Braunschweig. Corona-Faktencheck: Ist Covid-19 wirklich gefährlicher als die Influenza? Ja, weil der Impfstoff fehlt. Das Problem der Grippe: die hohe Dunkelziffer.

Steigende und sinkende Reproduktionszahlen, Verdopplungszeitraum oder die Zahl der Neuinfektionen, berechnet auf 100.000 Einwohner, für jede Stadt und jeden Landkreis: Auch das ist Corona. Zahlen auf die Deutschland täglich schaut, mal ängstlich, dann wieder hoffnungsvoll – und aus denen politische Maßnahmen erwachsen.

Doch Ungewissheiten bleiben, die Zweifel bei einigen werden offensichtlich größer. Immer mehr Menschen demonstrieren das, indem sie gegen die Corona-Beschränkungen auf die Straße gehen. Sie stellen Fragen – und sie stellen Behauptungen auf, denen es nachzugehen gilt.

Kritische These: Corona ist nicht gefährlicher als die Grippe. Im Gegenteil: Die Zahl der Toten ist geringer.

Wie tödlich ist das Coronavirus? Bei Protesten gegen die Beschränkungen wird die Gefahr, die das Virus besitzt, relativiert. Der Verweis auf die Toten, die durch die saisonale Influenza jedes Jahr in Deutschland sterben, darf dabei nicht fehlen. Auch die Organisatoren der zweiten Anti-Corona-Demonstration in Braunschweig taten dies am Samstag. Sie verwiesen auf die Grippetoten des Jahres 2017/2018. In Deutschland habe es 25.000 Tote gegeben. Die Zahl der Corona-Toten liege weit darunter. Sie schlussfolgern daraus die Unrechtmäßigkeit der Handlungen der Politik, weil trotz fehlenden Impfstoffs die Mortalitätsrate von Covid-19 wesentlich geringer sei. Janine Reinecke, eine der Organisatorinnen der Demo in Braunschweig, erklärt in unserer Zeitung: „Stellt Euch vor, es ist Pandemie, und alle sind gesund. Ich möchte mir nicht mehr gefallen lassen, was hier geschieht.“

Gegenthese: Die Zahl der Coronatoten liegt in Deutschland (Stand vom 10. Mai) laut Robert Koch-Institut (RKI) bei 7395, die Johns-Hopkins-Universität registrierte 7569 Todesfälle (Stand 11. Mai, 15 Uhr). Diese Menschen starben, und dieser Hinweis ist unerlässlich, nicht an Covid-19, sondern in Verbindung mit Covid-19. Der Zusatz trägt der Tatsache Rechnung, dass die allermeisten Menschen, die das Virus nicht überlebten, in Folge der Infektion, aber in der Regel geschwächt von Vorerkrankungen starben. Das ist nicht nur in Deutschland so, sondern laut Weltgesundheitsorganisation WHO weltweit ein Merkmal des Virus. Die WHO nennt das „underlying condition“ und meint damit eine Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes. Sie führt in ihrer Statistik an, dass aktuell 96 Prozent aller Corona-Toten weltweit mindestens eine dieser Beeinträchtigungen aufwiesen. Der Berufsverband der Deutschen Pathologen in Person von Geschäftsführerin Gisela Kempny hatte gegenüber unserer Zeitung hingegen erklärt: „Die meisten Toten haben multimorbide Krankheitsbilder, die Ursache ist aber dennoch Corona.“

Lesen Sie mehr: Zweite Demo gegen Corona-Verordnungen in Braunschweig

Dieser Hinweis sei vorangestellt, bevor man den Blick auf den Vergleich mit Grippetoten richtet. Gab es 25.000 Grippetote 2017/2018 und damit deutlich mehr als aktuell Tote durch Corona? Die Zahl nennt auch das RKI. Die Virologen dort verweisen allerdings darauf, dass es sich dabei um eine Schätzung handelt. Das wiederum verschweigen diejenigen, die sich als kritische Masse einer immer unkritischer und immer staatsgläubiger werdenden Gesellschaft sehen. In dieser Schätzung wird die sogenannte „Übersterblichkeit“ errechnet, die in dieser Grippesaison 2017/2018 außerordentlich hoch war. Das RKI erklärt das Schätz-Verfahren wie folgt: „Die Zahl der mit Influenza in Zusammenhang stehenden Todesfälle wird – vereinfacht dargestellt – als die Differenz berechnet, die sich ergibt, wenn von der Zahl aller Todesfälle, die während der Influenzawelle auftreten, die Todesfallzahl abgezogen wird, die (aus historischen Daten berechnet) aufgetreten wäre, wenn es in dieser Zeit keine Influenzawelle gegeben hätte.“

Das RKI führt demnach für dieses Jahr auch eine von dieser Schätzung bereinigte Statistik. Es handelt sich um die Zahl der Menschen, die durch ein Labortest bestätigt an Influenza gestorben ist. Für die Saison 2017/2018 sind es demnach knapp 1700 Tote.

Das deckt sich mit den landesweiten Angaben des niedersächsischen Gesundheitsamtes, die für unsere Zeitung ermittelt wurden. So starben zwischen der 40. Kalenderwoche 2017 und der 20 KW 2018 „laborbestätigt“ an der Influenza in Niedersachsen 104 Personen, in der Saison davor waren es 35, in der danach 74. Die Sprecherin des Landesgesundheitsamtes, Katharina Kohls, sagt aber auch: „Die Meldungen nach Infektionsschutzgesetz sind für die Einschätzung der Grippeerkrankungen nur bedingt aussagekräftig, weil nur Fälle gezählt werden, bei denen Influenzaviren labordiagnostisch nachgewiesen wurden. Ein Labornachweis wird aber in vielen Erkrankungsfällen gar nicht angestrebt.“ Heißt im Klartext: Die Dunkelziffer bei der Grippe ist vermutlich höher als bei Corona, weil viel weniger getestet wird. Das hat einen guten Grund. Im Gegensatz zur Grippe gibt es bei Corona noch keinen Impfstoff. Das bezweifeln nicht einmal die Kritiker der Corona-Einschränkungen.

Lesen Sie mehr: Die Bedeutung der Reproduktionszahl – und ihre Mängel

Schlussfolgerung und Einordnung: Der Streit um die Zahlen ist ein Streit über die Deutungshoheit. Wie bei der Grippe auch sterben die Menschen eher mit als an Corona. Hier ist man, wie bei der Suche nach einem Impfstoff, ganz am Anfang der Forschung. Für die Statistik entscheidend: Mehr Tests, aber auch mehr Obduktionen, könnten eine klareres Bild zeichnen, wie gefährlich das neu entdeckte Sars-CoV2-Virus wirklich ist. Der Leitspruch der Pathologen, von den Toten für die Lebenden zu lernen, gilt auch hier. Richtig ist aber auch: Wer an Corona stirbt, wird aufgrund der Dringlichkeit der Lage, vermutlich statistisch zuvor als coronainfiziert geführt. Diese wissenschaftliche Durchleuchtung erfährt eine „normale“ Grippewelle nicht.

Gastkommentar zu den selbsternannten Widerständlern 2020

Demos gegen Corona-Regeln- Diese Gruppen stehen dahinter

Coronavirus in Niedersachsen- Alle Fakten auf einen Blick