Braunschweig. Die Chemiewaffen der Wehrmacht wurden teils bei Kriegsende, teils danach von den Briten beseitigt. Ein Senfgas-Unfall von 1980 ist noch ungeklärt.

In der Nähe von Lehre liegen in einem Wald in einem Bereich Munitionsreste, die angeblich mitunter Senfgasgranaten aus dem Zweiten Weltkrieg enthalten. Könnt ihr da mehr auftun?

Dies schreibt Facebook-Nutzer „Sam Rapula Brunotte“ unserer Zeitung.

Zum Thema recherchierte Andreas Eberhard

Während des Ersten Weltkrieges wurde Giftgas in großen Mengen eingesetzt – mit furchtbaren Folgen für die Soldaten und Zivilisten, die diesen Kampfstoffen ausgesetzt waren. Obwohl an den europäischen Fronten des Zweiten Weltkrieges letztlich so gut wie keine Chemiewaffen eingesetzt wurden, waren die Kriegsgegner dennoch für den Einsatz gerüstet. Entsprechende Giftgas-Vorräte hortete die Wehrmacht gegen Kriegsende auch in einem Wald bei Lehre.

Laut der historischen Unterlagen, die Uwe Otte, ehemaliger Ratsherr der Gemeinde Lehre, für sein Buch über die ehemalige Heeresmunitionsanstalt (Muna) im Waldgebiet Kampstüh ausgewertet hat, lagerten hier am 20. März 1945 in den Bunkern 6105 Tonnen Giftgasmunition: Die je fünf Zentner schweren Bomben, gefüllt mit dem Hautkampfstoff Lost (Senfgas) und dem Nervenkampfstoff Tabun, waren Ende 1944 aus Schlesien, auf das die Rote Armee immer weiter vorrückte, hierher geschafft worden.

Während das stechend riechende Giftgas Lost Blasen auf der Haut und Reizungen der Schleimhäute verursacht, führt das Tabun durch Lähmung des zentralen Nervensystems über Erblindung, Atmungshemmung und stärkste Krämpfe zum Tod.

„Spitzenkampfstoff“ Tabun

Laut Otte wurden die Tabun-Kampfmittel in letzter Minute vor Kriegsende von den Deutschen abtransportiert: „Dies geschah, um zu vermeiden, dass dieser sogenannte Spitzenkampfstoff der Wehrmacht in Feindeshand gelangt.“ Die Munition sei auf Kähne verladen und versenkt worden – wo, ist laut Otte unklar. Noch am 11. April 1945, als sich ein Wehrmachtsoffizier früh morgens von der Ausführung des Befehls überzeugt hatte, rückten US-Truppen in Lehre ein.

Während die konventionelle Munition auf der benachbarten Neuen Wiese gesprengt wurde, transportierten die britischen Besatzungstruppen die von der Wehrmacht zurückgelassenen Lost-Kampfstoffe – 7000 Gasbomben – 1949 per Bahn ab. „Sämtliche Giftbehälter aus Lehre sind damals mit Hilfe der Engländer in die Nordsee geworfen werden. Heute gibt es keine einzige Gift-Granate mehr hier“, berichtete Erwin Vernier 1979 unserer Zeitung. Der einstige Bunkerverwalter der Muna führte von 1934 bis 1951 Buch über die eingelagerten Bomben und Granaten.

„Eines weiß ich“, sagte Vernier, „Giftgasgranaten liegen nicht mehr hier. Davor hatten alle zu viel Angst, und deswegen waren wir entsprechend sorgfältig.“ Aber selbst wenn Giftbomben zurückgeblieben waren, so Vernier 1979, wäre das dünne Blech der Giftbehälter der Bomben seiner Einschätzung nach „längst durchgerostet und der Inhalt verflogen und versickert“.

Dem entgegen stehen zwei Berichte der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ von Anfang April 1980. Das Blatt berichtete damals über einen Schüler, der sich „beim Spiel“ mit einer Senfgasgranate lebensgefährlich verletzt hatte. Der Polizei sagte der 18-Jährige damals, die Granate und eine weitere auf dem Gelände der ehemaligen Muna ausgegraben zu haben. Ernsthaft nachgegangen wurde dieser Aussage damals nicht, so Otte.

Uwe Otte: „Unsicherheit bis heute“

Immerhin wurde das Ex-Muna-Gelände in den achtziger Jahren intensiv nach Kampfmitteln abgesucht – und hierbei wurde auch Senfgas-Munition gefunden. Die Bergungsfirma Schollenberger listete neben Tausenden anderer Granaten, Minen und Munitionsstücke auch zwei 1987 gefundene Lost-Granaten auf.

Der Unfall 1980 und die Existenz dieser Granaten steht für Otte im Widerspruch zu den Beteuerungen, das Gelände sei mit Sicherheit frei von den Giftgranaten. „Aus meiner Sicht wurde das nie wirklich aufgeklärt“, betont er. „Für mich zeigt das die Unsicherheit, die hier immer bestand und bis heute besteht.“

Offiziell gelten heute sowohl die ehemalige Rüstungsfabrik, die mittlerweile einem Investor gehört, als auch das umgebende Bunker-Gelände, die heutige Naturerbefläche Beienroder Holz, als vollständig kampfmittelfrei. Laut Kampfmittelbeseitigungsdienst sei eine Belastung nicht mehr gegeben, teilt die Deutsche Bundesstiftung Umwelt unserer Zeitung mit. Dass Teile ihrer Naturerbefläche in dem Waldstück heute gesperrt sind, liege daran, dass die dortigen Bunker „nicht mehr verkehrssicher“ seien.