Braunschweig. Die Braunschweiger Politik-Professorin Anja Jakobi fordert mehr Realismus in deutschen Debatten. Ohnehin müsse uns klar sein, dass Kosten steigen.

Als Leiterin des Instituts für Internationale Beziehungen an der TU Braunschweig arbeitet Prof. Dr. Anja P. Jakobi zu Internationaler Sicherheitspolitik. Zuvor forschte sie an der Universität London und anderen wissenschaftlichen Instituten im In-und Ausland. Das Gespräch fand am Mittwochvormittag statt.

Der Ukraine-Konflikt ist verwirrend. Militärische, wirtschaftliche, bündnispolitische, aber auch moralische, historische und kulturelle Fragen schwirren durcheinander. Mögen Sie für uns ein bisschen Ordnung in die Debatte bringen?

Grundsätzlich ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Konflikt mehr als eine Dimension hat. Auch die politische Rhetorik vernebelt manche Dinge. Zudem spielt die Vorgeschichte natürlich eine Rolle. Putin bzw. die russische Führung – wir sollten die Personalisierung trotz seines großen Einflusses nicht zu weit treiben – hat ja seit Jahren Konflikte an den Grenzen Russlands geschürt. Zum Beispiel fühlen sich die baltischen Staaten schon länger bedroht. Aber nun zur Ordnung der Debatte: Ich schlage vor, drei Ansätze zu unterscheiden. Der erste bezieht sich auf das Völkerrecht, auf Normen und Verträge. Wozu man klar sagen muss: Russland hat Normen verletzt, das lässt sich nicht wegdiskutieren, schon gar nicht seit der Krim-Annexion 2014.

Umgekehrt sind die Verweise auf die Nato-Osterweiterung, die angeblich Verträge mit Russland verletzt, so nicht korrekt. Die Verträge sagen dies so nicht. Der zweite Ansatz, damit verbunden, ist derzeit unübersehbar: die militärische Komponente. Es geht darum, den Großmacht-Status aufzubauen. Das ist strategisch nachvollziehbar – und schließt neue und verdeckte Formen der Kriegführung ein. Denken Sie an Soldaten ohne Hoheitsabzeichen, zwischendurch waren sie ja angeblich auch mal nur „auf Urlaub“ in der Ostukraine. Die internationale Gemeinschaft tut sich schwer, damit umzugehen.

Und dann gibt es noch einen dritten Ansatz. Damit meine ich, weniger auf die Staatsführung zu schauen, sondern auf die Gesellschaften, auf latente Ost-West-Gegensätze, die nun wiedererstarken, auf Eliten, auf Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet gibt es Versuche, die Kooperation aufrechtzuhalten, wobei uns natürlich sofort die Pipeline einfällt. Russland versucht sehr geschickt, auf Eliten in Deutschland Einfluss zu nehmen. Da gibt es Fürsprecher, die sicher nicht zu Unrecht auf die Vorteile von Kooperation verweisen. Aber sie bedienen dabei selbstverständlich die strategischen Interessen Russlands, das muss klar sein.

Drei Ansätze haben Sie erläutert. Da stellt sich nun doch jetzt die Frage: Welcher Ansatz ist denn nun der wichtigste?

Ich denke, die wichtigste Kategorie ist, wenn wir auf die Ukraine schauen, derzeit der Schutz von souveränen Staaten und ihrer territorialen Integrität. Putin hat ja nun im Fernsehen gesagt, der Westen brauche die Ostukraine nicht. Doch auf diese Argumentation darf man sich nicht einlassen, so könnte man das Einmarschieren in diverse dünn besiedelte Landesteile diverser Staaten rechtfertigen.

War es vor diesem Hintergrund falsch, die Annexion der Krim so mehr oder weniger gelassen hinzunehmen?

Ja, das kann man so sagen. Da spielt auch der Zeitfaktor eine Rolle, eine gewisse Ermüdung. Wer beschäftigt sich in westlichen Gesellschaften schon gern mit Kriegen und Konflikten? Irgendwann wird so ein Thema zum Spezialdiskurs und verschwindet aus der öffentlichen Wahrnehmung – und dann sind Tatsachen geschaffen worden, zum Beispiel Pässe verteilt. Dieses Sich-Abwenden nützt der Seite, die als erste Grenzen überschritten hat. Ich frage mich jetzt natürlich, ob sich das wiederholt.

Und trotzdem bin ich heute Morgen zusammengezuckt, als ich einen Kommentar in der „Rheinischen Post“ gehört habe, in dem behauptet wird, die Eskalation dieser Tage sei mit der Ermordung des Thronfolgers in Sarajevo 1914 zu vergleichen. Zeigt sich schon in meinem Zusammenzucken das, was man „westliche Konfliktvergessenheit“ nennen könnte?

Ich denke, dass einiges für Ihre Wahrnehmung spricht. Vor dem Thema „Internationale Konflikte“ schrecken viele zurück – und das hat ja in gewisser Weise auch etwas Positives. Diese Themen machen nun einmal keinen Spaß. Es gibt enorme Bildungslücken im Gebiet der Außenpolitik, die haben auch damit zu tun – hohe moralische Ansprüche und wenig Wissen. Und trotzdem müssen wir uns schon klarmachen, dass es auf der Welt Akteure gibt, die anders über Konflikte denken als wir in Deutschland. Das müssen wir erst einmal akzeptieren. Vielleicht hilft es, sich klarzumachen, dass Sicherheitspolitik und Friedenspolitik zusammengehören. Konflikte lassen sich nicht immer dadurch vermeiden, dass man ihnen aus dem Weg geht. Unter Umständen holen sie uns ein.

Und in diesen Tagen sehen wir, dass ein großer, wichtiger Staat dazu ausholt, das Territorium eines anderen zu annektieren. Das ist in dieser Offenheit schockierend, das empfinde auch ich so. Davon abgesehen: Mit historischen Analogien à la „Sarajevo“ wäre ich sehr vorsichtig. Dafür fehlt uns der Abstand.

Würden Sie denn in diesem Zusammenhang das Wort „Weckruf“ verwenden? Müssen wir uns mit neuem Realismus auf die Themen einlassen und uns auch eindeutiger bekennen?

Zunächst stimmt es, dass die deutsche Rücksicht auf energiepolitische Aspekte viele Staaten irritiert hat. Auch unsere militärische Zurückhaltung, die ja mit Blick auf die Geschichte nicht unverständlich ist, wird kritisch gesehen. Gemessen an seiner wirtschaftlichen Bedeutung spielt Deutschland in dieser Sicht im Bündnis eine zu kleine Rolle. In Fachkreisen wird das seit Jahren stark diskutiert. Ich würde sagen, dass die Formulierung „Weckruf“ eher mit Blick auf die deutsche Öffentlichkeit ihre Berechtigung hat.

Also geht es jetzt viel eher um „klare Kante“ als um „Wandel durch Annäherung“?

An wen und inwiefern sollten wir uns annähern? Die Gegenöffentlichkeit wurde in Russland konsequent zurückgedrängt, es gibt dort keine freie Diskussion dieser Themen. Ein Auf-Zeit-Spielen mag jetzt für alle Seiten in gewisser Weise klug sein. Aber auch wenn es wieder die russische Strategie sein sollte, jetzt erst einmal zu warten und später erst die Dinge zuzuspitzen: Die internationale Gemeinschaft wird in den nächsten Jahren anders über Krieg und Frieden, über Bündnisse und auch über Aufrüstung nachdenken – so oder so. Das weltweite Miteinander verändert sich grundsätzlich. Das wird uns einiges kosten. Und schön ist das natürlich nicht.