Braunschweig. Prof. Heinz-Jürgen Voß wirbt für den Gedanken geschlechtlicher Vielfalt. Er findet: „Das Problem ist, dass wir Geschlecht so wichtig nehmen“

Männlich und weiblich: Dass es nur zwei biologische Geschlechter gibt, ist klassisches Schulwissen. Doch diese banale Aussage stößt nicht nur bei Aktivisten schon lange auf Widerspruch, sondern auch bei immer mehr Naturwissenschaftlern. Der Biologe und Sexualwissenschaftler Prof. Heinz-Jürgen Voss von der Hochschule Merseburg ist Experte für das Geschlecht aus biologischer und gesellschaftlicher Sicht. Im April war er Gastredner einer Braunschweiger Fachtagung. Im Interview erklärt er, warum die Bestimmung des Geschlechts eine komplexere Angelegenheit ist als viele annehmen – und warum die Biologie von dieser Sicht profitiert.

Herr Professor Voß, wie viele biologische Geschlechter gibt es?

So viele, wie es Menschen gibt. Es gibt mittlerweile so viele Faktoren, die als bedeutsam für die geschlechtliche Entwicklung beschrieben werden, dass wir Geschlecht wesentlich individueller sehen müssen als bisher.

Widerspricht das nicht zumindest der Alltagserfahrung der Allermeisten von uns?

Im Alltag haben wir alle gelernt, hier ein Stück weit zu abstrahieren. Das heißt, wir sehen auf dem Marktplatz eine Person und treffen anhand einer Auswahl von – vielleicht zehn – Merkmalen eine Zuordnung: Das ist ein Mann oder das ist eine Frau. Von vielen weiteren Faktoren sehen wir aber ab. Auch bei der Ausgestaltung von Genitalien gehen wir meist eher von unserem Schulwissen, statt von der realen Bandbreite aus. Letztere erlaubt längst nicht immer eine eindeutige Zuordnung.

Wie umstritten ist Ihre Auffassung einer praktisch unbegrenzten Vielzahl biologischer Geschlechter noch in der Biologie?

Das Denken von Komplexität und Neutralität setzt sich durch. Sie finden heute kaum noch Professoren oder Professorinnen, die simpel sagen: „Es gibt nur weiblich und männlich.“ Aber es stimmt: Das ist noch nicht lange so. 2005 wollte ich ein grundlegendes Forschungsvorhaben zu Hormonen starten, bei dem die zu Untersuchenden nicht, wie damals üblich, vorab in zwei Geschlechtergruppen aufgeteilt werden sollten. Stattdessen wollte ich von einer Grundgesamtheit ausgehen und erstmal nur nach höheren oder niedrigeren Hormonbeständen unterscheiden. So entstanden gemischtgeschlechtliche Gruppen, deren Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Verbindungslinien ich untersuchen wollte. Damals hatte ich 15 Professoren angefragt, von denen niemand bereit war, mein Vorhaben zu betreuen – mit der Begründung: Dass es zwei Geschlechter gebe, sei nicht in Frage zu stellen. Dabei gibt es schon lange Theoriestränge in der Biologie, denen zufolge es Intergeschlechtlichkeit und Varianten gibt. Diese Positionen wurden aber lange mehrheitlich als Abweichung vom typischen Entwicklungsweg abgetan.

Wenn es eine unzählige Zahl Geschlechter gibt, kann die Kategorie „Geschlecht“ dann noch Grundlagen der Fortpflanzungsbiologie erklären?

Man sollte das trennen. Wenn man allgemein von der Biologie – etwa der Embryonalentwicklung von Mäusen – ausgeht, wird das Geschlecht oft aufgrund einer Untersuchung der Gene oder der Hormone bestimmt. Hier geht es um die Herausbildung von Keimdrüsen wie Hoden oder Eierstöcken. Es heißt dann zum Beispiel: Dieses Individuum ist eindeutig männlich – und unfruchtbar. Dass Keimdrüsen vorhanden sind, heißt nämlich nicht, dass ein Individuum auch in der Lage ist, die sogenannten Gameten – Ei- oder Samenzellen – zu bilden, die für die Fortpflanzung und den Erhalt einer Gattung wichtig sind. Doch selbst wenn eine Befruchtung stattfindet und die befruchtete Eizelle überlebt, braucht es noch einen Entwicklungsort – etwa eine Gebärmutter –, das Austragen und die Aufzucht nach der Geburt. Es handelt sich um einen komplexen Prozess. Aus all diesen Gründen können die individuellen Geschlechtsmerkmale nicht zwangsläufig als Maßstab für die Mehrheit herhalten.

