Kiew. Andrij Melnyk, Ex-Botschafter der Ukraine in Deutschland, über den Erwartungsdruck der Verbündeten - und was ihn wirklich wütend macht.

Andrij Melnyk, der frühere Botschafter der Ukraine in Deutschland, kommt aus dem Auswärtigen Amt in Kiew und schlägt den Kragen seines Mantels hoch. Es ist frisch und grau in diesen Tagen. Seit seiner Rückkehr ist er im Außenministerium zuständig für Nord- und Südamerika. Der Weg ins Café „Musse“ zum Interview führt vorbei an der Gedenkwand für die Gefallenen seit 2014. Sie wird immer größer. Andrij Melnyk schaut sich die Gesichter auf den Fotos immer wieder an. Er spricht über die erwartete Gegenoffensive der Ukrainer und ärgert sich über den enormen Erwartungsdruck der Verbündeten.

Herr Melnyk, in den kommenden Wochen wird dem Beginn der ukrainischen Gegenoffensive gerechnet. Wie wichtig ist diese Militäroperation?

Andrij Melnyk: Sie ist sehr wichtig für alle Menschen in der Ukraine. Diese Offensive ist so etwas wie ein Hoffnungsstreifen. Wir glauben, dass wir mit der Hilfe unserer westlichen Verbündeten in der Lage sind, die besetzten Gebiete zu befreien. Das ist kein Wunschdenken, wie manche glauben. Im letzten Jahr hat die ukrainische Armee bewiesen, dass sie größere Regionen freikämpfen kann wie in Charkiw. Es wird natürlich nicht einfach werden, weil die Russen sich seit Monaten gut vorbereitet haben. Es darf nicht schief gehen.

Der Erwartungsdruck seitens der westlichen Partner ist hoch. Was geschieht, wenn die Offensive scheitert?

Melnyk: Uns wird der Eindruck gemacht, wir hätten nur diesen einen Schuss und wären gezwungen, zu verhandeln, wenn es missglückt. Den sofortigen Erfolg als Vorbedingung für weitere Unterstützung unserer Partner herbeizuwünschen, ist zynisch und ungerecht. Militärische Hilfe wird uns zu langsam und nur in Portiönchen gewährt, aber man erwartet von uns gleich einen großen Wurf, einen prompten Triumph. Das ärgert mich sehr. Die Frontlinie ist über 1300 Kilometer lang. Man sieht in Bachmut wie schrecklich mühselig dieser Krieg ist. Seit neun Monaten wird dort um jedes Haus gekämpft.

Haben Sie oder andere Mitglieder der ukrainischen Regierung deswegen Angst vor dem, was in den nächsten Wochen geschehen wird?

Melnyk: Es macht mich eher nachdenklich und wütend, dass wir mit diesem Erfolgsdruck in eine Ecke gedrängt werden. Es gibt ja keine Garantie auf Durchbruch. Wir bräuchten sicherlich noch viel mehr Ausrüstung, es müssten zusätzliche Verbände hinreichend trainiert werden, um diese Mammutaufgabe zu lösen. Es geht nicht nur darum, einige Siedlungen zu befreien, sondern wirklich vorweisen zu können, für unsere Gesellschaft und unsere Partner: we can make it!

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Was wäre denn für Sie ein Erfolg der Gegenoffensive?

Melnyk: Ein erster Erfolg wäre sicherlich, wenn wir die Russen in bestimmten Bereichen viele Kilometer zurückdrängen könnten. Wir erleben praktisch seit einem halben Jahr einen brutalen, blutigen Stellungskrieg. Wenn wir da einiges in Bewegung setzen könnten, zeigen könnten, wie fragil die Lage für die Russen ist, auch auf der Krim, würde das Vieles zu unseren Gunsten verändern.

Andrij Melnyk, ehemaliger Botschafter der Ukraine in Berlin, betrachtet die Fotos der Gefallenen am Mahnmal in Kiew. Der Krieg dauert an, es sind seit 2014 viele Fotos hinzugekommen.
Andrij Melnyk, ehemaliger Botschafter der Ukraine in Berlin, betrachtet die Fotos der Gefallenen am Mahnmal in Kiew. Der Krieg dauert an, es sind seit 2014 viele Fotos hinzugekommen. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Sie glauben an den Erfolg?

Melnyk: Oh ja! Als Christ glaube ich an Wunder. Es gab schon viele wahre Mirakel in diesem Krieg. Anfangs war es ein Wunder, dass Kiew in den ersten Kriegswochen verteidigt werden konnte und dass unser Staat überhaupt erhalten geblieben ist. Es gab das Wunder der Befreiung von Cherson.

Die Erwartungshaltung der westlichen Partner ist das Eine. Das Andere ist die Erwartungshaltung der ukrainischen Bevölkerung. Wie würden die Menschen in der Ukraine reagieren, wenn die Offensive nicht erfolgreich verläuft? Bliebe der Wille zum Widerstand?

Melnyk: Ich glaube schon. Ich spüre im Moment keinen Drang zu einem Frieden um jeden Preis. Wenn wir militärisch wenig vorweisen könnten, hätten wir in möglichen Verhandlungen ohnehin schwache Trümpfe in der Hand. Die große Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung will kein Land für Frieden preisgeben. Ein fauler Kompromiss kann uns allen keinen stabilen Frieden sichern, allenfalls eine brüchige Feuerpause. Jede Diskussion über Verhandlungen ist zudem völliger Blödsinn, weil die Russen ja gar nicht verhandeln wollen.

Ihr Präsident hat kürzlich mit dem chinesischen Präsidenten gesprochen und klang danach recht optimistisch. Könnte China Frieden stiften, die Russen gar dazu überreden, sich aus der Ukraine zurückzuziehen?

Melnyk: Es ist nicht unrealistisch. Die Chinesen verfolgen natürlich ihre eigenen Interessen. Ich glaube aber schon, dass eine gerechte friedliche Lösung und das Ende der Kampfhandlungen den Interessen Pekings mehr entsprechen als dieses gewaltige nicht enden wollende Erdbeben für die gesamte Weltordnung. Das Telefonat mit Präsident Xi war ein großer Schritt nach vorne, um unsere Beziehungen zu China zu stärken und die russische Aggression zu beenden. Natürlich könnte die chinesische Sicht darauf eine andere sein als unsere. Für Kiew ist der Abzug aller russischen Truppen aus den besetzten Gebieten eine conditio sine qua non. Der Teufel liegt ja im Detail, deswegen sind wir gespannt, was der Sonderbotschafter Chinas mit sich bringt, der bald zu uns kommen wird.