplauder im Angesicht des Krieges.

Oder Yliia, später im Bus. Ob sie „okay“ ist, war die Frage, eher so in Sachen Fußwärme und Snickersversorgung. Da schluckt sie und schaut einen an – ebenfalls mit diesem unheilvollen Blick. Ja, sie sei okay, sagt die 20-jährige Studentin aus der Nähe von Donezk. Doch sie sei mit ihrer Mutter nach Westen aufgebrochen. Dann habe die Mutter sich zur Umkehr entschlossen. Vor allem, um zu Hause einer hochschwangeren Nichte beizustehen. Ganz allein ist Yliia nun also unterwegs, ganz allein und voller Sorge. Mit „okay“ ist es so eine Sache im Angesicht des Krieges. In der polnischen Stadt Przemysl gleich an der Grenze zur Ukraine herrscht der Krieg sozusagen indirekt. Hilfsaktionen mögen einander in mancher Hinsicht ähneln, ganz unabhängig von der Frage, ob es um ein Erdbeben geht oder einen Überfall auf ein Land. Sicher ist: Hier und jetzt ist die Geschlossenheit besonders groß. Der Schrecken ist allenthalben durchsetzt mit Wut und Empörung. Und immer wieder unüberprüfbare Neuigkeiten aus der malträtierten Ukraine.

Die Helfer aus Braunschweig samt Verstärkung in Przemysl.
Die Helfer aus Braunschweig samt Verstärkung in Przemysl. © Harald Likus

Ganz Europa scheint, in Przemysl helfen zu wollen

In Przemysl sind die Folgen des Krieges in greller Deutlichkeit zu sehen. Frauen, Kinder, Durcheinander. Es gibt sehr viel Hilfe. Und sehr, sehr viel Bedarf. Die Stadt ist ein Drehkreuz. Aus dem Westen kommen Medikamente, Windeln, Nudeln an, um nach Lwiw (Lemberg) gebracht zu werden. Aus dem Osten kommen die kriegsflüchtigen Frauen und die Kinder, immer weiter, immer mehr. Hier steigen sie in den Zug nach Warschau oder in den Bus nach Irgendwo. Manche wissen, wo es hingehen soll. Viele wissen es nicht im Angesicht des Krieges.

Durch Przemysl eilen freiwillige polnische Helfer. Durch Przemysl rollen Minibusse aus Spanien und Reisebusse aus Holland. Europa hilft, spendet, nimmt auf und tut was, das ist hier der Eindruck. Große Organisationen und kleine Organisationen neben- und miteinander. War das an dem Bus dahinten nicht ein Peiner Kennzeichen? Es gibt eine Reihe von Aktionen aus unserer Region. Für diesen Report habe ich mich der privaten Initiative angeschlossen, die vom Verein „Freie Ukraine Braunschweig“, dem CDU-Bundestagsabgeordneten Carsten Müller, dem Autovermieter Stefan Braue und vielen anderen angeschoben wird. Es ist deren zweiter Konvoi nach Przemysl. Fünf Kleinbusse. Aber der Reihe nach:

Freitagmorgen. Braunschweig, Hof der Autovermietung Heinemann

Die Namen der jeweiligen „Kleinbus-Sponsoren“ sind verklebt. Auch die dicken blau-gelbe Ukraine-Aufkleber (oben der blaue Himmel, unten das gelbe Korn) sind Ehrensache. Doch die letzten Kartons müssen noch beschriftet werden und rein in die Transporter. Kettenprinzip. Man reicht sie einander an. Eine Palette Kekse (Helferketten-Parole: „leicht“), diverse Kartons mit Desinfektionsmittel (Helferketten-Parole: „mittelschwer“). Der Braunschweiger Martin Streppel, seit Jahren auch schon mit der Unterstützung syrischer Flüchtlinge befasst, macht aufmunternde Bemerkungen. „Viele Hände, schnelles Ende.“

Eine keine Pause.
Eine keine Pause. © Harald Likus

Freitagnachmittag, Polen, A4, Höhe Rzeszów

Stimmung: stabil. Kein Stau. Der Konvoi bleibt zusammen. Auf der Hinfahrt gibt es auch noch andere Themen: Eine Abfahrt wird tatsächlich mal verpasst, weil gerade das Gespräch über Impfpflicht so interessant ist. Andere Transporter mit blau-gelben Aufklebern geben Schwung. „Free Ukraine.“ Auf einen osteuropäischen Lkw ist hinten „Putin Huyolo“ draufgeschmiert worden. Die Ukrainerin Larissa, die so gut Deutsch spricht, erst seit ganz kurzem in Braunschweig gelandet und gleich mit von der Partie ist, wird fast etwas rot, als sie das auf dem Rastplatz erklären soll. „Natürlich ein Schimpfwort. Es hat mit ,Penis‘ zu tun.“