Der Merseburger Sexualforscher Prof. Heinz-Jürgen Voß sagt: „Dass man abstrakt und theoretisch über Geschlecht sprechen kann, glauben nur Menschen, deren Geschlechtlichkeit nie in Frage gestellt wurde.“
Der Merseburger Sexualforscher Prof. Heinz-Jürgen Voß sagt: „Dass man abstrakt und theoretisch über Geschlecht sprechen kann, glauben nur Menschen, deren Geschlechtlichkeit nie in Frage gestellt wurde.“ © Hochschule Merseburg | Thomas Tiltmann

Würden Sie sagen, die traditionelle Vorstellung von Geschlecht konzentriert sich auf die Fortpflanzung, während neuere Ansätze stärker aufs Individuum blicken?

Ich würde eher sagen, dass die alte Perspektive eher von der gesellschaftlichen Geschlechterordnung ausgeht. Auch im Forschungsdesign wurde über Jahrzehnte vorausgesetzt, dass es nur zwei Geschlechter gibt. Wenn man das macht, erkennt man auch immer nur die Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Gruppen – aber weil man sie am Anfang so definiert hat. Solche Faktoren, die zu neuem Wissen führen, werden heute viel stärker reflektiert. Das Produktive an der neuen Perspektive ist, dass wir diese massive gesellschaftliche Einflussnahme durch Geschlechterstereotype in Frage stellen. So kommen wir zu einer neutraleren Forschung mit weniger Vorurteilen.

Ist es nicht umgekehrt so, dass wir gerade die Biologie ändern – entlang einer gesellschaftlichen Geschlechterdebatte?

Interessant ist ein Vergleich: Man kann sich statt der Entwicklung der Geschlechtsorgane auch die Entwicklung des Herzens anschauen. Da kommt man genau auf die gleichen Punkte. Damit ein Embryo ein funktionsfähiges Herz entwickelt, spielt eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle. Allerdings spielen gesellschaftliche Debatten hier praktisch keine Rolle. Das ist beim Geschlecht ganz anders – obwohl ein funktionsfähiges Herz erstmal viel lebenswichtiger ist. Wenn ein Genitaltrakt nicht vollständig funktionsfähig ist, sind die Kinder in den allermeisten Fällen trotzdem völlig gesund.

Von einem Herzfehler zu reden, ist unverdächtig, aber mit dem Wort „Genitalfehler“ hätten die meisten von uns wohl ein Problem.

Ja, das Grundproblem der Debatte ist, dass wir Geschlecht in der Gesellschaft so wichtig nehmen. Gerade in Deutschland haben wir eine massive Ungleichbehandlung der Geschlechter. Nehmen wir nur die Hochschulen: Auf den hoch dotierten Professuren sitzen gerade mal 10 Prozent Frauen. Wenn Wertschätzung derart stark von Geschlecht abhängt, ist es natürlich in hohem Maße problematisch, zu sagen: Du bist Mann, du bist Frau, und du bist eine Störung. Und das war auch der Ausgangspunkt fürs Bundesverfassungsgericht, einen wertschätzenden und würdigenden Umgang einzufordern. In der Folge wurde im Personenstandsgesetz „divers“ als dritte mögliche Geschlechtsangabe eingeführt.

Viele Menschen stößt es vor den Kopf, wenn das Grundwissen aus dem Biounterricht plötzlich nicht mehr gilt. Gibt es nicht einen Weg, das Neue zu ergänzen, ohne das Alte komplett für falsch zu erklären?

Wenn Wissenschaft nur das Populäre, Bekannte reproduziert, ist sie keine Wissenschaft. Ja, liebgewonnene Gewissheiten werden in Frage gestellt. Das gilt beim Geschlecht genauso wie es lange bei der Klimaforschung galt. Wir müssen uns als Gesellschaft fragen: Wollen wir Wissenschaft oder lieber nicht?

Sehen Sie den Ball hier nur im Feld des Publikums?

