Braunschweig. Die Inzidenz in Niedersachsens Hotspot steigt. Der Oberbürgermeister will Familienfeiern in den Blick nehmen. Kritik gibt es am Gesundheitsamt.

Es ist ein unrühmlicher Platz eins, den Salzgitter seit Freitag letzter Woche belegt: Die Stahlstadt in unserer Region hat die höchste Corona-Inzidenz aller Städte und Landkreise in Niedersachsen. Und seitdem ist der Wert weiter täglich gestiegen. In den letzten sieben Tagen haben sich im Schnitt 219,6 von 100.000 Salzgitteranern nachweislich mit dem Virus infiziert. Im niedersächsischen Mittel waren es nur 81 Personen. Aber auch der Kreis Peine hat eine relativ hohe Inzidenz: 143,2 – nur geringfügig weniger als die zweit- und drittplatzierten Landkreise Cloppenburg und Osnabrück.

Hotspot Salzgitter – Welche Rolle spielen soziale Aspekte?

Doch warum sind in unserer Region gerade hier so viele Menschen mit dem Virus infiziert? Welche Rolle spielen soziale Aspekte – die Wohnsituation, das soziale oder kulturelle Milieu? Peine wie Salzgitter haben einen hohen Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund. Nach einem möglichen Zusammenhang mit dem Infektionsgeschehen befragt, warnte Peines Landrat Franz Einhaus in der Samstagsausgabe unserer Zeitung vor Fehlschlüssen: „Eine alleinige Fokussierung auf einen Migrationshintergrund ist viel zu kurz gesprungen. Da gerät man in sehr gefährliches Fahrwasser.“

Tatsächlich zeigt auch die Analyse für Salzgitter, dass die Lage komplex ist. Nach Erkenntnissen der Stadt ist der dramatische Anstieg keinen klassischen Hotspots wie Betrieben, Pflegeheimen oder Kliniken geschuldet. Es handele sich, erklärt Oberbürgermeister Frank Klingebiel (CDU), „um ein diffuses Infektionsgeschehen – im Wesentlichen im privaten und häuslichen Umfeld“.

Britische Coronavirus-Mutante kursiert in Salzgitter besonders stark

Eine wichtige Erklärung für die hohe Zahl von Neuansteckungen bietet aus seiner Sicht die britische Coronavirus-Mutante, die nach Angaben der Stadt „überproportional“ in Salzgitter kursiert. Die Virus-Linie „B. 1.1.7“ ist bis zu einem Drittel infektiöser als die ursprüngliche „Wildvariante“ – und ruft nach neuesten Erkenntnissen auch stärkere Beschwerden hervor.

Durch das höhere Ansteckungsrisiko sei auch das Isolieren der einzelner Patienten schwieriger – oder zumindest weniger effizient – geworden, erklärt Klingebiel: „Wenn wir eine Infizierung mit dieser Variante haben, dann wird meist die gesamte Familie angesteckt.“

Laborbestätigte COVID-19-Fälle in Niedersachsen Stand 17. März
Laborbestätigte COVID-19-Fälle in Niedersachsen Stand 17. März © Jürgen Runo | Jürgen Runo

Besonders trifft dies zu, wo die Wohnverhältnisse beengt sind, etwa in den bekannten „Problemquartieren“ Salzgitters: der Ost-West-Siedlung im Stadtteil Bad, sowie in Teilen Lebenstedts und in Steterburg. „Wo der Zuschnitt und das Umfeld derart problematisch sind, sehen wir Häufungen von Fällen“, erklärt Klingebiel. Gleichzeitig seien diese nicht die einzigen Infektionscluster. „Die Schlussfolgerung, dass Infektionen nur hier stattfinden, kann man so nicht ziehen.“

In Salzgitter keineswegs nur Großfamilien betroffen

Wie der Peiner Landrat wirkt auch Klingebiel (CDU) dem Eindruck entgegen, dass das Infektionsgeschehen primär unter Salzgitteranern mit Migrationshintergrund stattfindet. „Es sind keineswegs nur Großfamilien betroffen“, erklärt er. Allerdings will die Stadt künftig härter durchgreifen bei regelwidrigen Familienfeiern wie einer Verlobungsfeier am vergangenen Wochenende.

