Braunschweig. Gab es Anzeichen für die Eskalation in der Ukraine? Wie ist Putins langfristige Perspektive? Der Politologe Ulrich Menzel gibt Antworten.

Seit vielen Jahrzehnten befasst sich der Politikwissenschaftler Prof. Ulrich Menzel, geboren 1947, mit der internationalen Politik. 2015 erschien sein Hauptwerk „Die Ordnung der Welt“. Wie überrascht ist er als erfahrener Beobachter von der Eskalation im russisch-ukrainischen Verhältnis?

Nun, es habe eine ganze Reihe von besorgniserregenden Anzeichen gegeben, sagt der ehemalige TU-Politologe am Dienstagnachmittag am Telefon. „Zum Beispiel wurde ersichtlich, dass die chinesische Führung den russischen Präsidenten, der ja auch in Peking zu Gast war, wohl gebeten hat, bis zum Ende der Olympischen Spiele abzuwarten, um das Ereignis nicht zu stören. „Und das hat Putin ja auch so gehandhabt“, sagt Menzel. Auch dass westliche Staaten ihr Botschaftspersonal in Kiew ausgedünnt hätten, habe man als Symptom begreifen müssen. Sodann falle ihm die Meldung ein, dass die russische Armee Blutkonserven ins Manövergebiet gebracht habe. „So etwas braucht man bei Manövern eigentlich nicht.“ Vieles spreche für eine „Planung von langer Hand“, meint der Politologe.

Im Ganzen erweist sich Putin in Menzels Analyse als ein Könner in dem Gebiet „hybride Kriegführung“. Gemeint sind Maßnahmen diesseits eines klassischen zwischenstaatlichen Krieges, mit irregulären Truppen, mit Hackerangriffen, mit inszenierten Hilferufen und mit als Manöver getarnten Truppenaufmärschen. „Und nun hat er wieder die Schraube um eine Windung angezogen, hält jedoch dann plötzlich inne, so dass der Westen mehr oder minder ratlos dasteht bezüglich der Frage, wie man darauf zu reagieren hat. Wir haben zwar tagelang behauptet, es wäre alles vorbereitet, aber ich habe den Eindruck: Es ist doch nicht so klar. Auch unter den Nato-Mitgliedern gibt es natürlich unterschiedliche Interessen.“

Ziel: Wieder Führungsmacht werden

Doch worum geht es der russischen Führung letzten Endes? Diese Frage kann laut Menzel nicht ohne einen Blick auf den Zerfall der Sowjetunion beantwortet werden. Das Ziel Putins sei es, die alte Stärke der Sowjetunion um jeden Preis wiederzugewinnen und für die unabhängig gewordenen Gebiete wie die Ukraine, wie die Kaukasus-Republiken oder die baltischen Staaten wieder Führungsmacht zu sein. Das Problem in Menzels Augen: Die wirtschaftliche Stärke Russlands habe vor allem mit Rohstoff-Exporten zu tun, wobei die Bedeutung der fossilen Energien auf lange Sicht abnehmen werde. „Die eigentliche Stärke Russlands, und das ist ein entscheidender Unterschied zu China, beruht heute wieder auf dem militärischen Faktor. Und diese Karte versucht er auszuspielen, um die gesamte Ukraine wieder unter russische Hoheit zu bringen.“

Die baltischen Staaten seien als Mitglieder der Nato in einer anderen Rolle als die Ukraine und die Staaten im Kaukasus, Georgien, Aserbaidschan, Armenien. „Die könnten das nächste Ziel sein.“

Aber was ist mit der Nato-Osterweiterung – Wortbruch oder Vorwand? Aus russischer Perspektive, räumt Menzel ein, sei das mit dem Wortbruch nicht ganz von der Hand zu weisen. Es habe in den westlichen Hauptstädten dann wohl diese Vorstellung gegeben, Russland werde sich langsam, aber sicher „verwestlichen“, werde einen irgendwie bürgerlich-kapitalistischen Weg einschlagen. „Doch das hat es nicht getan“, sagt Menzel, „und das ist aus vielen historisch bedingten Gründen bis auf weiteres auch nicht möglich.“

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