Brüssel. Geheimoperation Wiederwahl: Mit Emmanuel Macron hat die EU-Kommissionschefin schon beraten. Ihre Bilanz, Chancen und Schwachstellen.

Ursula von der Leyen hat dem französischen Präsidenten viel zu verdanken. Emmanuel Macron war es, der sie 2019 überraschend für das Amt der EU-Kommissionspräsidentin vorschlug und ihr den Weg nach Brüssel ebnete – nachdem Macron den Europa-Politiker Manfred Weber per Veto aus dem Rennen gekegelt hatte. Jetzt ist Macron wieder gefragt, wenn es um die Zukunft von „Chère Ursula“ geht. Er ist einer der ersten, mit dem die mächtigste Frau Europas den nächsten Coup bespricht: Die geheime Operation Wiederwahl.

Tritt von der Leyen 2024 noch einmal als Kommissionspräsidentin an – um zu erreichen, was nur 3 ihrer 13 Vorgänger im Präsidentenamt vergönnt war, eine zweite Amtszeit an der Spitze der Kommission? Beim Lunch im Elysee-Palast haben die beiden vor kurzem vertraulich über diese Frage gesprochen, wie aus dem Umfeld Macrons durchsickert. Von der Leyen hat demnach unter vier Augen Gerüchte ausgetreten, dass sie im Herbst ins Amt des Nato-Generalsekretärs wechseln könnte. Kein Interesse.

Dafür habe sie das Thema zweite Amtszeit als Kommissionschefin angesprochen und mit Macron über ein entsprechendes Arbeitsprogramm für die Zukunft diskutiert, heißt es.

Die Präsidentin der Europäischen Kommission in Brüssel ist Europas mächtigste Frau. Ursula von der Leyens Amtszeit endet im November 2024.
Die Präsidentin der Europäischen Kommission in Brüssel ist Europas mächtigste Frau. Ursula von der Leyens Amtszeit endet im November 2024. © dpa | Philipp von Ditfurth

Ursula von der Leyen: Schon ihr Vater arbeitete für Europa

Das passt nicht so ganz zu ihrer offiziellen Erklärung, eine Mandatsverlängerung sei aktuell kein Thema, sie selbst überlege noch. Als von der Leyen kurz nach dem Tête-à-tête mit Macron zu Gast im CDU-Präsidium in Berlin ist, erklärt sie an der Seite von Parteichef Friedrich Merz zu ihren Ambitionen, es sei „noch nicht der richtige Zeitpunkt, diese Frage zu beantworten“.

Allerdings: Auch in Brüssel gab es da längst Hinweise zuhauf, dass von der Leyen weitere fünf Jahre, bis ans Ende des Jahrzehnts, die Europa-Politikerin Nummer eins bleiben möchte. Politiker, Diplomaten und Beamte, die ihr begegnen, haben den Eindruck, dass sie will. „Sie brennt für die Aufgabe“, sagt ein hoher Kommissionsbeamter.

Das Präsidentenamt, das sie zu einer Art EU-Regierungschefin macht, ist auch Familienauftrag: In ihrem Büro im 13. Stock der Kommissionszentrale hat von der Leyen eine Schwarz-Weiß-Fotografie aufhängen lassen, die ihren Vater Ernst Albrecht bei einer Sitzung der Europäischen Montanunion Mitte der 50er Jahre zeigt, zusammen mit Kanzler Konrad Adenauer.

Albrecht begann seine Karriere in Vorläufer-Organisationen der EU, stieg bis zum Generaldirektor bei der Europäischen Gemeinschaft auf. So kam von der Leyen in Brüssel zur Welt, ging dort zur Schule. „Ich bin eine geborene Europäerin“, sagt sie.

Nur die in Brüssel verbreitete Freude an guter Küche und feinen Weinen, die ihre Amtsvorgänger zu schätzen wussten, blieb ihr fremd. Auch Kritiker bescheinigen der Präsidentin ein immenses Arbeitspensum. Sie verlässt oft erst spätabends das Büro und geht zum Schlafen nur ein paar Schritte weiter in ein eigens für sie eingerichtetes Appartement, dessen aufwendige Umbauten 72.000 Euro kosteten.

Offene Fragen zum Milliarden-Deal für Biontech-Impfstoff: Von der Leyen schweigt

Von der Leyens Bilanz gilt als gut, makellos ist sie nicht. Das Krisenmanagement – erst Corona-Pandemie, dann Ukraine-Krieg und Energiekrise – hat ihr geholfen, die Macht der EU-Kommission auszubauen. Auf der Habenseite steht von der Leyens Einsatz für den Klimaschutz mit dem Green Deal.

In der Corona-Krise agierte die Präsidentin anfangs zu zögerlich, später zu forsch: Die Umstände, unter denen die Behördenchefin einen gigantischen 30-Milliarden-Deal für Biontech-Impfstoff gegen die Verfahrensregeln persönlich mit Pfizer-Chef Albert Bourla einfädelte, sind noch nicht aufgeklärt, von der Leyen schweigt.