Diese musste die Polizei Salzgitter gleich zweimal auflösen, weil sich die Teilnehmer erneut in kleineren Gruppen versammelten und weiterfeierten. „In solchen Fällen muss die Strafe auf dem Fuße folgen und Bußgelder exekutiert werden“, fordert Klingebiel. Er kündigt an, die Stadt werde prüfen, „ob der rechtliche Rahmen auch erlaubt, die betreffenden Teilnehmer dann umgehend verpflichtend auf Corona zu testen“.

Auffällig sei, dass viele der positiven Testergebnisse in Kindertagesstätten und Schulen aufgetreten seien – „trotz der dortigen funktionierenden Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen und des Unterrichts im Wechselmodell“, wie Klingebiel betont. Die Stadtverwaltung zieht daraus den Schluss, dass die Infektionen „von außen hineingetragen wurden und wir sie in den Schulen und Kitas nur feststellen“.

Akzeptanz der Corona-Regeln sinkt in Salzgitter

Sorge macht dem Bürgermeister vor allem „die bröckelnde Akzeptanz“ der Corona-Regeln: „In Salzgitter spielt das eine große Rolle.“ Aber auch wenn die Einhaltung nun stärker durch Polizei und städtischen Ordnungsdienst überwacht werde, hält er eine Verschärfung der Regeln für kontraproduktiv.

Auch Sascha Pitkamin, Ratsherr der Grünen in Salzgitter, fordert keine schärferen Regeln. Allerdings sieht er beim städtischen Pandemiemanagement durchaus noch Luft nach oben. „Ich habe meine Zweifel, dass das Gesundheitsamt für die besondere Gemengelage in Salzgitter ausreichend aufgestellt ist“, sagt der 51-Jährige unserer Zeitung. Defizite macht er insbesondere beim Nachverfolgen von Kontakten aus.

Er berichtet von mehreren Fällen aus seinem direkten Umfeld, bei denen Betrieben erst mit zwei bis drei Tagen Verzug mitgeteilt wurde, dass einzelne Mitarbeiter mit Corona infiziert waren. Darauf angesprochen, antwortet Salzgitters Sozialdezernent Dirk Härdrich: „Bei der Vielzahl der täglich auflaufenden Fälle kann das im Einzelfall passieren. Vorgabe ist allerdings, dass eine unverzügliche Information erfolgen muss.“ Pitkamin reicht das nicht: „Die Verfolgung und Benachrichtigung von Kontaktpersonen passiert viel zu schleppend – zumal sie der einzige Hebel ist, über den die Stadt selbst entscheidend zur Eindämmung der Pandemie beitragen kann.“

Kritik am Salzgitteraner Gesundheitsamt

Pitkamin bezweifelt nicht, dass die Mitarbeiter im Gesundheitsamt ihre Arbeit nach Kräften gut machen. „Dennoch lassen die sichtbaren Probleme darauf schließen, dass das Personal mit der Aufgabe überlastet ist und die Organisation nicht optimal läuft.“ Auch die notwendige Kreativität vermisst er bei Salzgitters Umgang mit der Pandemie. Dies gelte sowohl bei der kurzfristigen Personal-Gewinnung als auch bei der öffentlichen Vermittlung der Maßnahmen – gegenüber Menschen mit schlechten Deutschkenntnissen, aber auch allgemein: „Wenn ich mir ansehe, wie viele offene Fragen es hinsichtlich der Teststrategie, der Abläufe und der Wartezeiten gibt“, so Pitkamin, „dann muss ich feststellen: Kommunikation ist schlicht nicht vorhanden.“

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Klingebiel weist diese Kritik zurück. Mit personeller Hilfe vom Land und vom Bund habe man die Nachverfolgung in den Griff bekommen: „Zur Zeit sind wir der Auffassung, dass das gut funktioniert.“ Erleichtert würde diese Arbeit dadurch, dass sich die Neuinfektionen derzeit nicht gleichmäßig auf verstreute Individuen verteilten, sondern oftmals ganze Familien betroffen sind.

„Die Dynamik eines derart massiven Anstieges ist schon besorgniserregend“, fasst Klingebiel die Lage in Salzgitter zusammen, erneuert aber seine Kritik am Inzidenzwert als zentralen Maßstab für die Beurteilung der Lage. „Wir müssen dahin kommen, immer auch andere Parameter in den Blick zu nehmen – wie die Erkenntnisse über das Infektionsgeschehen, die Lage in den Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen sowie beim Impfen.“