Braunschweig. In Teil 2 unseres Interviews spricht Gesundheitsministerin Daniela Behrens über Pflegenotstand, Ärztemangel und die Landtagswahl im Oktober.

Fachkräftenot in der Pflege, Landärztemangel, Krankenhausfinanzierung, lange Wartezeiten auf Psychotherapien: Auch neben dem Kampf gegen Corona gibt es in der Gesundheitspolitik derzeit keinen Mangel an Herkulesaufgaben. Im zweiten Teil unseres Interviews – den ersten Teil lesen Sie hier – mit Niedersachsens Gesundheitsministerin Daniela Behrens (SPD) geht es um diese Themen und ihren Blick auf die Landtagswahl im Oktober.

Vor unserem Gespräch haben Sie das „Innovationslabor“ der AWO in Braunschweig besucht. Welche Ideen für die Verbesserung der Pflege nehmen mit nach Hannover?

Pflegeberufe sind grundsätzlich attraktiv und auch beliebt. Viele junge Leute in Niedersachsen entscheiden sich für eine Ausbildung in der Pflege, die Pflegeschulen sind gut besucht. Aber wir müssen feststellen, dass die meisten Menschen den Beruf nach zehn bis zwölf Jahren wieder verlassen – und das nicht unbedingt, weil sie schlecht bezahlt werden. Sie gehen vor allem raus, weil die Arbeitsbelastung zu groß ist. Wir brauchen mehr Personal in der Pflege. Deshalb haben wir heute in Braunschweig nicht nur darüber diskutiert, wie wir noch mehr Menschen für diese Berufe werben, sondern auch, wie die Rahmenbedingungen konkret verbessert werden können. Dazu zählen etwa verschiedene Qualifikationsstufen. Wir haben auch über Digitalisierungsmöglichkeiten gesprochen. Die AWO in Braunschweig ist hier sehr innovativ unterwegs, um Fachkräfte von bürokratischen Pflichten zu entlasten, damit sie sich auf die Menschen konzentrieren können.

Sie haben die Qualifikationsstufen genannt. Ein Problem ist der Mangel an Aufstiegschancen – besonders in der Altenpflege. Mit Erreichen des
30. Lebensjahres sind viele Pflegekräfte schon am Ende ihrer beruflichen Entwicklung angelangt.

Wir brauchen nicht nur gut ausgebildete Pflegefachkräfte, sondern beispielsweise auch einfacher qualifizierte Pflegeassistenten, um die Fachkräfte zu entlasten. Aber das allein reicht nicht. Wir brauchen auch in der Pflege die Durchlässigkeit und Karrieremöglichkeiten, die wir in anderen Berufen längst haben und zurecht völlig normal finden. Von einer Assistenzstelle muss man sich über die Ausbildung zur Fachkraft weiterqualifizieren können. Auch die Pflegestudienplätze, die es zunehmend gibt, bieten Möglichkeiten zur Weiterbildung. So können auch Akademiker in die Pflege einsteigen und Führungsaufgaben übernehmen. Insgesamt muss die Pflege hier gegenüber anderen Branchen, etwa der Industrie, noch deutlich aufholen. Denn natürlich orientieren sich junge Leute bei der Berufswahl auch an Aufstiegsmöglichkeiten. Und die müssen wir stärker schaffen.

Welche Rolle können Sie als Landesregierung dabei spielen?

Viele, die in der Altenpflege tätig sind, verlassen den Beruf nach wenigen Jahren wegen hoher Arbeitsbelastung und schlechter Rahmenbedingungen. Landesministerin Daniela Behrens möchte den Beruf durch „Durchlässigkeit und Karrieremöglichkeiten“ aufwerten. (Archivfoto)
Viele, die in der Altenpflege tätig sind, verlassen den Beruf nach wenigen Jahren wegen hoher Arbeitsbelastung und schlechter Rahmenbedingungen. Landesministerin Daniela Behrens möchte den Beruf durch „Durchlässigkeit und Karrieremöglichkeiten“ aufwerten. (Archivfoto) © picture alliance/dpa | Marijan Murat

