Braunschweig. Die Stadt führt seit Wochen Niedersachsens Inzidenzen-Rangliste an. Die Ursachenforschung gestaltet sich alles andere als einfach.

Salzgitters Stadtplan hat „Windpocken“: Zig rote Punkte, gleichmäßig über alle Wohngebiete verteilt. Der Ausschnitt der nicht-öffentlichen Karte aus dem städtischen Gesundheitsamt zeigt den Stadtteil Lebenstedt. Jede Pustel markiert den Wohnort von Salzgitteranern, die positiv auf das Coronavirus getestet wurden. In den anderen größeren Stadtteilen – Salzgitter-Bad, Thiede und Gebhardshagen – ergebe sich ein ganz ähnliches Bild, erläutert Sozialdezernent Dirk Härdrich. Auch in den dörflichen Stadtteilen Salzgitters blitzen ihm zufolge immer wieder rote Punkte auf. „Diese gleichmäßige Verteilung der Neuinfektionen – genau das meinen wir, wenn wir von einem diffusen Infektionsgeschehen sprechen.“

Unrühmlicher Platz eins

Genau dieses Diffuse gestaltet die Suche nach den Gründen so schwierig. Seit Mitte März führt Salzgitter bei der Corona-7-Tage-Inzidenz die Rangliste der niedersächsischen Landkreise und Städte an. Ein unrühmlicher Platz eins. Warum ausgerechnet Salzgitter? Auch die Landesregierung kündigte zuletzt an, den Ursachen der hohen Zahl von Neuinfektionen auf den Grund zu gehen. Den angeforderten Bericht an Landeskrisenstab-Chef Heiger Scholz hat Härdrich schon auf den Weg gebracht. „Wir sind gespannt auf die Antwort, ob dem Krisenstab etwas auffällt, was wir übersehen haben oder besser machen können“, sagt er. Zumindest im bisherigen Austausch, den Salzgitter nicht nur mit der Landesregierung sondern auch mit anderen Hochinzidenzkommunen pflege, hätten sich solche hilfreichen Hinweise noch nicht ergeben.

Auf der Suche nach den Ursachen

Natürlich hat sich die Stadt längst selbst auf die Suche nach Ursachen begeben – in der Hoffnung, einen Schlüssel in die Hand zu bekommen, um die Infektionsrate zu senken. Bisher vergeblich. „Wir wären ja froh, wenn wir klar sagen könnten, woher die Infektionen rühren, aber diesen einen Anfasser haben wir noch nicht gefunden“. Immerhin, sagt Härdrich, habe man mittlerweile festgestellt, woran es nicht liegt. Anders als bei anderen Corona-Hotspots gab es in Salzgitter keine „Cluster“ – also Ereignisse oder Orte, auf die der massive Anstieg zurückgeführt werden konnte: keine Feiern von Großfamilien, keine gehäuften Ansteckungen in bestimmten Betrieben, keine Ausbrüche in Altersheimen.

„Keine auffälligen sozialen Gruppen“

Nicht wenige glauben, das Infektionsgeschehen mit dem relativ hohen Ausländeranteil der Stadt erklären zu können – rund ein Fünftel der Einwohner Salzgitters hat keine deutsche Staatsbürgerschaft. „Das kann man aber eben nicht“, sagt Härdrich. In der Gruppe der Flüchtlinge etwa gebe es keinerlei Auffälligkeiten gegenüber der restlichen Bevölkerung. „Dafür haben wir keine Anhaltspunkte.“ Keine Anhaltspunkte – bedeutet das nur, dass zur Sache nichts Näheres bekannt ist? Nein, betont Härdrich. Als Leiter des Dezernats „Bildung, Soziales und Integration“ habe er sich eine Tabelle aller Infektionen seit dem 12. März vorlegen lassen und diese nach verschiedenen Gesichtspunkten gefiltert. „Ich habe tagelang an diesen Daten geknabbert und diese auf mögliche Zusammenhänge mit bestimmten sozialen Gruppen – auch Nationalitäten – geprüft. Glauben Sie mir, wir wären dankbar, die Zusammenhänge des Infektionsgeschehens zu erkennen, weil wir dann wüssten, was wir tun müssen. Aber wir haben schlicht nichts gefunden.“

„Dass Leute coronamüde sind und sich über Hygieneregeln hinwegsetzen, ist kein Salzgitteraner Problem“, sagt Dirk Härdrich, Sozialdezernent der Stadt.
„Dass Leute coronamüde sind und sich über Hygieneregeln hinwegsetzen, ist kein Salzgitteraner Problem“, sagt Dirk Härdrich, Sozialdezernent der Stadt. © Braunschweiger Zeitung | Bernward Comes

Natürlich kennt auch Härdrich wütende Berichte von Bürgern über vermeintliche „Ausländer“, die sich nicht an die Corona-Regeln halten. „Dass Leute coronamüde sind und sich über Hygieneregeln hinwegsetzen, ist aber kein Salzgitteraner Problem“, sagt er. Dass Menschen, die sich nicht an die Auflagen halten, mitunter tatsächlich oder dem Augenschein nach einen Migrationshintergrund haben, liege meist schlicht an der Bevölkerungszusammensetzung in diesen Vierteln, etwa in Lebenstedt.

Welche Rolle spielt die britische Variante?

