Kiew/Washington. Die Pentagon-Leaks haben die Erwartungen an einen Sieg Kiews gedämpft. Die Zeit scheint für den russischen Präsidenten zu arbeiten.

Es läuft nicht gut für die Ukraine. Die angekündigte Frühjahrsoffensive scheint bereits gescheitert zu sein, bevor sie überhaupt begonnen hat. Weil es weiter an Waffen mangelt. Auch an Munition und Soldaten. Das zumindest ist der Eindruck, der sich in den vergangenen Tagen verstärkt hat.

Der Grund: Dutzende durch einen 21-jährigen National-Gardisten aus Massachusetts illegal abgefangene und ins Internet gelangte US-Papiere von Militär und Geheimdiensten. Die sogenannten „Pentagon-Leaks” schüren massiv die Zweifel an den Fähigkeiten der Verteidiger, das militärische Patt des Winters zu überwinden. Kiew werde seine Ziele vermutlich „weit verfehlen“, lautet eine Kernaussage in den durchgestochenen Dokumenten. Die USA und ihre Nato-Verbündeten gehen nicht davon aus, dass die Ukraine in großem Stil russisch besetzte Gebiete zurückerobern kann.

Ukraine-Krieg: Munitionsbestände neigen sich dem Nullpunkt

In einer von Ende Februar datierten Unterlage heißt es wörtlich, dass die Kämpfe im Osten allenfalls „bescheidene Gebietsgewinne” zeigten und in einer „aufreibenden Abnutzungskampagne” enden werden. Voraussichtlicher Endpunkt: ein Patt.

Ähnlich pessimistisch sieht das interne US-Bild über einen Eckpfeiler der ukrainischen Verteidigungskapazitäten aus: die Flugabwehr. Bereits Anfang Mai gingen den aus der Sowjetunion stammenden S-300 und Buk-Systemen die Raketen aus, analysieren Pentagon-Experten. Auch bei der Artillerie neigten sich die Munitionsbestände gefährlich dem Nullpunkt.

Ukraine-Krieg: „Die Situation an der Front ist komplizierter, als es schien“

Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass westliche Fachleute selbst die kühnsten Szenarien für realistisch hielten oder wenigstens für denkbar: einen ukrainischen Durchbruch von Saporischschja über Melitopol zum Asowschen Meer, Angriffe auf die Krim, einen erfolgreichen Gegenschlag bei Bachmut. Am Ende werde die russische Armee nach zu vielen Niederlagen womöglich kollabieren.

Besonders in Deutschland waren sogar Stimmen zu hören, die mahnten, man müsse die Führung in Kiew im Zweifel stoppen. Bevor der russische Präsident Wladimir Putin keinen anderen Ausweg mehr sehe, als Atomwaffen einzusetzen. Und nun plötzlich dieser Tenor: Die ukrainischen Hoffnungen auf Befreiung sind wohl doch nur überschießende Blütenträume des beginnenden Frühlings. Selbst in Polen, bei den engsten und oft auch euphorischsten Verbündeten der Ukraine, wächst angesichts der Pentagon-Leaks die Skepsis: „Die Situation an der Front ist komplizierter, als es schien“, resümiert die „Rzeczpospolita“, die angesehenste Zeitung des Landes.

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Es gibt einen Umschwung in der westlichen Wahrnehmung

Erstaunlich an diesem Umschwung in der westlichen Wahrnehmung ist vor allem, dass sich die faktische Lage durch das US-Datenleck wenig bis gar nicht verändert hat. Die Führung in Kiew wird ihre operativen Pläne im Detail nachbessern müssen, weil der Gegner aus den Dokumenten gewisse Rückschlüsse ziehen kann. Aber sonst? Dass es der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf an Menschen und Material mangelt, ist bekannt. Der Ruf des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyjs Ruf nach „Waffen, Waffen, Waffen“ ist in den vergangenen 13 Monaten so wenig verstummt wie die Berichte über fehlende Munition.

Hinzu kommen die offensichtlichen Folgen der Abnutzungsschlachten des Winters. „Man muss ja nur mitzählen, sich die Stärke der ukrainischen Armee ansehen und die Schätzungen der Verluste“, sagt der Militärexperte Carlo Masala im Gespräch mit dieser Zeitung. Auch die Frage, wie mobilisierungsfähig Ukraine noch ist, stelle sich nicht erst seit den Pentagon-Leaks. Masala hegt deshalb auch keinen Zweifel, dass die Frühjahrsoffensive kommen wird – mit ungewissem Ausgang.

