Braunschweig. Die Dringlichkeit lässt sich oft schon am Telefon klären. Eine 50-Euro-Eintrittsgebühr lehnen viele Mediziner in unserer Region ab.

Die Notaufnahmegebühr führt zu Zwei-Klassen-Patienten und bestraft die, die es sich nicht leisten können. Kein Geld, keine Hilfe?

Das fragt unser Leser Dieter
Samieske aus Peine.

Zu dem Thema recherchierte
Stefan Simon.

Eine Frau wird mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gefahren. Sie hat keinen Herzinfarkt und auch keinen Schlaganfall erlitten. Sie hat Schmerzen im Fuß und dachte sich offenbar: „Mit dem Rettungswagen geht es eben schneller in die Notaufnahme.“

Dieser Fall ist fiktiv, aber so ähnliche Fälle kämen in der Realität immer wieder vor, erzählt Christoph Haedicke, Chefarzt für Notfallmedizin und allgemeine innere Medizin am Klinikum in Braunschweig. „Wer aus Bequemlichkeit den Rettungswagen ruft, statt mit Taxi oder Bus in die Notaufnahme zu fahren, dort aber nicht hin muss, der sollte dafür zahlen“, findet er.

Eine generelle Notaufnahme-Gebühr von 50 Euro, die jüngst von der Bundesvereinigung der Kassenärzte ins Gespräch gebracht wurde, um überflüssige Besuche in Notaufnahmen zu verhindern, lehnt Haedicke jedoch ab. Er teile die Meinung unseres Lesers zwar nicht, dass Leute bestraft würden, die sich die Gebühr nicht leisten könnten. Haedicke hält die Forderung schlicht für überflüssig: „Wir haben bei der 10-Euro-Praxisgebühr gesehen, dass es keine Entlastung gab. Im Gegenteil, der Zulauf wurde größer, und der Verwaltungsaufwand war hoch.“ Es müsse andere Lösungen geben, wie die Notaufnahmen entlastet werden könnten.

Die Verlagerung der Bereitschaftsdienstpraxis in die Notaufnahme kann so eine Lösung sein, wie das Beispiel Braunschweig zeigt. Das war 2015. Ein Jahr später sei der Zustrom zur Notaufnahme rückläufig gewesen, sagt Haedicke. Im September 2017 dann startete in der Klinik ein Modellprojekt: die Notfall-Triage-Praxis. Das zunächst auf drei Jahre angelegte Projekt ist mit zwei Ärzten und zwei Ärztinnen an Werktagen für jeweils einige Stunden besetzt.

Die Entlastung ist spürbar

Die Allgemeinmediziner wurden eingestellt, um Patienten zu behandeln, die mit ihren leichten Beschwerden auch in eine Hausarztpraxis hätten gehen können. Von den Patienten werde die Praxis gut angenommen, sagt Haedicke. „Auch die Pflegekräfte spüren eine Entlastung. Wenn es so weitergeht, würde ich mich freuen, wenn die Praxis nach drei Jahren weitergeführt wird“, sagt Haedicke.

Die Bilanz sei positiv, findet auch Thorsten Kleinschmidt, Vorsitzender der Braunschweiger Bezirksstelle der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen. Seitdem das Modell laufe, sei die Zahl der ambulanten Fälle in der Notaufnahme um 25 Prozent zurückgegangen. Für Kleinschmidt und Haedicke ein Projekt für die Zukunft, nicht nur für Braunschweig, sondern für die gesamte Region.

