Gifhorn. Mitglieder stecken das Anti-Regenbogen-Blatt in Briefkästen. Die Staatsanwaltschaft Hildesheim prüft auf strafrechtliche Relevanz.

Auf scharfe Kritik von Experten und Gleichstellungsbeauftragten stößt ein Flyer der Alternative für Deutschland, der in reißerischer und diffamierender Weise Minderheiten diskriminiert. Leiferder Bürger hatten den bunten Flyer zuerst im Briefkasten, nun unter anderem auch die in Westerbeck. Bunt ist er, weil er mit lauter Regenbogen-Flaggen bestückt ist, über die die Urheber herziehen. Unter dem Motto „Kindheit unterm Regenbogen“ und einer Piktogramm-Familie, die sich mit einem Regenschirm vor den Farben schützt, machen die Urheber Front gegen die gesamte queere Szene und setzen sie in Zusammenhang mit pädophilen Straftätern, Genitalverstümmelungen und „Doktorspielräumen in Kitas“.

„Das Regenbogen-Regime regiert!“, heißt es gleich zu Anfang. Und unter diesem sei es „Staatsdoktrin“, dass „Kleinkinder Masturbieren lernen“, so der Verfasser - nach eigenen Angaben der AfD-Landesverband Niedersachsen. Aus den Kitas seien „verstörende Sexualkonzepte geleakt“, Kinder würden „zu Sexspielen animiert“. Welche Eltern schrecken bei solchen Sätzen nicht in Sorge um ihre Kinder auf? Genau das nutzt der Flyer und ruft Mütter und Väter auf, die Kita oder deren Träger mit Fragen nach einem Sexualkonzept zu konfrontieren.

Gifhorner Kitas stehen unter Generalverdacht, Pädophile „einzuladen“

Die AfD geht noch weiter und stellt die Kitas unter Generalverdacht, „Fremde Männer“ im „intensiven Körperkontakt“ mit den Kindern rangeln zu lassen. Das sei nicht nur eine Einladung für Pädophile, sondern da werde Pädophilie auch legalisiert. Auch vorlesende Drag-Queens prangert die AfD an, diese „Trans-Aktivisten“ „bräuchten“ Kinder. Dazu eine Logo-Parade, nach der es ausschließlich zwei Geschlechter gebe, nichts dazwischen und keine „sozialen Konstrukte“.

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Der Flyer wird noch garniert mit ein paar quellenlosen Fakten zu Risiken einer Transgender-OP, zu Erkennungszeichen von Pädophilen, mit Bildern der AfD-Landtagsabgeordneten Vanessa Behrendt und Peer Lilienthal (wobei unklar bleibt, ob diese die Verfasser sind oder nur zum Spenden aufrufen) und mit einer Zusammenfassung: Nach der stehe die Regenbogenfahne der queeren Szene für all das, was der Flyer anprangert - von „Frühsexualisierung“ über „Leugnen von Biologie“ bis „Männer in Damensaunas“.

Gifhorner Gleichstellungsbeauftragte sehen darin „massiven Angriff auf Minderheit“

Auf Nachfrage unserer Zeitung haben die vier hauptamtlichen Gleichstellungsbeauftragten im Kreis Gifhorn, Verena Maibaum (Landkreis), Rukiye Cankiran (Papenteich), Barbara Haferkamp-Weber (Meinersen) und Sevdeal Erkan-Cours (Stadt Gifhorn), ein gemeinsames Statement zu diesem Flyer verfasst: „Die AfD stellt in ihrem Flyer sehr komplexe Sachverhalte zu einfach dar, ohne entsprechende Zusammenhänge und ohne Lösungsansätze zu liefern. Sie greift damit massiv eine gesellschaftliche Minderheit an, die ... unseren Schutz und unseren Support benötigt. Dabei nutzt die AfD in ihrem Flyer bewusst Angst von Eltern und hetzt mit Warnungen vor Pädophilen gegen die Regenbogenbewegung.“

Vivien Hoppe, die Fachberaterin und pädagogische Leiterin des Queeren Netzwerks sieht in dem Flyer „eine große Gefahr“: Durch Falschdarstellungen, Panikmache und der Verbindung zu Pädophilie „wird von rechts ein grober Schwung zur queeren Szene gezogen“.

Fachberaterin im Queeren Netzwerk: Kinder sollen nein sagen dürfen

Da werde beim Leser auch automatisch der Gedanke provoziert, Männer in Kitas könnten pädophile Neigungen haben. „Aus guten Gründen ist das Konzept des ‚Original Play‘ (Kuscheln mit Fremden) vielerorts verboten.“ Der Flyer stellt es aber auf die gleiche Stufe von „Körpererkundungsräumen“. An Sexualkonzepten in Kitas gebe es nichts „zu leaken“ (zu enthüllen): „Die sind eine gute Errungenschaft! Das sind Schutzkonzepte gegen Gewalt.“ So lernten die Kinder, dass sie nein sagen dürfen und sollen, wenn sie nicht berührt werden möchten. Der Flyer verbreite mit falschen Zusammenhängen Angst unter Eltern und vergifte das Verhältnis von Eltern und Erziehern in Kitas.