Samstagmorgen, Krosno, Frühstücksraum eines Hotels in relativer Przemysl-Nähe

Die Ukrainerin Larissa Tkachuk.
Die Ukrainerin Larissa Tkachuk. © Harald Likus

Ich hatte eine einigermaßen lehrerhafte Idee. Jeder soll bitte versuchen, seinen Antrieb in einem Satz zusammenzufassen. Arne Gregersen aus Salzgitter schreibt: „Uns geht es so gut, wir sollten nicht vergessen, wie schlecht es anderen geht.“ Nino Wais, eine georgischstämmige Ärztin aus Pattensen, schreibt: „Eigene Erfahrung, starkes Mitgefühl, Bedürfnis nach Gerechtigkeit.“ Guido Meisenheimer schreibt: „Ich will nicht ohnmächtig danebenstehen.“ Auch Marcin Slodkowski aus Ilsede schreibt: „Ich hatte ein Gefühl der Ohnmacht. Jetzt will ich helfen.“ Und die Ukrainerin Larissa Tkachuk schreibt: „Es ist eine große Freude, dass die Menschen aus ganz Europa helfen.“

Samstagvormittag, Przemysl, im Keller

Hochnotwichtig ist im Sinne eines Hilfstransports natürlich die seriöse Weiterleitung. Eingefädelt hat die Weiterleitung in das Land, wo die Sachen gebraucht werden, der aus Lwiw stammende Vereinsvorsitzende Igor Piroschik. Also ab mit all den Sachen ins tiefer gelegte Zwischenlager. Wieder die Kette. Von der Treppe wird Bandscheibenzwicken gemeldet. Polnische Helfer machen dieser Bezeichnung alle Ehre. Dass Marcin Polnisch spricht, ist Gold wert. Es passt ja so viel Zeug in fünf Transporter. Kompressen, Kleidung, Kekse, Karottenbrei. Doch was ist ein voller Keller in einem Riesenland? Dann sind die Holländer da, brauchen Hilfe beim Auspacken. Windeln, Nudeln. Und jede Menge Tomatensuppe (Helferketten-Parole: „sauschwer“). Plötzlich ist auch die Ukrainerin Aleksandra mit ihren beiden Töchtern da. Die Kinder kriegen Teddys. Die Mutter ist reserviert. Manchmal hat sie diesen Blick... Doch sie packt mit an – und wird am Ende mit Nino nach Hannover fahren.

Samstagmittag, Przemysl, Bahnhof

Den Bahnsteig „kennt“ man aus dem ARD-Brennpunkt. Knallvoll, zumindest meistens. Das geht an Bahnhöfen halt schubweise. Frauen eilen Richtung Ausgang. Kinder schreien. Ein Helfer kommt mit Stofftieren. Apropos: Viele ukrainische Familien haben Hunde dabei, auch ein Katzenkorb und ein Kaninchenkäfig sind zu sehen. Ein Mann spielt Gitarre. Ein britischer Kameramann schleppt ein Stativ die Treppe hoch. Larissa und Nino sprechen Frauen an. Wir Männer halten uns schön zurück. Es gibt fiese Geschichten in dieser Hinsicht. Abkoch-Aktionen wie überteuerte „Taxifahrten“ seien noch harmlos... Eine große Familie will mit uns fahren. Später wird sie es sich anders überlegen und mit Babys und Hund wieder aus dem Bus klettern. Warum? Schwer zu sagen.

Auch auf dem Bahnsteig: Kaninchen.
Auch auf dem Bahnsteig: Kaninchen. © Harald Likus

Der Vater muss angerufen werden. Klappt das überhaupt? Es gibt Streit zwischen Müttern und Großmüttern. Die Unsicherheit hat wohl mit Rückkehroptionen zu tun. Wie es bei ihnen nun weitergeht? Noch schwerer zu sagen. Aber niemand will, niemand kann Hilfe aufdrängen. Auch solche Geschichten gehören zur Tour. Unvermittelt schieben sich Bodyguards durchs Gedränge. Ist das nicht Bundesverkehrsminister Volker Wissing? Und ob! EU-Kommissarin Adina Valean und die Verkehrsminister aus Polen und Deutschland besuchen den Bahnhof. Auch dabei ist Bahnchef Richard Lutz, mit blau-gelber Schleife am Revers. Carsten Müller kennt ihn, hat ihn gleich am Wickel. „Das war ein richtig gutes Gespräch“, sagt Müller danach. Gut informiert und entschlossen sei ihm der Bahnchef vorgekommen. Der Transport der Flüchtlinge ist eine Riesenherausforderung, eine von so vielen.

