Der Umweltgutachter Ralf Utermöhlen zieht in seinem Essay eine kritische Bilanz unseres Umgangs mit der Klimaveränderung. Teil 2

Dr. Ralf Utermöhlen berät seit langem Unternehmen in Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen. Er ist Geschäftsführender Gesellschafter der Firmengruppe Agimus in Braunschweig. Dieser Text ist der zweite Teil einer Serie zum Klimaschutz, die auf Utermöhlens „Keynote“ zur Verleihung des Unternehmerpreises der Region 38 basiert.

In einer nachhaltigen Gesellschaft müssten auch die selbst erzeugten Nahrungsmittel eine Renaissance erfahren. Trends wie Urban Gardening oder „Iss Deine Stadt“ gehören zu einer nachhaltigen, modernen Gesellschaft untrennbar dazu. Statt unsere Gärten und urbanen Freiflächen mit nutzlosen und pflegeleichten Zierpflanzen oder gar Kies und Schotter zu vergeuden, müssten wir wieder lernen, jede geeignete Fläche mit heimischen und robusten Obst- und Gemüsearten zu bepflanzen – jeder Beitrag zur Ernährung aus dem eigenen Garten entlastet die Umwelt.

Auch Kaffee, Schokolade und andere Güter ferner Provenienz wären deutlich teurer, wenn sie durchweg fair gehandelt werden und die ökologischen Folgekosten sauber abgebildet werden – mit der Folge, dass vielleicht die Tasse Kräutertee aus dem heimischen Gartenbeet eine Renaissance erlebt. Gefragt ist der Staat, der mit Preissignalen und anderen Lenkungsinstrumenten die richtigen Rahmenbedingungen schaffen muss, damit nachhaltiger Konsum gelingt. Es mag dem einen oder anderen Befürworter eines freien Spiels der Kräfte am Markt nicht behagen, aber ich halte es für erforderlich, dass Beschränkungen die nachhaltige Transformation flankieren.

Alle Folgen zu der Klimaserie finden Sie hier.

Auch jeglicher andere Konsum außerhalb des Nahrungsmittelsektors muss sich im Sinne einer nachhaltigen Transformation komplett verändern. Nicht „neu, neu, neu“, sondern langlebig, zeitlos gestaltet und zum Recycling geeignet ist die Devise für eine nachhaltige Zukunft. Hersteller werden sich mit engen Ökodesign-Vorgaben konfrontiert sehen, die für alle Produktgruppen und Konsumgüter klare Vorgaben bezüglich Quoten von Recyclingmaterial und Rücknahmeverpflichtungen machen. Ich stelle mir hochwertige Reparaturservices vor, die es Konsumenten auch ermöglichen, ein Produkt – egal ob Telefon, Unterhaltungselektronik, Taschen oder Reiseutensilien – lange zu nutzen und auch bequem updaten oder reparieren zu lassen, einfach weil Hersteller gesetzlich verpflichtet sein werden, einen funktionierenden After-Sales-Service zu bieten.

In Bezug auf Konsum muss auch eine Haltung entstehen, die ich gerne als neue Coolness bezeichne. Cool ist nicht mehr derjenige, der alle drei Jahre einen neuen PS-Boliden fährt, sondern derjenige, der eine hocheffiziente Heizungsanlage vorführt oder eben nachhaltige Textilien trägt. Spezialgeschäfte, die ausschließlich Bekleidung, die fair und ökologisch hergestellt wurde vertreiben, gibt es schon heute, aber es ist doch geradezu absurd, dass manche ihren Kindern gestatten, für 150 Euro eine Jeans zu kaufen, die schon beim Neukauf zehn Löcher hat, aber wenn jemand einen Pullover trägt, der am Ärmel sichtbar gestopft wurde, dann ist das nicht schick?

Daher muss gelten: Repariert oder aus Recyclingmaterial ist gut, neu muss nicht immer sein und 20 neue Shirts und Tops pro Saison braucht kein Mensch. Aus diesen Gedanken folgt, dass Sorgearbeit und Handwerk in einer nachhaltigen Gesellschaft wieder höher bewertet werden, als aktuell. Der regionale Reparaturservice, der Pflegeberuf, die Lehrenden und Schulenden – sie werden in einer nachhaltigen Gesellschaft einen höheren Beitrag zum BIP beitragen als in der heutigen Welt. Ein besonderes Augenmerk muss in einer nachhaltigen Gesellschaft dem Umgang mit der Natur gelten. Wir werden es uns nicht mehr leisten können, Naturräume vornehmlich wirtschaftlichen Interessen, Infrastrukturbelangen oder anderen Nutzungen zu unterwerfen. Der zur Verfügung stehende Raum muss der Abwägung des Dreiklangs von Natur – und Artenschutz, Nahrungsmittelgewinnung und Energieerzeugung unterliegen. Ich erwarte und prognostiziere Renaturierungen und Gebiete, zu denen Menschen keinen Zugang haben oder nur den Zugang einer sanften, nachhaltigen Bewirtschaftung, zum Beispiel von Wäldern.

Das alles wird einfacher, wenn wir uns allen und vornehmlich jungen Menschen wieder mehr Bildung und Verständnis für Ökologie und Naturschutz angedeihen lassen. Das Verständnis für die Notwendigkeit, dass wir nur als Bestandteil einer belebten Natur existieren können und dass jedes Tier – und sei es die Wespe, die den einen oder anderen nervt – einen hohen ökologischen Nutzen hat, wird einer nachhaltigen Gesellschaft wieder mehr ins Bewusstsein gerückt sein. Jeder hat bereits gehört, dass die Bestäubungsleistung der Natur zur Gewinnung von Nahrungsmitteln weltweit einen Gegenwert von vielen Milliarden Euro hat.