Über die von meiner Vorgängerin Carola Reimann geschaffene Konzertierte Aktion Pflege Niedersachsen haben wir die Beteiligten an einen Tisch gebracht: die Pflegekassen, die Pflegeanbieter, die Pflegekräfte und Angehörige. In diesem Gremium pflegen wir den Austausch, der lange Jahre viel zu kurz kam. Außerdem finanzieren wir Modellprojekte zu verschiedensten Themen – etwa zur Kurzzeitpflege, zu neuen Wohnformen, für pflegende Angehörigen oder Nachbarschaftshilfe. Wir dürfen nicht vergessen, dass die meisten Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt werden. Wir haben als Land also einiges getan. Was wir nicht tun können, ist zu verbessern, wie Pflegekassen und Pflegeanbieter miteinander verhandeln. Das ist der Knackpunkt, denn hier entscheidet sich, wie viel Geld letztlich zur Verfügung steht. So gern ich da ein Wort mitreden würde – ich muss mich auf die Moderatorenrolle beschränken.

Sind die Pflegekräfte bei der Konzertierten Aktion denn ausreichend vertreten? Die Niedersächsische Pflegekammer ist ja krachend gescheitert.

Ja, die Pflegekammer sollte ein Instrument sein, die Pflegekräfte stärker an dem Prozess zu beteiligen. Aber die Idee ist tot und wird so auch nicht wiederkommen. Daher muss man sich etwas anderes überlegen. Ich tue das, indem ich mit den Pflegebündnissen rede – freiwilligen örtlichen Zusammenschlüssen von Pflegenden, mit denen ich mich regelmäßig austausche. Außerdem haben wir den Niedersächsischen Pflegerat, in dem alle Pflegefachverbände engagiert sind. Dieses ehrenamtliche Gremium würde ich gerne professionell verstärken. Der Pflegerat sitzt bei der Konzertierten Aktion mit am Tisch und vertritt dort – eine Neuerung, die ich eingeführt habe – die Interessen der Beschäftigten.

Bei Krankenhäusern soll laut SPD-Wahlprogramm „die fortschreitende Ökonomisierung gestoppt und so weit wie möglich eine Rekommunalisierung“ eingeleitet werden. Wie wollen Sie den Kommunen dabei helfen?

Es passiert ja schon. In Ihrer Region gab es etwa im Landkreis Peine eine Rekommunalisierung. Überall da, wo sich private Investoren vom Betrieb eines Hauses zurückziehen und sich Kommunen dafür entscheiden, dieses zu übernehmen, muss das unterstützt werden. Die Frage ist: Welche Kosten kommen dadurch auf die Kommunen zu? Kann das Krankenhaus mit Investitionsmitteln vom Land neu aufgestellt werden, oder wandelt man es vielleicht in ein regionales Gesundheitszentrum um? Wenn Kommunen sich auf diesen Weg machen, dann wird das Land sie dabei unterstützen.

Zum Streit über den Ausbau des Städtischen Klinikums Braunschweig sagt Ministerin Daniela Behrens: „Wir halten uns an die Rahmenbedingungen. Wer nun aber mehr ausbaut als notwendig, kann nicht erwarten, dass dieses Mehr mitfinanziert wird.“
Zum Streit über den Ausbau des Städtischen Klinikums Braunschweig sagt Ministerin Daniela Behrens: „Wir halten uns an die Rahmenbedingungen. Wer nun aber mehr ausbaut als notwendig, kann nicht erwarten, dass dieses Mehr mitfinanziert wird.“ © Peter Sierigk

Mancher Braunschweiger zweifelt vielleicht an der Großzügigkeit des Landes, wenn er an den Streit über die Zuschüsse für die Erweiterung des Städtischen Klinikums denkt.

