Braunschweig. Das neue „Großrussland“ ist auch ein religiöses Projekt. Zwei Wissenschaftler erklären eine oft unterschätzte Ursache für den russischen Angriff.

Das ist wohl wirklich mal ein frommer Wunsch: „In der Ukraine leiden Gläubige aller Religionen und Konfessionen unter dem Krieg, und ich sehe es als pastorale Verantwortung des Moskauer Patriarchats an, für sie Partei zu ergreifen und einzutreten.“

Vom Magdeburger Bischof Gerhard Feige, dem Ökumene-Beauftragten der Deutschen Bischofskonferenz, stammt das Zitat. Doch leider deutet wenig bis gar nichts darauf hin, dass der Patriarch diese Verantwortung wahrnehmen wird.

Das hat auch, aber nicht nur mit Persönlichem zu tun. Über die russisch-orthodoxe Kirche herrscht von Moskau aus seit dem Jahr 2009 Patriarch Kyrill I., ein aus Putins Heimatstadt St. Petersburg stammender Mann, der eine KGB-Vergangenheit hat und dem mitunter auch schon mal (eine Spiegelung auf dem Foto verriet’s) eine dicke Uhr vom Handgelenk wegretuschiert wurde. Vor allem aber ist Kyrill offenbar davon überzeugt, dass Russland sich in einer historischen Auseinandersetzung mit westlichem Liberalismus bzw. schädlicher Dekadenz befindet. Deshalb beklagt er nicht die Opfer des Krieges, sondern beschwört lieber die Gefahr von „Gay-Pride-Paraden“.

Doch was ist mit der Basis? Regt sich da womöglich Widerstand?

Kaum. „Eine kirchliche Friedensbewegung in Russland sehe ich nicht“, sagt Thomas Bremer. Den Münsteraner Professor für Ostkirchenkunde und Ökumenische Theologie hat unsere Zeitung am Donnerstag im Staat New York ans Telefon bekommen. Doch seine Analyse ist auch über die Entfernung hinweg unmissverständlich. „Es gibt fast einhellige Zustimmung für Putins Kurs. Nur wenige Geistliche stellen sich quer – unter erheblichem Risiko“, sagt Bremer. Weniger als ein Prozent der Geistlichen hätten eine Petition gegen den Krieg unterzeichnet. Stattdessen sei Kyrills Haltung, dass „russische und orthodoxe Werte“ gegen westliche Übergriffe verteidigt werden müssten, weit verbreitet. „Bestenfalls halten sich die Priester raus“, sagt Bremer etwas spitz – und da fallen einem gleich all die vergeblichen Versuche ein, orthodoxe Geistliche in Niedersachsen zu einem Kommentar zum Krieg zu bewegen.

Ganz anders ist laut Bremer die Situation in der Ukraine. Dort gibt es zwei orthodoxe Kirchen. Doch nicht nur die ohnehin von Moskau abgefallenen, sondern auch die zum Moskauer Patriarchat gehörenden Würdenträger würden die Invasion unmissverständlich verurteilen. Einige Bischöfe in der Ukraine hätten ihre Priester sogar angewiesen, den Patriarchen nicht mehr im Hochgebet zu nennen, was nach orthodoxen Begriffen ein harter Bruch sei.

„Religiös untermauerte Ideologie“

Aber vielleicht hat die Kirche ohnehin mehr mit dem Krieg zu tun, als man zunächst denkt. Der Erfurter Religionswissenschaftler Prof. Vasilios N. Makrides hat unserer Zeitung ein Thesenpapier geschickt, in dem er die Auffassung vertritt, dass Putin in Wahrheit gar nicht die Sowjetunion wiederherstellen wolle, „wie es in vielen westlichen Medien bis zum Überdruss wiederholt wird“. Vielmehr sei Putin zu verstehen als ein Autokrat „mit einer religiös untermauerten Ideologie“.

Zurück zu den Wurzeln – mit Gewalt

Laut Makrides geht es um ein neues „Großrussland“, das sich vom gefürchteten und verachteten Westen historisch, kulturell und vor allem religiös abgrenzt. Die Stadt Kiew habe in dieser Hinsicht enorme Bedeutung. Makrides wagt sogar diese These: „Die Invasion in die Ukraine, zusammen mit der Fokussierung auf die Eroberung solcher Städte, könnte daher als eine Art ,spirituelle Reise’ zu den Quellen der russischen Geschichte, Orthodoxie und Kultur gedeutet werden.“

So abwegig das Wort „Spiritualität“ in Anbetracht des entsetzlichen Krieges erscheinen mag: Immerhin ließen sich so vielleicht auch die eigentlich irrationalen Aspekte der russischen Politik besser verstehen.

Für andere Länder der ehemaligen Sowjetunion ist das Makrides zufolge nicht deshalb bedrohlich, weil sie der Sowjetunion angehörten, sondern weil sie zur „Russischen Welt“ gezählt werden können. In der sei die Religion wichtig. Vor dem Hintergrund schätzt auch der Erfurter Professor Putins Ambitionen so ein: „Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass er es nicht bei der Ukraine belassen wird.“