Experte: „Die Sorge, dass der Ukraine die Soldaten ausgehen, ist berechtigt“

Das sieht auch der Wiener Militärexperte Markus Reisner so. Die Ukraine müsse in diesem Krieg zwingend eine Angriffswelle losbrechen, um den andauernden Stellungskrieg zu überwinden. Andernfalls bleibe die russische Artillerie mindestens um den Faktor 6:1 überlegen. „Die Sorge, dass der Ukraine die Soldaten ausgehen, ist berechtigt“, sagt Reisner.

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Zumal auf der anderen Seite der Kreml gerade erst die Mobilisierung frischer Kräfte erleichtert hat. Einberufungsbescheide sollen künftig per E-Mail zugestellt werden können. Wer das Schreiben erhält, darf das Land nicht mehr verlassen. Die Zeit arbeitet daher für die russische Armee.

Warum hat die Offensive nicht schon begonnen?

Und das gilt auch für die aktuelle Lage an der Front: Je länger die Führung in Kiew mit dem Angriffsbefehl wartet, desto besser kann sich der Gegner vorbereiten. Zuletzt berichtete der britische Geheimdienst, Russland habe den Bau von drei hintereinander gestaffelten Verteidigungslinien im Gebiet Saporischschja abgeschlossen.

Eine Offensive genau in dieser Region gilt als wahrscheinlichste Variante, weil es dort von der Front nur gut 100 Kilometer bis zum Asowschen Meer sind. Gelänge ein Vorstoß bis zur Küste, könnte die ukrainische Armee die Landverbindung der russischen Truppen zur Krim abschneiden und sogar die annektierte Halbinsel selbst ins Visier nehmen. Bleibt die Frage: Warum hat die Offensive dort nicht schon begonnen?

Der richtige Zeitpunkt für die Offensive ist entscheidend

Schließlich sind die lang ersehnten westlichen Kampfpanzer vor Ostern in der Ukraine eingetroffen und dürften mittlerweile einsatzbereit sein. Militärexperte Reisner verweist auf das hohe Gewicht der deutschen „Leopard 2“ und der britischen „Challenger“. Solange an der Front die berüchtigte Schlammperiode mit ihren extrem tiefen Böden anhalte, sei die Gefahr zu groß, dass die westlichen Panzer stecken bleiben.

Deren wichtigster Vorteil ist im Vergleich zu den russischen Systemen die hohe Dynamik. Deswegen sei der richtige Zeitpunkt für den Beginn der Offensive entscheidend, sagt Reisner. Denn wenn der Angriffsbefehl kommt, müsse alles extrem schnell gehen. Folgt man den Ausführungen des österreichischen Gardekommandanten, wird sich das Gesicht des Krieges in den kommenden Wochen radikal verändern.

Die Ukraine wird dann mit den hoch beweglichen Verbänden, die sie um die westlichen Kampfpanzer formiert hat, versuchen, Schwerpunkte zu bilden und an einer oder zwei Stellen der Front entscheidende Durchbrüche zu erzielen. Wo das geschehen wird, will die Führung in Kiew erst sehr kurzfristig entscheiden. Auch deshalb könnten sich die Auswirkungen des Pentagon-Datenlecks auf den Kriegsverlauf in Grenzen halten.

Vier Szenarien könnten dem Krieg eine dramatische Wendung geben

In einem Punkt aber sind die geleakten Dokumente womöglich doch aufschlussreich. Sie zeigen, dass die US-Geheimdienste faktisch keine Verhandlungsbereitschaft auf russischer Seite erkennen – und zwar unabhängig von Erfolg oder Misserfolg der ukrainischen Offensive. So sieht es auch Oberst Reisner: „Wenn es in Russland keine Revolution gibt, wird Putin weitermachen.“ Weil er die Zeit auf seiner Seite hat.

Es sei denn: In einem der durchgesickerten Geheimberichte der „Defense Intelligence Agency”, dem Geheimdienst des Verteidigungsministeriums, sind vier sogenannte „Wild Card”-Szenarien beschrieben, die dem Krieg in der Ukraine eine dramatische Wendung bescheren könnten: Ein Wechsel an der Spitze der russischen Streitkräfte. Ein substanzieller Angriff der Ukraine auf den Kreml. Der Tod von Wolodymyr Selenskyj. Oder das Ableben von Wladimir Putin. Wie wahrscheinlich die eine oder andere Option ist, das sagt der Geheimdienstbericht nicht.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja