Lehre. Nach Jahrzehnten steht die Räumung der „Neuen Wiese“ bei Lehre bevor. Umweltschützer kritisieren die geplante Umsetzung.

Wer nicht weiß, dass die Neue Wiese hochgradig mit Kampfmitteln verseucht ist, bekommt davon beim Spaziergang durchs Beienroder Holz wenig mit. Kein Zaun sichert die Fläche im Waldgebiet zwischen Lehre und der Autobahn A39. Erst nach gezielter Suche stößt man auf das Warnschild der Niedersächsischen Landesforsten, dem Forstunternehmen des Landes, dem das Grundstück gehört, auf dem der Wald über lichten Erlenbewuchs in eine Wiese übergeht: „Betreten verboten, Gefahr für Leib und Leben“, steht auf dem von umstehenden Buchen halbverdeckten Schild. „Weniger Sicherung geht doch kaum“, sagt Uwe Otte aus Lehre.

Immerhin scheint ein Ende des Kampfmittelproblems in Sicht. Ab Herbst dieses Jahres, so der zuletzt vom Landkreis Helmstedt genannte Termin, soll das Areal geräumt werden – wenn es grünes Licht gibt. Denn noch läuft die naturschutzrechtliche Prüfung. Das Gelände ist ein Flora-Fauna-Habitat-Schutzgebiet, ein Naturschutzgebiet nach EU-Recht, eingerichtet vor allem, um den Kammmolch, zu schützen. Der etwa fingergroße Schwanzlurch nutzt die Tümpel auf der Neuen Wiese zur Eiablage und als Kinderstube. Ein Kammmolch-Paradies mit Kampfmittelproblem.

Oder hat die Kampfmittelräumung ein Kammmolch-Problem? „Zu der geplanten Maßnahme gibt es keine Alternative“, schreiben die Landesforsten in ihrem Räumvorhaben. Schließlich berge der Status Quo direkte Gefahren – durch Sprengstoffe und chemische Kampfmittel an der Erdoberfläche – als auch indirekte durch das Einsickern der Stoffe ins Grundwasser. Vor allem diese Gefahr treibt auch Otte um: „Wenn unterschiedliche Sprengstoffe und Kampfstoffe miteinander reagieren, sind die Folgen unabsehbar.“ Damit ist die Neue Wiese in der Region wohl die am stärksten durch Kampfstoffe belastete Fläche.

Bereits seit Anfang der achtziger Jahre kümmert sich der 62-Jährige um das historische und das giftige Umwelt-Erbe der „Muna“. In der ab 1934 errichteten Heeresmunitionsanstalt im Kampstüh, einem Teil des Waldes, ließ die Deutsche Wehrmacht bis Kriegsende Infanteriewaffen, Tellerminen, Panzergeschosse und Granaten für Kanonen – bis zu einem Kaliber von 38 Zentimetern für Schlachtschiffe – fertigen. Neben Deutschen waren in der Muna auch mehrere Hundert Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter aus Osteuropa im Einsatz – unter erbärmlichen Arbeitsbedingungen.

Otte stammt aus Lehre, ist hier aufgewachsen. „Das Wort Muna klang damals für uns geheimnisvoll und unklar. Außerdem wusste man als Jugendlicher hier im Ort: Da kann man einsteigen und alte Munition finden.“ Mit zunehmendem Alter aber wich der abenteuerliche Reiz zunehmender Sorge über die Munitionsbelastung. Er begann sich in der Bürgerinitiative „Basisgruppe Lehre“ zu engagieren. Weil er mit dem Aufklärungswillen der Gemeinde unzufrieden war, ließ er sich in den Gemeinderat wählen, fragte kritisch bei Behörden nach und arbeitete die Geschichte der Muna in einem Buch auf.

Die heutigen Belastungen rühren vor allem aus der Nachkriegszeit: 1945 begannen die britischen Besatzungstruppen mit der Zerstörung der Munition, die sie in der Muna und ihren knapp 100 unterirdischen Bunkern gefunden hatten: Bis Februar 1951 transportierten sie die Munition auf die Neue Wiese, schichteten sie zu Haufen auf und jagten diese in die Luft. „Ein Teil der Munition, sowie Munitionsreste wurden auf diese Weise über das Gelände verteilt“, heißt es im Gutachten des Landesforsten. „In den im Zuge der Sprengungen entstandenen Trichter wurden Tonbehälter vergraben, die Reiz- und möglicherweise auch Giftstoffe enthalten.“ Während das eigentliche Muna-Gelände heute als kampfmittelfrei gilt (siehe Artikel unten), wurde die neue Wiese durch diese unsachgemäße Art der Entsorgung schwer belastet.

