Braunschweig. Ein Rechtsanwalt aus dem Kreis Gifhorn legt das dortige Jobcenter lahm. Er klagt massenhaft gegen Bescheide.

Ein Leser, der sich Advokat nennt, fragt auf unseren Internetseiten:

Wie kann es sein, dass sich Juristen durch Hartz IV so ein großes Geschäftsfeld bietet?

Beim Jobcenter (JC) in Gifhorn waren im April 3992 Klagen aufgelaufen. 80 Prozent davon stammen von Anwalt Günter Wellnitz.
Beim Jobcenter (JC) in Gifhorn waren im April 3992 Klagen aufgelaufen. 80 Prozent davon stammen von Anwalt Günter Wellnitz. © Erwin Klein

Die Mitarbeiter des Jobcenters in Gifhorn trauen an diesem Montagmorgen ihren Augen kaum: Der Boden in dem Raum, in dem ein Faxgerät steht, ist übersät mit Faxen. Es sind 630 Stück. Alles Widersprüche gegen Hartz-IV-Bescheide. Alle von einem Rechtsanwalt: Günter Wellnitz aus Wesendorf.

Der Jurist legt das ganze Jobcenter lahm, wie Behördenchef Wilfried Reihl sagt. „Wellnitz ist aus dem Ruder gelaufen, er belastet unsere Abläufe.“ Wegen Wellnitz ist das Klagevolumen des Jobcenters so groß wie das von ganz Rheinland-Pfalz, so Reihl. „Das ist nicht mehr normal.“

Dabei sind die Rechtspraktiken von Wellnitz nicht unerlaubt, weiß der Journalist und Jurist Joachim Wagner. Der Buchautor hat das Geschäft mit Hartz IV untersucht. Er sagt: „Die Hartz-IV-Gesetze sind schlecht gemacht, bieten Platz für Ermessensentscheidungen. Für jeden Rechtsanwalt gibt es ein potenzielles Ausbeutungspotenzial. Deshalb haben wir so viele Klagen vor den Sozialgerichten.“

Anwälte könnten eine Menge an formalen Rechtspositionen ausnutzen. „Und das ohne Kostenrisiko für die Kläger“, sagt Wagner. Wenn die Anwälte vor Gericht gewinnen, zahlt das Jobcenter. Verlieren sie, zahlt die Justizkasse.

Weil der Gesetzgeber regelmäßig Änderungen an den Hartz-IV-Gesetzen vornimmt, ist die Fehlerquote der Jobcenter dementsprechend hoch. „Und weil die Verfahren teilweise sehr lange dauern, gibt es zwischen Jobcenter-Bescheid und Urteilen der Sozialgerichte manchmal schon wieder eine ganz andere Rechtslage“, sagt Wagner.

Er hält es für notwendig, dass Anwälte Mandanten unterstützen. „Das kann aber missbraucht werden. Das geschieht bei Anwälten, die das fabrikmäßig machen – wie Wellnitz“, meint Wagner.

Diese Anwälte gucken laut Wagner ganz genau darauf, wann Fristen ablaufen und erheben systematisch Untätigkeitsklagen, weil Jobcenter Fristen aufgrund der Masse der Widersprüche nicht einhalten können. Jedes Jobcenter „ernähre“ so Anwälte.

Wagner: „Solche Klagen kann man ohne jede Begründung einreichen. Da reicht ein Satz, ein Stempel oder ein Kreuz an der richtigen Stelle. Jobcenter und Sozialgerichte sind verpflichtet, den Sachverhalt zu ermitteln und die Rechtslage zu prüfen. Die eigentliche Arbeit machen also Jobcenter und Sozialgerichte.“ Jobcenter würden so von ihrer eigentlichen Arbeit, der Arbeitsvermittlung, abgehalten.

Diesen Eindruck bestätigt Reihl vom Gifhorner Jobcenter. „Wellnitz nutzt die Lücken ganz individuell. Er überprüft gar nicht mehr.“ Schriftstücke des Jobcenters an seine Mandanten würde Wellnitz einfach mit einem handgeschriebenen „Widerspruch“ versehen und zurückfaxen.