Diese eher wirtschaftliche Betrachtung ist aber nur eins – es geht um den Erhalt von Böden, den Erhalt einer Biosphäre, die uns neben Sauerstoff, Nahrungsmitteln und Erholungsraum mit allem anderen versorgt, was Menschen zum Überleben brauchen.
Wenden wir uns einem weiteren breit diskutierten Thema zu: Der Energieversorgung in einer nachhaltigen Gesellschaft. Natürlich muss und wird die Energieversorgung komplett regenerativ sein. Technisch ist dies kein Problem – natürlich ist das möglich, und nur der Zeitpunkt der Energiewende ist politisch gewählt. Da fossile Energieträger auf jeden Fall endlich sind, wird irgendwann für die Welt ohnehin der Zeitpunkt gekommen sein, sich komplett regenerativ zu versorgen. Aufgrund der Klimaveränderungen ist es einfach klüger, dies zwei oder drei Jahrhunderte früher zu tun, alle fossilen Quellen stillzulegen und sich regenerativ zu versorgen. Da die regenerativen Energien Wind und Sonne bekanntermaßen zu bestimmten meteorologisch gegebene Zeitpunkten und Orten zur Verfügung stehen und nur ein sehr geringer Teil der regenerativen Energien (Biomasse, Biogas) chemisch gebundenen ist und damit gelagert und nach Bedarf eingesetzt werden kann, muss die Infrastruktur komplett umgekrempelt werden: Es sind Transportnetze von den Orten, an denen viel regenerative Energie erzeugt werden kann (wind- und sonnenreiche Standorte) zu den Verbrauchsstellen zu errichten und Speicher für die anfallenden Energiemengen, die im Moment der Erzeugung nicht gebraucht werden. Gerade die Speicherung von Strom und Wärme in den erforderlichen Größenordnungen ist ein Innovationsfeld, welches noch erheblichen Entwicklungsbedarf hat: Pumpspeicher, Fallwasserspeicher, Druckluftspeicher, leistungsfähigere chemische Speicher, weitere Verbesserung der Power-to-Gas Technologie und Innovationen wie Wasserdruckbatterien, wie sie vom Fraunhofer Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik im Jahr 2016 im Bodensee erfolgreich demonstriert wurden, bieten funktionierende Lösungsansätze, stehen aber in der erforderlichen Kapazität noch nicht zur Verfügung. Es gilt somit tatsächlich, Investitionen von mehreren hundert Milliarden zu veranlassen, die Schätzungen belaufen sich in einer Größenordnung von 335 bis 550 Milliarden Euro bis zum Jahr 2031 allein für die Bundesrepublik in Netze, Speicher und Erzeugungsanlagen.

Bürger müssen sich an Veränderung im Landschaftsbild gewöhnen. So, wie die Menschen vor 120 Jahren sich daran gewöhnen mussten, dass statt Pferden und Kutschen mehr und mehr knatternde Autos die Straßen und urbanen Räumen eroberten, sollten wir uns an Windräder, Freiflächenphotovoltaik und Überlandleitungen gewöhnen. Mir ist bewusst, dass es viele Bürger gibt, die „eigentlich für die Energiewende“ sind – aber das Windrad in ihrer unmittelbaren Nähe möchten sie dann doch nicht. So verständlich das es teilweise sein mag, es geht nicht.

Die Energieerzeugung muss sehr sensibel mit den teilweise vorrangigen Belangen des Naturschutzes abgewogen werden, aber nicht mit den Partikularinteressen oder gar Befindlichkeiten einzelner Bürger. Für ein Gelingen der Vollendung der Energiewende ist die Politik gefordert: Es bedarf einer Konkretisierung des Masterplans und eines Durchsetzungsregelwerks, aber es braucht auch noch technische Innovationen. Es ist übrigens auch schlicht falsch, zu behaupten, die Energiewende sei grundsätzlich zu teuer. Viel zu lange haben sich Bürger und Unternehmen an sehr billige Energiepreise gewöhnt, weil weder hier noch in anderen Ländern die externen Kosten der Energieversorgung internalisiert wurden.

Wir verfeuern jährlich eine Energiemenge, die vor Millionen Jahren innerhalb von Jahrhunderten gespeichert wurde. Wo noch vor ein oder zwei Generationen für eine ganze Familie wenige Räume beheizt wurden, da beheizen und beleuchten wir heute für eine oder zwei Personen die dreifache Fläche, wir führen einen energieintensiven Lebensstil mit permanentem Konsum energieintensiv hergestellter Güter und diese Energie soll möglichst wenig kosten. Wo steht eigentlich geschrieben, dass Energie so billig sein muss? Es handelt sich um eine endliche, knappe Ressource, die sehr wertvoll ist und die daher teurer sein müsste und es auch stets gewesen wäre, wenn die Umwelt- und Klimafolgen mit eingepreist worden wären und nicht auf künftige Generationen oder Gemeinkosten (aus Steuermitteln) umgelegt worden wären. Die konventionellen Energien wurden und werden aus Steuermitteln gefördert, die regenerativen vom Verbraucher bezahlt. Die richtige Kommunikation wäre: „Liebe Bürger, Energie war immer zu billig, sie wird deutlich teurer werden (ob mit oder ohne Energiewende), stellt Euch darauf ein und lebt energieeffizienter oder nehmt die Kosten in Kauf.“ Es ist ein Irrweg, Unternehmen und Bürgern glaubhaft machen zu wollen, dass etwas so Wertvolles und knappes wie Energie dauerhaft so günstig zu erhalten sein wird. Das mag Politikern, die in Vierjahresrhythmen gewählt werden müssen, schwer über die Lippen gehen – wäre aber zumindest ehrlich.

Hier geht es zu Teil 1 des Essays.

Im dritten Teil geht es um Mobilität.