Braunschweig. Nach Rücknahme in der Region Hannover: Landesregierung erntet Kritik wegen unklarer Vorgaben. Anwalt: Die Kläger sind keine Extremisten.

Die Region Hannover reagierte sofort. Am Dienstag hatte das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) in Lüneburg in einer Einzelfallentscheidung seine Zweifel am Mittel der Ausgangssperre im Kampf gegen Corona geäußert. Noch am Abend hob die Region Hannover ihre entsprechende Allgemeinverfügung auf – mit sofortiger Wirkung.

Während der Niedersächsische Städte- und Gemeindebund die OVG-Entscheidung bedauerte, wittern die Gegner der Corona-Maßnahmen Morgenluft. Auch in unserer Region ziehen einzelne Kläger gegen die Ausgangssperren vor Gericht. Die betroffenen Landkreise und Städte beraten nun, inwieweit sich die Ausgangssperren halten lassen.

Was haben die Lüneburger Richter genau entschieden?

Der 13. Senat hat am Dienstag „mit Eilbeschluss“ die Beschwerde der Region Hannover gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 2. April 2021 (Aktenzeichen.: 15 B 2883/21) zurückgewiesen. Das Gericht hat damit laut einer Pressemitteilung des OVG „die erstinstanzliche Entscheidung, dass die in der Allgemeinverfügung der Region Hannover vom 31. März 2021 angeordnete Ausgangsbeschränkung voraussichtlich rechtswidrig ist, bestätigt“.

Das OVG sieht einen Verstoß gegen die Verhältnismäßigkeit. „Die hier von der Antragsgegnerin erstellte Gefährdungsprognose trage die Annahme, dass ohne die streitgegenständliche Ausgangsbeschränkung eine wirksame Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus erheblich gefährdet sei, nicht“, so das OVG zu dem Beschluss. Es sei auch zu berücksichtigen, dass in Hochinzidenzkommunen ohnehin verschärfte Kontaktbeschränkungen gälten. Zudem habe die Region nicht ansatzweise aufgezeigt, inwieweit sie Kontrollen zum Einhalten der bereits bestehenden Vorschriften verbessert habe.

Vor diesem Hintergrund hält das Gericht es für unangemessen, alle Menschen in einem Gebiet der Ausgangssperre zu unterwerfen. Nicht nachprüfbare Behauptungen reichten zur Rechtfertigung einer derart einschränkenden und weitreichenden Maßnahme wie einer Ausgangssperre nicht aus, heißt es zur Infektionsgefahr durch nächtliche Parties. Mit Blick auf Treffs an beliebten öffentlichen Plätzen verweist das Gericht auf das mildere Mittel von Betretungsverboten.

Hier gelten in Niedersachsen Ausgangssperren.
Hier gelten in Niedersachsen Ausgangssperren. © Jürgen Runo | Jürgen Runo

Was steht in der gekippten Verordnung von Hannover?

Die Region hatte per Allgemeinverfügung erklärt: „Im gesamten Gebiet der Region Hannover ist das Verlassen einer häuslichen Unterkunft einschließlich der jeweils zugeordneten, privat genutzten Nebenanlagen (z.B. Garten, Balkon, Keller) in der Zeit vom 1. April bis einschließlich zum 12. April 2021 jeweils in der Zeit von 22 bis 5 Uhr nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt.“

Als triftige Gründe werden unter anderem medizinische Behandlung, das Ausüben beruflicher Tätigkeiten, der Besuch naher Angehöriger, wenn diese von Behinderung betroffen oder pflegebedürftig sind, dringende Handlungen zur Versorgung von Tieren sowie das Erreichen überregionaler Verkehrsmittel angeführt. „Im Fall der Kontrolle sind die triftigen Gründe durch die betroffene Person glaubhaft zu machen“, hieß es. „Die Untersagung des Verlassens des privaten Wohnbereichs in der Zeit von täglich 22 bis 5 Uhr des Folgetages ist aufgrund der jeweiligen Erkenntnisse aus der Kontaktnachverfolgung, der allgemeinen und regionalen Infektionslage sowie der Ziele des Infektionsschutzes geboten und verhältnismäßig“, so die Begründung.

Derzeit stelle sich das Infektionsgeschehen als diffus und nicht mehr räumlich eingrenzbar dar. Letzteres war in der aktuellen Landesverordnung als Voraussetzung genannt worden. Die Region hatte die Verfügung am Dienstag als Reaktion auf den OVG-Beschluss aufgehoben. „Ich kann mit dieser Gerichtsentscheidung gut leben“, erklärte Regionspräsident Hauke Jagau (SPD) in einer kurzen Youtube-Stellungnahme. Es gehe schließlich um eine schwierige Güterabwägung. Dies wiederum klang plötzlich so, als sei die Sperre gut verzichtbar.

