Braunschweig. Schmutziger Sex in Rom, Social Distancing in Athen: TU-Historikerin Bernadette Descharmes spricht im Podcast über Rein- und Unreinheit in der Antike.

Wer bei Geschichte vor allem an die Taten große Männer, an entscheidende Schlachten und das Auswendiglernen bedeutsamer Jahreszahlen denkt, ist hier auf der falschen Fährte. Die Althistorikerin Bernadette Descharmes widmet sich in ihrer Forschung anderen Themen: Wut, Trauer, Rache, Freundschaft, Ekel. Auch über Bärte hat sie schon einen Aufsatz geschrieben. „Ich bin keine Historikerin, die sich der knallharten Politikgeschichte auseinandersetzt“, sagt sie, „sondern mit sehr menschlichen Themen.“ In der neuen Folge unseres Wissenschafts-Podcasts „Forsch!“ spricht die 43-Jährige, die seit zwölf Jahren an der Technischen Universität Braunschweig forscht und lehrt, unter anderem darüber, wie die Menschen in der Antike mit Seuchen umgingen.

Wie sauber waren die römischen Bäder?

In ihrem aktuellen Forschungsprojekt, mit dem sie sich habilitieren will, beschäftigt sich die geborene Pforzheimerin allerdings mit Reinheit und Unreinheit im alten Rom. Angefangen bei ganz handfesten Fragen, etwa: Wie sauber waren eigentlich die berühmten römischen Bäder?

Sehr sauber, so lautete lange die gängige Meinung der Forscher. „Mittlerweile sind Spezialisten aber der Ansicht, dass das Reinlichkeitsempfinden damals dann doch ein anderes war als heute“, berichtet Descharmes. „Man hatte kein Chlor, um das Wasser sauber zu halten. Der enorm aufwendige Heizvorgang erlaubte nicht, das Wasser allzu oft auszutauschen.“ Hinzu kam der Schmutz durch die „Badepraxis“: Bevor sie ins Becken stiegen, rieben die Römerinnen und Römer sich mit Ölen und Salben ein und gönnten sich eine Art antikes Peeling. „Wenn man sich das vorstellt, ahnt man den Film aus Fett und Schweiß, der da auf

Die Historikerin Dr. Bernadette Descharmes ist Spezialistin für Alte Geschichte am Institut für Geschichtswissenschaft der TU Braunschweig.
Die Historikerin Dr. Bernadette Descharmes ist Spezialistin für Alte Geschichte am Institut für Geschichtswissenschaft der TU Braunschweig. © Privat | Privat

der Wasseroberfläche schwamm.“ Eine dazu passende Forschungsthese hat sie auch schon formuliert: „Wasser wurde als Stoff angesehen, der immer sauber macht – egal wie schmutzig er tatsächlich war.“ Für die Kulturhistorikerin ist das ein gutes Beispiel für die Macht der Wahrnehmungen.

Schmutziger Sex? „Die alten Texte sind da sehr explizit“

Erst recht zum Tragen kamen diese, wenn es um Unreinheit in einem moralischen Sinne ging – etwa wenn Menschen „dreckige“ Geschäfte oder „schmutzige“ Verhaltensweisen vorgehalten wurden. Etwa beim Sex: „Die alten Texte sind da tatsächlich sehr explizit“, sagt Descharmes. „Als die ,schmutzige‘, moralisch verwerfliche Sexualpraxis schlechthin wurde damals der Oralverkehr angesehen.“ Und wer dieser Praxis frönte, galt als unrein. Von den Küssen der betreffenden Person hielt man sich tunlichst fern. In der römischen Literatur schlug sich das in der weit verbreiteten Vorstellung des „Os impurum“, („schmutziger Mund“) nieder, erklärt sie. Dieses in Satiren ebenso wie in Reden gebräuchliche Motiv wurde benutzt, um die Betreffenden satirisch zu verspotten – auch den politischen Gegner.