Wenn wir Investitionsmittel zur Verfügung stellen, halten wir uns an die rechtlichen Rahmenbedingungen des Bundes. Diese legen fest, was ein Krankenhaus braucht. Wer nun aber mehr ausbaut als notwendig, kann nicht erwarten, dass dieses Mehr, das nicht notwendig ist, mitfinanziert wird. In Braunschweig besteht der Konflikt darin, dass ein sehr großes Projekt eingereicht wurde. Davon wurden bei der baufachlichen Prüfung rund 55 Prozent als genehmigungsfähig anerkannt. Und das ist für das Land nun einmal entscheidend. Von dieser genehmigungsfähigen Summe haben wir zwei Drittel gefördert. Aus unserer Perspektive ist das ein sehr faires Verfahren. Die Krankenhausleitung war darüber jederzeit im Bilde.

Zur Verbesserung der ärztlichen Versorgung auf dem Land haben Sie im Frühjahr eine Landarztquote der Medizinstudenten beschlossen. Warum so spät? Niedersachsen steuert seit Jahren in eine Unterversorgung, und die SPD ist seit 2013 am Ruder.

Erstens haben wir die Medizinstudienplätze in dieser Zeit erheblich ausgebaut. Das ist die Grundvoraussetzung für mehr Ärzte. Dieser Ausbau ist aber keine Banalität. Es braucht die Hochschulen, die Professorinnen und Professoren, die Kapazitäten vor Ort. Das haben wir in den letzten zehn Jahren geschafft. Auch wenn wir längst noch nicht am Ziel sind, bin ich hier zuversichtlich. Das Zweite ist die Landarztquote. Sie ist immer noch ein relativ neues Instrument, auch wenn Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz zwei bis drei Jahre früher dran waren als wir. Entscheidend ist, dass wir sie jetzt haben. Sie legt den Fokus von Ärztinnen und Ärzten verstärkt auf den ländlichen Bereich. Den Auftrag, die Versorgung letztlich sicherzustellen, hat aber die KVN, die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen. Sie muss dafür sorgen, dass die Arztsitze regional gut verteilt und besetzt werden. Momentan gelingt das nicht immer und überall. Als Land versuchen wir nach Kräften, die KVN zu unterstützen. Ich erwarte aber auch, dass sie ihrem Sicherstellungsauftrag nachkommt – auch in ländlichen Gegenden.

Versorgungsprobleme gibt es auch im Bereich Psychotherapie. Schon vor Corona mussten Betroffene viele Monate lang auf Therapieplätze warten. Seitdem hat die Zahl psychischer Erkrankungen weiter zugenommen. Bedarf und das Angebot von Therapieplätzen klaffen weit auseinander. Wie kann das sein? An Nachwuchs mangelt es hier doch nicht.

Kurz vorweg: Das Gesundheitssystem ist leider so komplex organisiert, dass viele Normalbürger gar nicht mehr durchblicken können, wer eigentlich wofür verantwortlich ist. Das kritisiere ich sehr. Sehr viele Zuständigkeiten liegen im Bereich der Selbstverwaltung, so dass die Politik völlig außen vor ist. Die Psychotherapeuten sind hierfür ein gutes Beispiel. Für den Schlüssel, der darüber entscheidet, wie viele Kassensitze es gibt, ist der Gemeinsame Bundesausschuss GBA zuständig. In diesem entscheiden die Krankenkassen, die Ärzte und die Berufsfachgruppen gemeinsam über die Zahl der Sitze und der Zulassungen. Der GBA hat für Niedersachsen einen bestimmten Schlüssel festgelegt und ist der Meinung, dass das Angebot ausreicht. Ich sehe das anders. Ich wünsche mir, dass der GBA – auch mit Blick auf die Corona-Pandemie – den Schlüssel noch einmal überprüft.

Hakt es vor allem an den Krankenkassen?

Man kann das nicht allein den Kassen anlasten. Die medizinische Versorgung in Deutschland ist sehr gut, sie muss aber auch bezahlt werden – aus Beiträgen der Versicherten. Deswegen sitzen die Kassen bei fast allen wichtigen Entscheidungen mit am Tisch. Können alle gut versorgt werden? Und kann das auch finanziert werden? In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns.