Wie sind die Reaktionen in der Landespolitik?

Eine Sprecherin der Niedersächsischen Staatskanzlei erklärte am Mittwoch zum grundsätzlichen Instrument der Ausgangssperre, das OVG habe sich im Fall der Region Hannover explizit auf die Begründung der Region bezogen. In der Landesverordnung stehe ausdrücklich, dass Ausgangssperren das letzte Mittel sein müssten. Man wolle den Kommunen nun aber möglicherweise eine „Handreichung“ zur Verfügung stellen – nämlich den Hinweis auf wissenschaftliche Studien. Das Land hatte Ausgangssperren als Handlungsmöglichkeit in die aktuelle Corona-Verordnung geschrieben – ab einer Inzidenz von 100 als Kann-Bestimmung, ab 150 als „Soll“-Vorschrift. „Nach Absatz 3 Satz 1 ist die Anordnung einer Ausgangsbeschränkung nur auf Teile des Gebiets eines Landkreises oder einer kreisfreien Stadt zulässig, eine nicht nach dem Infektionsgeschehen differenzierte landkreis- oder stadtweite Ausgangsbeschränkung kommt danach wegen ihrer erheblich eingreifenden Wirkung nicht in Betracht“, heißt es in der Begründung der entsprechenden Veränderungsverordnung des Landes. Grundlage für Ausgangssperren ist das Bundesinfektionsschutzgesetz (Paragraph 28a).

Der Niedersächsische Städte- und Gemeindebund zeigte sich enttäuscht: „Wir bedauern es sehr, dass es nicht gelungen ist, die Ausgangssperre in der Region Hannover wirksam anzuordnen. Um steigende Infektionszahlen in den Griff zu bekommen, kann die Ausgangssperre ein wirksames Mittel sein, aber dieser schwere Eingriff bedarf einer genauen Güterabwägung“, sagte Sprecher Thorsten Bullerdiek. Er forderte vom Land „klare Entscheidungskriterien“ für die Gesundheitsbehörden.

Ganz anders reagierte FDP-Landtagsfraktionschef Stefan Birkner: „Wir begrüßen das Urteil des OVG und sehen uns in unserer Auffassung bestätigt, dass die Ausgangssperre unverhältnismäßig ist. Es ist nicht das erste Mal, dass eine Corona-Maßnahme von Gerichten gekippt wird. Die Landesregierung muss endlich aufhören, auf die Pandemie immer nur mit mehr von demselben zu reagieren. Wir brauchen intelligentere und differenziertere Lösungen.“

Unsere Redakteure diskutieren:Pro & Contra- Sollte es weiterhin Ausgangssperren geben?

Auch die Grünen-Fraktion nahm die Landesregierung mit ins Visier. „Offensichtlich sind die Vorgaben, die die Regierung den Kommunen macht, zu unkonkret, um rechtssicher umgesetzt werden zu können“, erklärte der Abgeordnete Helge Limburg. Statt flächendeckender Ausgangsbeschränkungen seien gezielte Maßnahmen wie flächendeckende Tests in Betrieben, Kitas und Schulen angezeigt. Der Bereich sei bereits maximal eingeschränkt, da seien relevante Kontaktreduzierungen nicht mehr zu erreichen. Ein bundesweites, konsequentes Runterfahren unter Einbeziehung der Wirtschaft, wie die Osterruhe es in Ansätzen vorgesehen habe, wäre geeignet, die drastische Steigerung der Infektionszahlen zu verhindern, so Limburg. Der niedersächsische AfD-Landtagsabgeordnete und Landesparteivize Stephan Bothe hatte schon vor dem OVG-Urteil erklärt: „Derlei willkürliche Freiheitsbeschränkungen sind mit einer freiheitlich demokratischen Grundordnung nicht vereinbar, dies sind Maßnahmen einer Diktatur.“

Mittlerweile sollen weitere Beschwerden beim OVG gegen Entscheidungen in Sachen Ausgangssperren vorliegen, so aus Celle. Aus Osnabrück wurde eine Beschwerde angekündigt. Das Hamburger Verwaltungsgericht hatte die dortige Ausgangssperre als verhältnismäßig gebilligt. Mit der OVG-Entscheidung zur Ausgangssperre in der Region ist aber klar, dass in Niedersachsen die Hürden nun relativ hoch sind: Kommunen, welche die Sperre noch verfügen möchten, brauchen offenbar eine gute, mit Zahlen unterlegte Begründung.