Beispiel aus der Gegenwart: „Links-grün-versifft“

Durch die Beschäftigung mit den historischen Quellen hat Descharmes auch einen geschärften Blick auf ähnliche Phänomene in unserer Gegenwart. Ihr fallen gleich mehrere Beispiele ein: Die Taz-Kolumnistin, die forderte, die Polizei abzuschaffen und die arbeitslos gewordenen Beamten auf der „Mülldeponie“ zu entsorgen. AfD-Chef Jörg Meuthen, der seine politischen Gegner als „links-grün-versifft“ diffamierte. Oder Donald Trump, der während eines Fernsehduells mit Hillary Clinton darauf herumritt, dass sie in einer Pause die Toilette aufgesucht habe und dies mehrfach als „disgusting“ („eklig“) bezeichnete. Sie sagt: „Es ist kein Zufall, dass solche Bilder benutzt werden, um negative Empfindungen bei den Wählern zu verankern.“

Von der Reinheit ist es gedanklich ein kurzer Schritt zum Thema Hygiene und Infektionsschutz, das seit einem guten Jahr allgegenwärtig ist. Bernadette Descharmes nahm die Pandemie zum Anlass, sich auch den „Seuchen der Antike“ zuzuwenden. Im zurückliegenden Wintersemester bot sie ihren Studierenden eine entsprechende Übung an – digital, versteht sich.

„Die abendländische Literatur beginnt mit einer Seuche“

In der Lehrveranstaltung näherten sich die Teilnehmer der Antike ausgehend von der Corona-Gegenwart. „Zuerst haben wir Fragen formuliert und dann zusammen überlegt, ob man diese auch an die antiken Seuchen richten kann. Dann haben wir uns mit den Texten auseinandergesetzt.“ Unter den Quellen zu antiken Seuchen waren sowohl Berichte als auch fiktionale Texte – wie Homers Ilias. „Die abendländische Literatur beginnt mit einer Seuche“, betont sie.

Essays von TU-Studenten zu Seuchen der Antike

Es ist bemerkenswert, wie weit manches Wissen über Infektionskrankheiten schon zurückreicht. Im fünften Jahrhundert vor Christus wütete in Athen eine Epidemie, die sogenannte Attische Seuche. „Thukydides schreibt damals schon, dass den Menschen bewusst ist, dass sie sich bei der Pflege oder Besuchen von Kranken anstecken können“, erzählt die Braunschweiger Historikerin. „Und wir können nachlesen, dass damals bereits eine Art Social Distancing betrieben wurde.“ Auch dass Menschen, die die Krankheit überstanden hatten, eine Immunität erlangten, lasse sich anhand des – vielkopierten und -zitierten – Textes des antiken Geschichtsforschers nachvollziehen.

Epidemie als „Probe des Glaubens“

Die Zeitgenossen deuteten die Seuchen auf ganz unterschiedliche Weise. In Homers Schilderung vom Trojanischen Krieg ist es der zornige Apoll, der mit seinen Pestpfeilen die Seuche ins griechische Heer schießt – als göttliche Strafe. Der frühchristliche Kirchenhistoriker Cyprian dagegen schilderte im dritten Jahrhundert nach Christus eine Seuche als Probe des Glaubens, durch die man als Märtyrer ins göttliche Himmelreich kommen kann.

„Die Studierenden staunen nicht schlecht, wenn man sie heute mit solchen Deutungen konfrontiert“, sagt Descharmes. Und beim Staunen ist es nicht geblieben. Im Zuge ihrer Beschäftigung mit Fragen der Gegenwart und Epidemien der Antike haben die Studenten, die an der Lehrveranstaltung teilgenommen haben, Essays verfasst. In den kommenden Tagen will Descharmes die Texte lesen. „Ich bin schon sehr gespannt“, sagt sie. Wenn sie gut sind, ist geplant, sie gesammelt als Buch zu veröffentlichen.

Den Podcast können Sie hier hören: "Forsch!"-Podcast: Bäder in Rom - Social Distancing in Athen