Trotzdem – vielleicht gerade deshalb, weil die Fläche nicht betreten werden darf – hat der sensible Kammmolch hier ideale Lebensbedingungen. Für die Räumung jedoch muss das Erdreich flächendeckend mit dem Bagger abgetragen werden – in den alten Sprengtrichtern und darüber hinaus. Auch das Erlenwäldchen muss weichen. Da die Molchart streng geschützt ist, haben die Landesforsten, die die Räumung organisieren, Vorschläge gemacht, wie die Eingriffe in den Lurchlebensraum ausgeglichen – laut Landesforsten sogar langfristig noch verbessert werden soll. Doch diese reichen den Naturschutzverbänden nicht aus. Die Umsetzung der Molche in ein nahes größeres Gewässer seien eine „Gedankenkonstruktion“ und „Scheinlösung“, heißt es in der BUND-Stellungnahme, die unserer Zeitung vorliegt. Ihr Verfasser, Karl-Friedrich Weber, moniert, in dem vorgesehenen Ersatz-Gewässer sei noch nie ein Kammmolch gesichtet worden. Das spreche dagegen, dass es für die Tiere überhaupt infrage komme. „Ohne jeden Erfolgsnachweis sind solche Vorschläge in meinen Augen Kaffeesatzleserei.“

Die Verbände – neben dem BUND auch der Nabu – fordern stattdessen, dass in der Nähe neue kleinere Laichtümpel für die Molche geschaffen werden, die dauerhaft frei von Fischen bleiben. Vor allem aber wollen die Naturschützer, dass die Landesforsten im Umfeld der Neuen Wiese, wo der Kammmolch außerhalb der Fortpflanzungsperiode lebt, schonender wirtschaften. „Die Zerstörung des Oberbodens und die Kahlschläge müssen aufhören“, sagt Weber. „Wenn hier schon Lebensraum verschwindet, sollte wenigstens drumherum alles unterlassen werden, was ihn weiter negativ beeinflusst.“ Gerade auf Landesflächen wie dieser müsse der Staat vorbildhaft handeln, fordert der Förster im Ruhestand. Das komme aber zu kurz.

Dass die Kampfmittelräumung an ihnen scheitert, wollen die Naturschützer dennoch auf keinen Fall. „Die Kampfmittelräumung ist von nationalem Interesse“, sagt Weber, „das hat Vorrang“. Schließlich müsse „Naturschutz auch akzeptabel bleiben“.

Grundsätzlich dieser Meinung ist auch Reinhard Wagner vom Nabu Helmstedt. Trotzdem fordert er, die Landesforsten sollten zunächst nachweisen, dass das geplante Umsetzen der Amphibien Erfolg verspreche: „Das hätte man schon viel früher machen können. Stattdessen wurde Zeit vertan, und jetzt kommt man unter Druck.“ Wagner ist der Ansicht, die Naturschützer sollten sich diesen Druck nicht zu eigen machen: „Dass hier über 60 Jahre nicht geräumt wurde, liegt ja nicht an uns.“ Im Frühjahr 2020 werde man feststellen können, ob der Kammmolch die Ausweichgewässer annehme. „Wir haben so lange gewartet, da kommt es auf ein Jahr auch nicht mehr an.“

Uwe Otte dagegen möchte nicht länger warten: „Wir“ – er und die anderen Mitglieder der Basisgruppe Lehre – „hoffen, dass es nun endlich, endlich losgeht.“ Einen letzten Rest Skepsis kann er dennoch nicht verbergen. Die beruht wohl auch auf Erfahrungswerten. Immer wieder in den vergangenen Jahrzehnten sei versucht worden, das Problem auszusitzen. Noch 2002 habe der Landkreis zwei Gutachten verfassen lassen, die von einer Räumung abrieten – „angesichts der unverhältnismäßig hohen Kosten für eine vollständige Räumung des Standortes“, wie es in einem der Dokumente heißt. Allerdings, so Otte, hätten die Gutachten selbst 20.000 Euro gekostet – „rausgeschmissenes Geld“.

Otte sieht hierin eine Verhinderungstaktik. Er erklärt sie sich so: „Ich habe das Gefühl, dass die spezielle Gemengelage aus NS- und Umweltproblematik Abwehrreflexe auslöst.“ Solange die Neue Wiese munitionsverseucht ist, werde es bei dieser problematischen Verknüpfung bleiben. „Erst wenn die Räumung vollzogen ist, ist die Nachkriegszeit in Lehre endlich vorbei.“