Auch von der im Flyer genannten pädophile „MAP“-Bewegung habe sich die queere Szene längst klar distanziert. „Ich habe davon das letzte Mal vor fünf Jahren gehört. Unsere Netzwerke machen Aufklärungsarbeit dazu“, sagt Hoppe. Obendrein stigmatisiere der Flyer alle Drag-Queens: „Deren Kunst wird hier gleichgesetzt mit Transsexualität, zudem werden sie als pädophil dargestellt. Wenn eine Drag-Queen Kindern aber etwas vorliest, dann ist das so als würde dies ein verkleideter Clown oder der Weihnachtsmann tun.“ Und Bücher, die Geschlechtsidentitäten zum Thema haben, hätten noch nie geschadet oder verunsichert: „Ich werde ja auch kein Baum oder grün, weil ich etwas über Photosynthese lerne.“

Gifhorner Expertin: Regenbogenfahne steht für Vielfalt und Toleranz

Wissenschaftlichen Konsens, wie dass es mehr als nur zwei Geschlechter gibt, widerspreche der Flyer ohne jegliche Quellen, sagt Hoppe. Die gezeigte Regenbogenfahne (Progress-Pride-Flag) stehe mit Sicherheit eben nicht für „Genitalverstümmelung“ und das Leugnen von Biologie, sondern für Vielfalt, den Schutz von Minderheiten und Toleranz. Mit Begriffen wie „Genitalverstümmelungen“ würden ebensolche bei bestimmten Ethnien bagatellisiert und medizinische Eingriffe herabgewürdigt, die Menschen vor dem Suizid bewahren können.

Hetze gegen eine gesellschaftliche Minderheit, hat das vielleicht sogar strafrechtliche Relevanz? Christoph Nowak, der Sprecher der Polizeiinspektion Gifhorn, wollte dazu noch kein Statement abgeben. Eine Rückmeldung gab er Anfang dieser Woche dennoch: „Der Flyer ist zur Prüfung an die Staatsanwaltschaft Hildesheim weitergeleitet worden.“ Eine Einschätzung erwarte er von dort im Laufe dieser Woche.

Gifhorns AfD-Kreisvorsitzender gibt keine konkrete Antworten

Letztlich haben wir auch den AfD-Kreisvorsitzenden und Landtags-Fraktions-Chef Stefan Marzischewski-Drewes mit den oben genannten Vorwürfen zum Flyer und mit zehn Fragen konfrontiert. Nicht eine einzige davon beantwortet er konkret: zum Beispiel wie viele Flyer wurden in welchen Orten in wessen Auftrag verteilt? Wer hat ihn verfasst? Warum ignoriert er wissenschaftliche Erkenntnisse? Halten Sie medizinische Eingriffe für „Genitalverstümmelungen“? Und halten Sie Drag-Queens für pädophil? In zwei Antworten verneint er die Vorwürfe und ignoriert die Fragen nach dem Warum: Warum will die AfD unter Eltern die Angst schüren, ihre Kinder seien in Kitas von Pädophilen bedroht? Und warum greift der Flyer gesellschaftliche Minderheiten an, mit welchem Ziel, wenn die AfD sonst immer die Grundrechte hochhält?

Dennoch werden im Statement einige Grundmotive der AfD für den Flyer klar: Die AfD stehe für den „Schutz der Familien und unserer Kinder“, aber die Entwicklung der Kinder solle eben „ohne Rot-Grüne Indoktrinierung und Infragestellung des Geschlechts im Kindesalter“ stattfinden. Die von unserer Redaktion nachgefragten Quellenangaben brauche der Flyer nicht: „Der AWO Skandal in Hannover sollte Quelle genug ... sein“, so Marzischewski-Drewes. Als Hintergrund: Einen Fall eines angekündigten „Körpererkundungsraums“ hatte das Landesjugendamt bereits im Vorfeld untersagt. Aus dem Alleingang einer Kita-Leitung macht der Gifhorner AfD-Chef nun die „Spitze des Eisberges“, zur der die AfD „täglich Nachrichten besorgter Eltern, die Kinder in Kitas und Schulen haben,“ erreichten. Die halte er für „mehr als berechtigt“.

AfD will das Thema Sexualität in Kitas tabuisieren

Auf die Frage nach wissenschaftlichen Fakten kontert der Landtagsabgeordnete mit der „Tatsache“, dass auch „rot-grüne Genderideologen“ nicht leugnen könnten, von einer Mutter geboren zu sein. Warum die AfD unter Eltern Angst schüre? „Kitas sollen erziehen und nicht rot-grüne Regenbogenideologien verbreiten.“ Kinder seien Kinder und sollten spielen und toben, sowie „altersentsprechend ohne Einwirkungen oder Steuerung von außen sich entwickeln können“. Die „Grundthematik Sexualität“ sei aber tabu, sowohl „spielerisch“ als auch „aktiv ausführend“.

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