Doch es gebe noch weitere Lösungen, die schneller umzusetzen seien – jedenfalls in der Theorie. Kleinschmidt plädiert etwa für denAusbau des Bereitschaftsdienstes unter der Rufnummer 116 117. Der telefonische Dienst hilft, wenn die Arztpraxis geschlossen hat. Bereits am Telefon könnten Beschwerden beschrieben und von Medizinern beurteilt werden. So lasse sich vorab klären, ob der Gang zur Notaufnahme notwendig sei. Es gebe aber auch Apps. „Man gibt seine Beschwerde ein und die App zeigt drei Prioritäten an, welche Erkrankung man haben könnte.“

Wenn alle drei Ansätze die vollen Flure in den Notaufnahmen nicht verhindern können, dann befürwortet Kleinschmidt als letzte Lösung eben doch die Gebühr von 50 Euro. Er nennt das „steuernde Selbstbeteiligung“. „Die vollen Notaufnahmen werden immer schlimmer. Wer wegen eines Schnupfens in die Notaufnahme geht, sollte zahlen. In der Schweiz ist es völlig normal, dass die Fahrt im Rettungswagen der Patient selbst zahlen muss, insofern er kein Fall für die Notaufnahme ist.“ Allerdings sollte eine Eintrittsgebühr sozial abgefedert werden.

Für die Notaufnahme "Eintritt" bezahlen?

Christine Trowitzsch, Regionalleiterin der Helios-Kliniken in unserer Region, sieht es dagegen ähnlich wie unser Leser Dieter
Samieske: „Eintrittsgelder für Notaufnahmen sehen wir kritisch.Der Zugang zu Notaufnahmen würde damit nicht mehr über die medizinische Notwendigkeit, sondern über die finanziellen Mittel des Patienten geregelt.“

Um Patienten nach ihrer Dringlichkeit zu selektieren, arbeitet das Team der Notaufnahme des Helios-Klinikums Gifhorn um Chefarzt Stefan Sudmann mit dem Manchester-Triage-System. „Bei der Ersteinschätzung der Ärzte werden Patienten bevorzugt, deren medizinische Behandlung notwendiger ist“, sagt Trowitzsch.

In der Notaufnahme in Gifhorn gebe es auch mehrere Räume für eine Bereitschaftspraxis der Kassenärztlichen Vereinigung. In der Helios-St.-Marienberg-Klinik in Helmstedt ist direkt an der zentralen Notaufnahme eine Bereitschaftspraxis.

Obwohl beide Kliniken über einen Bereitschaftsdienst verfügen, stieg die Zahl der Patienten in der Notaufnahme. In Gifhorn werden jährlich rund 21 829 Menschen versorgt. „Das waren 2017 rund 2,5 Prozent mehr als 2016“, sagt Trowitzsch. In Helmstedt stieg die Anzahl der Patienten sogar um 14 Prozent. Dort wurden im vergangenen Jahr etwa 23 000 Patienten versorgt.

Selbst die Notfall-Triage-Praxis und der Bereitschaftsdienst in der Notaufnahme in Braunschweig konnte an dem erhöhten Zulauf nichts ändern, auch wenn die Zahl der ambulanten Patienten wie bereits erwähnt rückläufig ist.

Warum ist das so? Thorsten Kleinschmidt nennt Gründe. Zum einen würden einige Ausländer kein anderes System kennen. „Einen Bereitschaftsdienst gibt es in vielen Ländern nicht. Dort gehen die Patienten direkt ins Krankenhaus.“

Zum anderen seien heute viele Menschen in Bezug aufs eigene Grundgesundheitswissen stark verunsichert. Früher, als nicht zuallererst Dr. Google konsultiert wurde, habe man noch stärker auf den eigenen Körper gehört. Wenn ein Patient mit Kopfschmerzen und Schweißausbrüchen zu Kleinschmidt gekommen sei, habe er ihn eben krankgeschrieben, erzählt der Arzt.

Neulich erst habe ihn ein Patient besucht, der unsicher und sogar ängstlich erzählt habe, dass Rücken und Kopf schmerzten und die Nase laufe. Er erklärte, dass er sich sehr, sehr krank fühle. Kleinschmidt habe ihn dann untersucht und festgestellt, dass sich der Patient lediglich eine leichte Erkältung zugezogen habe.