Trotzdem muss sich etwas tun. Gerade bei Psychotherapien für Kinder und Jugendliche sind die Wartezeiten mit vier bis fünf Monaten oft viel zu lang. Wir brauchen auch mehr Psychotherapeutinnen und -therapeuten im ländlichen Raum. Das ist eine Debatte, die wir zwischen den Ländern und auch mit dem Bundesgesundheitsminister führen.

Am 9. Oktober wird in Niedersachsen gewählt. In jüngsten Umfragen hat die SPD zwar die Nase vorn, aber die CDU holt auf. Verlassen Sie sich zu sehr auf den Amtsbonus von Ministerpräsident Stephan Weil?

Stephan Weil genießt eine große Achtung bei Jung und Alt – über Parteigrenzen hinweg. Ich finde das sehr gerechtfertigt, denn er ist klug, klar und unaufgeregt. Dass es auch ganz anders geht, zeigt ein Blick nach Bayern. Gerade in Krisenzeiten braucht es eine konsequente, verlässliche Politik. Wir haben richtig schwere Zeiten vor uns. Die Pandemie wird nicht das Schwierigste sein in den kommenden Monaten und Jahren. Der Krieg in der Ukraine führt uns deutlich vor Augen, das wir die Energiewende hinkriegen müssen. Wir müssen den Klimawandel bekämpfen. Und wir haben das Problem, unsere soziale Infrastruktur trotz zurückgehender Einnahmen des Staates aufrecht zu erhalten. Ohne ein gutes Gesundheitswesen oder soziale Beratungsstellen möchte ich mir unsere Gesellschaft nicht vorstellen. Und das geht nur, wenn man seriös und ernsthaft arbeitet. Das macht Stephan Weil, und dafür wird er zurecht geschätzt.

Die Grünen sind der erklärte Wunschpartner der SPD. Was ließe sich in Ihrem Politikfeld mit den Grünen besser bewerkstelligen als momentan mit der CDU?

Mit den Grünen haben wir sicher die größten Schnittmengen. In der Sozialpolitik geht es darum: Welche Haltung habe ich Menschen gegenüber? Gestehe ich ihnen zu, dass sie ihre eigenen Entscheidungen treffen können, auch wenn sie nicht so gut betucht sind? Wie viel Hilfe und Beratung gestehe ich ihnen zu? Bei der Finanzierung von sozialen Beratungsbüros, von Frauenhäusern aber auch bei Investitionen in Krankenhäuser konnten wir in den zurückliegenden Jahren nicht so viel erreichen, wie eigentlich nötig wäre. Auch für die Fairness zwischen den Geschlechtern müssen wir noch mehr tun. Hier würde ich mir von einer Koalition mit den Grünen deutlich mehr Spielraum erwarten.

Ministerpräsident Weil hat Sie beim Wahlkampfauftakt als „Shootingstar der niedersächsischen Politik“ bezeichnet. Ist Gesundheits- und Sozialministerin ihr Traumjob?

Jetzt ja! (lacht) Aber im Ernst: Ich habe es nicht bereut, dass ich dieses Amt angenommen habe. Ich würde sagen, ich war schon immer recht fleißig, aber so viel wie in den letzten anderthalb Jahren habe ich noch nie gearbeitet – im Grunde rund um die Uhr. Aber Sozial- und Gesundheitspolitik hat den Charme, dass man viel gestalten kann, was das Leben von Menschen konkret verbessert. Und das motiviert mich sehr. Daher kann ich mir gut vorstellen, das weiterzumachen, wenn man mich lässt. Ich habe noch einige Ideen – auch jenseits von Corona.

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Zur Person:

Daniela Behrens ist Niedersächsische Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung. Sie wurde im März 2021 von Ministerpräsident Stephan Weil ernannt, nachdem die Braunschweigerin Carola Reimann krankheitsbedingt zurückgetreten war. Vorher war die SPD-Politikerin Behrens Abteilungsleiterin im Bundesfamilienministerium. Die 54-Jährige, die vor ihrer politischen Laufbahn Journalistin war, ist verheiratet und lebt in Bokel im Landkreis Cuxhaven.