Die Faktoren, die Salzgitters Lage offenbar nicht erklären können, liegen also auf dem Tisch. Aber was sind dann die Gründe? Gerade zu Beginn der anhaltenden Hochinzidenzphase verwies die Stadt immer wieder auf die hochansteckende britische Variante des Coronavirus. Tatsächlich stellte das Gesundheitsamt damals fest, dass diese Mutante hier besonders stark vertreten war. Doch diese Zeit ist vorbei. Mittlerweile kursiert die Variante in ganz Niedersachsen und macht fast alle Neuinfektionen aus. Dennoch könnte es einen mittelbaren Zusammenhang geben, erklärt Dirk Härdrich. Mit der Ankunft der britischen Variante sei sein Gesundheitsamt nämlich dazu übergegangen, Kontaktpersonen von Infizierten nicht nur zwei, sondern vier Tage rückwirkend nachzuverfolgen – wegen der höheren Infektiosität. Die Folge: Es werden mehr Kontaktpersonen beobachtet, mehr müssen in Quarantäne, und: Es wird mehr getestet. Die hohe Zahl positiver Tests in Salzgitter könnte also auch dem umsichtigen Kontakt-Nachverfolgen geschuldet sein, mutmaßt der Stadtrat. Ob es so ist, wüsste man, wenn sich sagen ließe, ob Salzgitter tatsächlich mehr testet als andere Städte und Landkreise. „Wir vermuten das und haben entsprechende Hinweise“, sagt Härdrich, „aber leider gibt es keine vergleichbaren Parameter, daher fehlt uns der letzte Beleg.“

Vergleich Salzgitter – Kreis Goslar

Einiges spricht dafür, dass auch die Altersstruktur eine wichtige Rolle für das Infektionsgeschehen spielt. Nahe legt dies anschaulich der Vergleich mit dem benachbarten Landkreis Goslar – dem „zweitältesten“ in Niedersachsen. Dieser weist seit Wochen Inzidenzzahlen aus, die zu den niedrigsten in Niedersachsen zählen, gleichzeitig betrauert er 130 Corona-Tote seit Pandemiebeginn und zählt nach Braunschweig und dem Kreis Gifhorn zu den drei Landkreisen in unserer Region mit den meisten Todesopfern.

In Salzgitter, dessen Einwohner mit dem Mittelwert von 44,3 Jahren überdurchschnittlich jung sind, ist die Lage umgekehrt: Der hohen Inzidenz stehen relativ wenige Tote gegenüber: Stand Donnerstag waren es 64. Die Wahrscheinlichkeit, als Infizierter an Corona zu sterben, ist hier viel geringer als andernorts. Jüngere Bevölkerung – das könnte heißen: weniger Geimpfte, mehr Berufstätige, mehr Mobilität: mehr Ansteckungen. Härdrich wie auch Goslars Kreissprecher Maximilian Strache halten das für plausibel.

„Korrelationen“ und „Kausalitäten“

Indizien, Plausibilitäten, nahe liegende Gründe, aber keine bewiesenen, ursächlichen Zusammenhänge. So diffus wie das Infektionsgeschehen präsentieren sich auch die Erklärungsversuche. Verständlicherweise ist Härdrich – wie etwa auch das Landesgesundheitsamt – bemüht, „Korrelationen“ und „Kausalitäten“ auseinanderzuhalten. „Es gibt aber schon die Vermutung und an einzelnen Stellen Hinweise, dass beengte Wohnverhältnisse, die häufig zusammenhängen mit Transferleistungsbezug und in Salzgitter mit den Altbauwohnungen aus den 30er und 40er Jahren, mindestens ein weiterer Inzidenztreiber sind.“

Schlechte Datenlage zu sozialen Zusammenhängen

Seine vorsichtige Ausdrucksweise zeigt: Auch mit Blick auf den Zusammenhang zwischen Corona-Erkrankungen und der wirtschaftlichen Lage der Betroffenen fehlt es an belastbaren Daten, nicht nur in Salzgitter. Was erhoben wird, schreibt das Infektionsschutzgesetzt vor, „und der soziale Status gehört eben nicht dazu“, erklärt Härdrich. Die Daten aus verschiedenen Bereichen der Verwaltung zusammenzuführen, sei wiederum aus guten Datenschutzgründen nicht erlaubt. Vor allem die Forschung sei daher gefragt, Zusammenhänge aufzuzeigen. Für eine wissenschaftliche Untersuchung der gegenwärtige Lage in Salzgitter ist es aber bereits zu spät. Er jedenfalls bemühe sich um größtmögliche Transparenz, beteuert Härdrich. „Wo keine Persönlichkeitsrechte verletzt werden und nicht zu Fehlschlüssen verleitet wird, wollen wir nichts unter der Decke halten“. Geduldiges Erklären habe sich in der Pandemie bewährt.

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Seit vier Wochen präsentiert die Stadt Salzgitter auf ihrer Webseite eine neue Karte des Stadtgebiets, die täglich die Zahl der akuten Corona-Fälle nennt – für jeden Stadtteil. „Die Einführung dieser Karte war nicht unumstritten“, erklärt er, „und zwar weil ihre Aussagekraft letztlich begrenzt ist.“ In Kürze soll ein „Dashboard“ hinzukommen, ein digitales Armaturenbrett, das laufend Informationen zur Corona-Lage in Salzgitter liefern soll. Hier sollen die Fallzahlen dann auch ins Verhältnis zur Einwohnerzahl der Stadtteile gesetzt werden. Erst das wird für Vergleichbarkeit sorgen – und die einfachen Erklärungen noch schwieriger machen.