Nein. Wir in der Wissenschaft werden von der Gesellschaft finanziert und tragen eine Verantwortung. Jede Person, ob Reinigungskraft oder Managerin, sollte eine Möglichkeit erhalten, das Wissen zu verstehen. Wir müssen es erläutern, ohne auf die notwendige Komplexität zu verzichten. Diese gesellschaftliche Debatte, die wir führen müssen, wird immer mal wieder scharf werden. Wie könnte es anders sein bei einem Thema, bei dem jeder sicher ist, mitreden zu können: Ich habe doch ein Geschlecht, und ich weiß es doch. Bei Quantenphysik ist das anders. Auch gegen Einsteins Relativitätstheorie wurde übrigens anfangs ins Feld geführt: Aber ich sehe doch, dass der Apfel vom Baum nach unten fällt. Dabei ist dies nicht die Regel, sondern ein besonderer Fall – eine Ausnahme, wie Einstein nachwies. Noch heute kann aber kaum jemand auf der Straße erklären, was Relativitätstheorie bedeutet. Wenn der Physikunterricht an den Schulen besser wäre, würde es auch leichter fallen, das Prozessdenken biologischer Geschlechtsentwicklung zu verstehen. Ich kann nur dafür werben, sich für die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu interessieren und diese schulisch zu vermitteln.

Gender, trans, cis, inter, binär… Wir erklären die Begriffe

Aber Quantenphysik und Relativitätstheorie sind in unserer täglichen Erfahrungswelt kaum relevant.

Und trotzdem nehmen wir doch mehrheitlich hin, dass sie stimmen. Die Debatte zum Geschlecht ist deshalb so stark, weil sie etwas mit eigenen Erfahrungen und vermeintlichem Wissen zu tun hat. Aber ich würde den Blick gerne umkehren. Ich nehme wahr, dass viele Personen, die Fragen zum Geschlecht haben, sehr empathisch sind. Sie unterstützen marginalisierte Gruppen, die einfordern, dass die Gewalt aufhört, die sie lange Zeit erlebt haben. Wenn allein dadurch, dass wir Geschlecht offener denken, in der Region Braunschweig ein Mensch weniger Suizid begeht, weil er sich angenommen fühlt, ist es wert, dass wir darüber debattieren. Wir dürfen nicht vergessen, wie lebenswichtig und praktisch diese Frage für manche Menschen ist. Es ist keine „Schwafelei“ im luftleeren Raum. Menschen, die diese existenzielle Bedeutung der Frage sehen, sind auch bereit, einen kleinen sprachlichen Umstand auf sich zu nehmen.

Welche Rolle spielen gesellschaftliche Diskriminierung und Gewalt, wenn wir über die naturwissenschaftliche Frage des biologischen Geschlechts sprechen?

Man kann das nicht trennen. Dass die Wissenschaft lange von zwei Geschlechtern ausging, hat ja zu den traumatisierenden Behandlungsprogrammen und Gewalt geführt, die wir heute als solche erkennen. Man kann über Geschlecht nicht rein abstrakt und theoretisch sprechen. Etwas anderes glauben nur Menschen, die in ihrer eigenen Geschlechtlichkeit noch nie in Frage gestellt wurden. Und auch von diesen nur wenige. Denen, die Infragestellung und Zurücksetzung erleben, wird oft unterstellt, subjektiv, emotional oder aus der Betroffenheit heraus zu argumentieren. Ihre Stimmen werden häufig entwertet. Damit wird aber vernebelt, dass ein klassischer Cis-Mann genauso parteiisch ist. Wir müssen allen Menschen gleichermaßen zuhören. Die momentane Zuspitzung der Debatte gefällt mir auch nicht. Aber ich finde, dass Personen, die sich derart in Frage gestellt sehen, das auch thematisieren dürfen. Die Situation von Trans- und Inter-Personen ist immer noch so problematisch, dass man im Zweifelsfall sagen sollte: Ich nehme mich ein bisschen zurück und höre erstmal zu und lasse mich auf neues Wissen ein.

Wie wichtig ist es, das Geschlecht einer Person benennen zu können? Haben wir hier bei einem grenzenlosen Spektrum nicht ein Problem?

Es gibt schon einige Wörter. Neben männlich und weiblich gibt es non-binär, divers-, trans- oder intergeschlechtlich. Und: Sprache entwickelt sich weiter, indem wir miteinander sprechen. Es gibt immer wieder Dinge, für die wir kaum Worte haben, aber ich bin zuversichtlich, dass wir es ausprobieren und am Ende ein positives Ergebnis herauskommt. Die Hauptsache ist, dass wir überhaupt in der Breite der Gesellschaft über Geschlecht und über Selbstbestimmung reden.

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