Braunschweig. Heinz-Jürgen Voß: Denken von Komplexität setzt sich in Biologie durch. Die Absage eines Uni-Vortrags in Berlin findet der Professor unverständlich.

Der Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß kritisiert die Absage eines Berliner Uni-Vortrags zum biologischen Geschlecht als „unverständlich“. Gegenüber unserer Zeitung sagte der Professor der Hochschule Merseburg: „An einer Hochschule muss diskutiert werden können. Einmal eingeladen, muss eine solche Veranstaltung selbstverständlich stattfinden. Aber die Proteste dagegen natürlich ebenso.“ Die Humboldt-Universität (HU) Berlin hatte nach Protestankündigungen den für Anfang Juli geplanten Vortrag der jungen Biologin Marie-Luise Vollbrecht abgesagt, die darüber referieren wollte, dass es nur zwei biologische Geschlechter gibt.

Die Absage des Vortrags mit dem Titel „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“ hatte eine hitzige Debatte ausgelöst. Gegner der Entscheidung hatten diese als Einknicken und Verletzung der Wissenschaftsfreiheit kritisiert. Andere Stimmen fanden die Aussagen der Biologin in der Genderdebatte problematisch. Die HU hatte betonte, bei der Absage sei es ausschließlich um die Sicherheit gegangen. Man habe eine Eskalation befürchtet. Voß hielt dagegen: „Ich habe mir die Aushandlung in den Sozialen Medien angesehen – dort gab es keine Drohungen, sondern lediglich die Ankündigung von Protest. Und Protest ist legitim und die Gesellschaft hält ihn aus.“

„Neutralere Forschung mit weniger Vorurteilen“

Voß, ebenfalls Biologe, vertritt die entgegengesetzte Auffassung einer Vielfalt von biologischen Geschlechtern. Aus genetischer wie auch aus anatomischer Sicht sei die Vorstellung einer Zweiteilung der Geschlechter nicht zu halten, erklärte er. Das Denken von Komplexität und Neutralität setze sich in der Biologie durch. „Das bedeutet, Sie werden noch kaum einen Professor oder eine Professorin finden, die simpel sagen wird: Es gibt nur weiblich und männlich“. Produktiv an dieser Perspektive sei, dass die „gesellschaftliche Einflussnahme durch Stereotype“ in Frage gestellt werde. „So kommen wir zu einer neutraleren Forschung mit weniger Vorurteilen.“

Der Sexualwissenschaftler Prof. Heinz-Jürgen Voß von der Hochschule Merseburg in Sachsen Anhalt vertritt die Auffassung einer Vielfalt von biologischen Geschlechtern.
Der Sexualwissenschaftler Prof. Heinz-Jürgen Voß von der Hochschule Merseburg in Sachsen Anhalt vertritt die Auffassung einer Vielfalt von biologischen Geschlechtern. © Hochschule Merseburg | Thomas Tiltmann

Voß stellte auch die Expertise von Marie-Luise Vollbrecht zum Thema in Frage. Die Nachwuchswissenschaftlerin habe bisher nicht zum Thema biologisches Geschlecht publiziert. „Aus ihrem Vortrag, der online zugänglich ist, wird deutlich, dass sie eher Schulstoff aus der zehnten Klasse aufarbeitet als die differenzierte Fachdiskussion aus der Biologie abbildet“.

Doktorvater verteidigt Zweigeschlechtlichkeit

Der HU-Biologieprofessor Rüdiger Krahe, der Vollbrechts Promotion betreut, sagte der Berliner Zeitung, die Zweigeschlechtlichkeit sei unter Evolutionsbiologen unstrittig, da es nur zwei Typen von Keimzellen, Samen- und Eizellen, gebe. Voß sagte dagegen, dass solche einzelnen Merkmale „nicht zwangsläufig als Maßstab für die Mehrheit“ taugten.

In einer Kolumne unserer Zeitung hatte sich der Wissenschaftsjournalist Johannes Kaufmann kürzlich für ein Festhalten an der Zweigeschlechtlichkeit ausgesprochen. Mehrere Leser unserer Zeitung hatten ihn daraufhin kritisiert, das Thema Intergeschlechtlichkeit auszublenden. Intergeschlechtliche Menschen werden mit körperlichen Merkmalen geboren, die medizinisch als „geschlechtlich uneindeutig“ gelten.

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