Das könnte Sie auch interessieren:

Wie steht es um Klagen gegen Ausgangssperren in der Region?

Auch in unserer Region sind mittlerweile einzelne Bürger gegen Ausgangsbeschränkungen vor Gericht gezogen. Vier Klagen, jeweils mit Eilantrag, liegen mittlerweile beim Verwaltungsgericht Braunschweig vor – gegen die Ausgangssperren in Wolfsburg und Gifhorn jeweils eine, gegen die im Landkreis Peine sogar schon zwei. Dies teilte Gerichtssprecher Torsten Baumgarten unserer Zeitung am Mittwochnachmittag mit. Bei den Klägern handelt es sich demzufolge um Privatpersonen aus den jeweiligen Kommunen.

Zwei der vier Kläger werden von dem Rechtsanwalt Reinhard Wilhelm vertreten. Im Telefongespräch begründet der Jurist aus dem nordrhein-westfälischen Soest die Klagen mit der Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Er zeichnet die Infektionslage aber auch in einem deutlich harmloseren Licht als die große Mehrheit der Experten und Politiker: „Weder in Gifhorn noch in Peine ist die Situation so explosiv, dass man von einem exponentiellen Wachstum sprechen kann. Ein Inzidenzwert vom 100 heißt, dass 99 Prozent der Menschen gesund sind.“ Unter den Gegnern der Corona-Politik von Bund und Ländern ist Wilhelm kein Unbekannter. Wohl auch deshalb haben sich die Kläger aus den Landkreisen Gifhorn und Peine an den Anwalt aus Soest gewandt. Der 49-Jährige ist in der neugegründeten Coronapolitik-Kritiker-Partei „Die Basis“ aktiv und vertritt nach eigenen Angaben derzeit bundesweit 20 Mandanten bei Klagen gegen Corona-Maßnahmen. Das Themenspektrum reicht von Demonstranten, die sich in ihrer Versammlungsfreiheit eingeschränkt sehen, über Klagen gegen die Ausgangssperren bis hin zu einer Verfassungsbeschwerde gegen das Bundesinfektionsgesetz, die Wilhelm vorm Bundesverfassungsgericht anstrengen will.

Dem Anwalt zufolge handelt es sich bei den Klägern aus Peine und Gifhorn um „gebildete Normalbürger aus der Mitte der Gesellschaft“. Was diese zum Gang vors Gericht bewegt hat? „Die allgemeine Unzufriedenheit mit den Einschränkungen durch die Corona-Politik“, sagt er. Und: Einer der Kläger könne sein Gewerbe aufgrund der Coronamaßnahmen nicht mehr ausüben. Mehrfach betont Wilhelm, dass die Kläger „keine Extremisten“ seien.

Wann das Braunschweiger Verwaltungsgericht über die Eilanträge entscheidet, ist noch nicht absehbar. Sprecher Baumgarten zufolge wartet das Gericht momentan die Stellungnahmen der beklagten Städte und Landkreise ab. Es ist gut möglich, dass sich die Klagen gegen die Ausgangssperren von selbst erledigen, nämlich wenn diese nicht verlängert werden. Momentan sind sie in Wolfsburg, Salzgitter und im Kreis Peine bis zum 13., im Kreis Gifhorn bis zum 16. April befristet.

Wie sind die Reaktionen auf das Urteil in der Region?

Die vier Landkreise und Städte mit nächtlichen Ausgangssperren aus unserer Region – Salzgitter, Wolfsburg, Gifhorn und Peine – reagierten zurückhaltend auf das Urteil des OVG Lüneburg. Wie Salzgitters Erster Stadtrat Erik Neiseke betonte auch Wolfsburgs Oberbürgermeister Wolfgang Mohrs (beide SPD), dass es sich bei dem Beschluss formal um eine Einzelfallentscheidung ausschließlich für die Region Hannover handele. Alle vier Kommunen behalten ihre bisherigen Regeln vorerst bei.

Mohrs, Neiseke wie auch Gifhorns Landrat Andreas Ebel (CDU) erklärten jedoch, zusammen mit der Landesregierung über die Konsequenzen der Gerichtsentscheidung beraten zu wollen. In einer abendlichen Pressemitteilung betonte Ebel, dass Gifhorn bereits im Januar durch eine Ausgangssperre die 7-Tage-Inzidenz „eindrucksvoll“ um 140 Punkte gesenkt habe.