Regierungschefs in Osteuropa sind bis heute empört über Vertragsklauseln und den Preis für Impfstoff, den niemand mehr braucht.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron begrüßt die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, im Elysee-Palast in Paris. Beim anschließenden Mittagessen sollen die beiden auch über eine zweite Amtszeit von der Leyens gesprochen haben, heißt es in Macrons Umfeld. Der Initiative des französischen Präsidenten hat von der Leyen ihr Amt zu verdanken, ihr Verhältnis gilt als eng.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron begrüßt die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, im Elysee-Palast in Paris. Beim anschließenden Mittagessen sollen die beiden auch über eine zweite Amtszeit von der Leyens gesprochen haben, heißt es in Macrons Umfeld. Der Initiative des französischen Präsidenten hat von der Leyen ihr Amt zu verdanken, ihr Verhältnis gilt als eng. © dpa | Ludovic Marin

Anerkennung hat sich von der Leyen mit ihrem entschlossenen Vorgehen in der Ukrainekrise erworben. Dies und ihr kritischer Kurs gegenüber China festigten den guten Draht nach Washington, auf den von der Leyen gern verweist.

Die öffentliche Wirkung, der effektvolle Auftritt zählten bei ihr aber mitunter mehr als die Substanz, ist ein Vorwurf von Kritikern. „Ursula von der Leyen ist eine Verwandlungskünstlerin“, sagt der Sprecher der deutschen Grünen im EU-Parlament, Rasmus Andresen, unserer Redaktion. „Sie hat es geschafft, politische Stimmungen aufzugreifen und nach der Wahl Klimapolitik zu einer EU-Priorität zu machen. Wenn es allerdings darum geht, konkrete Projekte auch gegen Widerstand durchzusetzen, schwächelt Frau von der Leyen.“

Von der Leyen: Kritik von der Linken, Lob aus den eigenen Reihen

Der Linken-Fraktionschef im EU-Parlament, Martin Schirdewan, sagt: „Niemand braucht im Amt der mächtigsten Europäerin eine Person, die fünf weitere Jahre ihren Titel der Ankündigungsweltmeisterin erfolgreich verteidigen wird und dann noch mit den Stimmen von Rechten aus Italien, Spanien oder Ungarn gewählt wurde.“

Von der Leyen habe auch in Brüssel weiter Beraterfirmen beauftragt, die Konzerninteressen verfolgten und sich nicht um die Sorgen der EU-Bürger kümmerten.

Der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke hatte von der Leyen vor zwei Jahren scharf attackiert und geklagt, sie werde ihrem Führungsanspruch nicht gerecht, heute befürwortet er eine zweite Amtszeit: „Ich habe sie zu Beginn ihrer Amtszeit deutlich kritisiert, aber sie hat diese Kritik aufgenommen und ernst genommen.“ Als Sozialpolitiker freue ihn, dass die Präsidentin bei diesen Themen „oft mit an der Spitze der Bewegung steht.“

Von der Leyen: Das ist der Weg zu einer zweiten Amtszeit

Positiv ist das Urteil auch in der Bundesregierung. Die Zusammenarbeit sei sehr gut, heißt es im Kanzleramt. Dabei tut von der Leyen viel – manche meinen zu viel – um nicht als Interessenvertreterin Deutschlands wahrgenommen zu werden. Aber die Spitzen in Brüssel und Berlin sind miteinander vertraut, kennen die roten Linien, sagt ein Minister. „Das hilft, Probleme vernünftig zu klären“.

Die Ampel-Koalition wird der Christdemokratin keine Steine in den Weg legen, wenn sie nach der Europawahl im Juni 2024 die Chance auf eine zweite Amtszeit hat. Erwartet wird, dass von der Leyen zunächst auf der Liste der Niedersachsen-CDU für einen Sitz im EU-Parlament kandidiert und im Januar von den europäischen Christdemokraten der EVP zur Spitzenkandidatin ausgerufen wird.

Doch die Hürden sind hoch: Im EU-Rat der Mitgliedstaaten hat von der Leyen starke Gegner – Polen und Ungarn vor allem – die ihr Veto gegen eine zweite Amtszeit einlegen könnten. Und auch die Mehrheit im EU-Parlament ist nicht sicher: Während von der Leyen ein breites Bündnis der Mitte-Parteien braucht, fordern nun ihre Christdemokraten mehr Rücksicht auf die Parteilinie.

Konservative werfen ihr zu große Nähe zu Grünen und Sozialdemokraten vor, aktuell ist die Agrarpolitik ein Ärgernis. Als EVP-Chef Manfred Weber im Interview mit unserer Redaktion erklärte, neben von der Leyen wäre auch Parlamentspräsidentin Roberta Metsola eine gute Spitzenkandidatin, war die Warnung klar: Von der Leyen soll sich nicht zu sicher sein, sie braucht die EVP.

Verdächtig ist vielen Christdemokraten auch, dass ihre Parteifreundin ein so enges Verhältnis zum liberalen Macron pflegt. Bislang zeigt sich von der Leyen davon unbeeindruckt. Aber die Operation Wiederwahl hat auch erst begonnen. Auch interessant: Neue Debatte um Fahrverbote: Das hat gerade noch gefehlt!