Auf dem Bahnsteig: Ärztin Nino Wais, Bahnchef Richard Lutz und Bundestagsabgeordneter Carsten Müller.
Auf dem Bahnsteig: Ärztin Nino Wais, Bahnchef Richard Lutz und Bundestagsabgeordneter Carsten Müller. © Harald Likus

Samstagnachmittag, Przemysl, Hilfszentrum

Busse rangieren sich in die richtige Position. Polnische Polizisten haben ein Auge darauf. Provisorische Toiletten wackeln im Wind. Bratfettgeruch liegt in der Luft. Einige Familien wühlen in einem riesigen Kleiderberg. Zum Glück scheint die Sonne, nur im Schatten ist es bitterkalt. In blauen Zelten gibt es bürokratische Unterstützung für die vielen Flüchtlinge, die Auskunft brauchen. Carsten Müller und andere Organisatoren überlegen, wie die Konvoifahrer und Mitfahrwillige besser zueinander finden können. Eine Familie schließt sich an, die Kontakte nach Recklinghausen hat. Sie wird nun mit uns nach Braunschweig fahren, wo ihre Leute sie abholen.

Endlich haben wir nun auch einen Hund im kleinen Tross. Der Yorkshire-Terrier heißt „Vinnia“ oder so ähnlich. Seine Besitzerin wirft ihm öfters ein zärtliches Wort zu. Ist „Vinnia“ ein weiblicher oder männlicher Vorname? Später pinkelt er so gegen einen sächsischen Autobahnpapierkorb, dass die Sache klar ist: Er ist ein Er. Dann stößt eine elfköpfige Familie zu uns. Sie will unbedingt zusammenbleiben, doch in zwei Konvoi-Transportern geht es auch. Die Oma sitzt schon drin und hat den kleinen Enkelsohn stets im Blick. Als Yliia Borhenko kommt, schaut sie zunächst völlig ratlos auf den kleinen Braunschweiger Teil des großen Gewusels auf dem Platz vor den Zelten. Doch weil sie Englisch kann, kommt man leichter zueinander. „Lower Saxony“ – aha… Sie erwähnt ein „Evacuation-Training“, das sie durchlaufen habe, und wieder die enorme Hilfe von freiwilligen Gruppen. Aber dann kam die Trennung von der Mutter. Am Ende fahren 21 Flüchtlinge mit uns nach „Lower Saxony“.

Samstagnacht, Polen, A4, Höhe Katowice

Yliia Borhenko in Braunschweig.
Yliia Borhenko in Braunschweig. © Harald Likus

Oft kommt einem ja die Rückfahrt schneller vor. Diesmal gar nicht. Stabil ist die Gruppe immer noch. Doch alles ist anders. Irgendwie drückender. Beinahe betreten schaut man sich an. Wir waren ja gar nicht „dort“, also richtig im Angesicht des Krieges. Und trotzdem… Natürlich soll es weitergehen, natürlich kann es besser gehen. Ich persönlich lerne schon mal: Mit dem Google-Übersetzer sollte man technisch besser umgehen können im Falle eines Falles. Und sich vor dem Kistenschleppen die Fingernägel schneiden. Carsten Müllers Handy glüht. Der Verein „Freie Ukraine“ glüht sowieso. Bald sind ausreichend private Unterkünfte gefunden. Es klappt! Ein regelrechtes Hilfsnetz wird immer deutlicher erkennbar. In Hannover, sagt Nino, können die zwei Mädchen ja vielleicht schon am Montag mit ihrer eigenen Tochter in die Schule gehen. Doch wie kriegt man all die Formalien schnell und trotzdem akkurat auf die Reihe?

Sonntagmorgen, Braunschweig

In der LAB ist erstmal alles voll. Eine kleine Gruppe wird noch zur Stadthalle gebracht, wo auch andere Ukrainer sind. Yliia hat kaum geschlafen und kaum gegessen. Sie will Sprachen studieren, ihr Englisch ist toll. Ganz am Schluss der Tour bringt sie mir das Wort „blindfold“ bei. Das heißt „Augenbinde“. Unvermittelt zum Flüchtling zu werden, sagt sie, sei, als müsse man versuchen, sich von jetzt auf gleich mit einer Augenbinde zurechtzufinden. Thank you, Yliia, denke ich jetzt. Denn so ein Vergleich kann helfen, die vielen leeren, erstarrten, die fassungslosen Blicke der Frauen aus der Ukraine besser zu verstehen. Zumindest ein bisschen.