In der Anfangszeit der Hartz-IV-Gesetze habe seine Behörde noch viele Fehler gemacht. „Mittlerweile haben wir eine gute Qualität“, beteuert Reihl. „Gegen Wellnitz sind uns aber die Hände gebunden.“ Für Reihl verfährt er nach dem „Schrotflintenprinzip“: „Er feuert los und hofft, dass er einen Treffer landet.“

Reihl sagt, dass Wellnitz seine Pflicht als Anwalt missbrauche. „Kunden teilen uns mit, dass sie Wellnitz gar nicht explizit den Auftrag für eine Klage gegeben haben.“ Er lasse sich eine pauschale Vollmacht erteilen. Die Mandanten seien oft überrascht, was Wellnitz daraus mache. Reihl: „Kunden, die ihren Widerspruch oder die Klage zurückziehen wollen, droht Wellnitz zuweilen mit einer Schadenersatzklage.“ Reihl kommt zu dem Schluss: „Wellnitz handelt nicht zum Wohle seiner Mandanten.“ Das Termingeld beim Gericht sei ihm wichtiger.

Wellnitz wollte sich nicht zu seiner Klagestrategie äußern. Swen Walentowski, Sprecher des Deutschen Anwaltvereins, verteidigt Wellnitz. „Es muss jemanden geben, der sich für die Hartz-IV-Empfänger einsetzt. Es ist egal, ob es sich bei den Klagen um 7,50 Euro oder um 750 Euro dreht.“ Walentowski schränkt aber ein: „Schwierig wird es, wenn ein Anwalt massenhaft klagt und die Klagen inhaltlich nicht gründlich prüft. Das rückt die Leistung der vielen engagierten Anwälte im Sozialrecht in ein falsches Licht.“

Die Spannbreite bei den Gebühren für die Anwälte reicht von 60 bis 320 Euro. „Der Trick der Hartz-IV-Anwälte, die das fabrikmäßig machen, ist die Masse. Solche Anwälte können auf einen Stundenlohn von rund 200 Euro kommen“, sagt Autor Wagner.

Der Journalist betont aber, dass es viele engagierte Anwälte gebe, die kompetent sind im Sozialrecht und wertvolle Arbeit leisteten. Andere würden das System der Anfälligkeiten und der Kostenübernahme schamlos ausnutzen.

Beim Sozialgericht in Braunschweig laufen Wellnitz‘ Klagen auf. Während Reihl vom Jobcenter Wellnitz‘ Erfolgsquote auf unter zehn Prozent schätzt, kann Rainer Schmiedl, Direktor des Sozialgerichts Braunschweig, dies nicht bestätigen. „Wir führen keine Statistiken für einzelne Anwälte.“ Es sei aber so, dass Wellnitz ab und zu Erfolg habe. „Es gibt genug Fehlerquellen im Sozialrecht. Die Materie ist kompliziert, dafür gibt es uns“, so Schmiedl.

Über Wellnitz will Schmiedl nicht viel sagen. Er verweist auf die Funktion des Gerichts. „Wir müssen objektiv prüfen, wer Recht hat, mehr nicht.“ Dann sagt Schmiedl doch einen Satz, der erahnen lässt, was er von Wellnitz‘ Arbeitsweise hält: „Das sind Klagen, die das Prozessrecht hergibt. Viele andere Anwälte arbeiten aber sicherlich anders.“

Was muss passieren? Wagner schlägt vor, dass nicht mehr jeder Bagatellbetrag eingeklagt werden dürfe. „Im Augenblick ist in der öffentlichen Debatte strittig, ob zum Beispiel 10 oder 20 Euro zulässig sein sollen“, sagt Wagner.

Das Jobcenter Gifhorn wird bis dahin mit Widersprüchen und Klagen von Wellnitz eingedeckt. Das Archiv, dass das Jobcenter eigens angelegt hat, wird anwachsen, und die zwei Mitarbeiter, die wegen Wellnitz extra eingestellt wurden, werden auch weiterhin alle Hände voll zu tun haben.

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