Braunschweig. In einer Regionalkonferenz in Braunschweig werden Projekte zur besseren Mobilität vorgestellt. Etwa eine App für Rollstuhlfahrer oder Gehörlose.

Barrierefrei bedeutet für mich als Schwerhörige/Gehörlose nicht nur, ob genug Platz in der Bahn ist, sondern auch, dass die Anzeigen funktionieren.

Das bemerkt Aykut Melisa auf unseren Facebookseiten

Zum Thema recherchierte Katrin Schiebold

Wenn ein Rollstuhlfahrer mit Bus und Bahn unterwegs ist, trifft er mitunter auf unüberwindbare Hindernisse: zu hohe Bordsteinkanten, zu hohe Einstiege, steile Treppen, fehlende Rampen, enge Sitzreihen. Es fehlen verlässliche Informationssysteme, die anzeigen, wann geeignete Fahrzeuge für Gehbehinderte fahren ebenso wie Anzeigen für Sehbehinderte oder Schwerhörige. Aber Barrierefreiheit ist längst nicht mehr nur für Menschen mit Beeinträchtigungen ein Thema. Auch für Familien mit Kinderwagen kann die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Problem werden.

Bis 2022 soll der öffentliche Nahverkehr barrierefrei sein;das schreibt das Personenbeförderungsgesetz vor. „Doch es gibt noch viele Barrieren – es fehlen nicht nur Rampen und Aufzüge, sondern auch intelligente Verkehrssysteme, die es Menschen ermöglichen, selbstbestimmt zu sein“, sagt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Bei der ersten von bundesweit sechs Regionalkonferenzen zum Thema Inklusion am Montag in der Braunschweiger Stadthalle sind solche Hindernisse ein Thema. Fachleute aus Bund, Ländern, Kommunen, der Wissenschaft und Praxis tauschen sich darüber aus, wo es hakt und was getan werden muss, um Probleme abzustellen.

In den Städten werden alte Busse und Bahnen nach und nach durch barrierefreie ersetzt,wenngleich auch hier eine uneingeschränkte Mobilität nicht überall gegeben ist. Auf dem Land tun sich meist noch größere Lücken auf. Meike Moog-Steffens, Bürgermeisterin der Stadt Schneverdingen in der Lüneburger Heide, schildert die Lage etwa so: Die Stadt zählt 18.800 Einwohner und besteht aus zehn Ortschaften auf einer Fläche von 235 Quadratkilometern. Ein Ortsteil liegt 10 Kilometer von der Stadt entfernt und ist schlecht an den öffentlichen Nahverkehr angebunden „Es gibt einen ehrenamtlichen Bürgerbus, der barrierefrei ist.“ Wenn die ehrenamtlichen Fahrer aber wegfallen, breche das System zusammen.

In anderen Gebieten des Flächenlandes sieht es nicht besser aus. Bundesarbeitsminister Heil macht deutlich, welche Herausforderungen selbst in unserer Verkehrskompetenz-Region noch vor uns liegen: „Wie kommt man von Wittingen im Kreis Gifhorn barrierefrei nach Braunschweig zum Einkaufen oder zur Arbeit nach Wolfsburg?“, fragt er. In unserer Region werden Autos und Züge hergestellt, moderne Verkehrslösungen entwickelt – es gibt viele Möglichkeiten. „Aber wir müssen sie auch anwenden.“

Was man unter vollständigen Barrierefreiheit versteht, ist zum Beispiel ein Thema, mit dem sich der Zweckverband Verkehrsverbund Bremen/Niedersachsen intensiv beschäftigt. In sechs Landkreisen von Osterholz bis zur Wesermarsch und Städten wie Oldenburg und Bremen erarbeiten Behindertenverbände, Verkehrsunternehmen, Kommunen und andere Gruppen gemeinsam ein Konzept.

„Ziel ist es, dass Menschen mit Behinderungen den öffentlichen Nahverkehr nutzen können, ohne dass sie auf die Hilfe von Fachpersonal angewiesen sind“, sagt Tim Semmelhaak vom Zweckverband. Es geht um Themen wie die Höhe von Bordsteinkanten ebenso wie die Frage, wie man in abgelegenen Gebieten mit Haltestellen an Landstraßen umgeht, wo der Zugang und das Warten für Menschen mit Beeinträchtigungen häufig gefährlich ist. „Oft gibt es auch Konflikte mit dem Radverkehr“, sagt Semmelhaak. Menschen mit Beeinträchtigungen seien zudem auf Informationen angewiesen, um selbstbestimmt von A nach B zu gelangen. Sie müssten erfahren, wo die nächste Haltestelle ist, worauf sie gegebenenfalls beim Umsteigen achten müssen und wo man barrierefrei einsteigen kann. „Auch da gibt es noch viel Nachholbedarf.“

Solche Informationen bereitzustellen, war die Aufgabe eines Projektes unter Beteiligung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Das Institut für Verkehrssystemtechnik in Braunschweig hat die App „aim4it“ entwickelt und in zwei Pilotprojekten in Wien und Karlsruhe erprobt: Nutzer können ihren Fahrtwunsch per Mobiltelefon eingeben und erhalten für ihre Strecke etwa Informationen über Verspätungen oder barrierefreie Umsteigemöglichkeiten. Menschen mit Sehbehinderungen bekommen eine Sprachmitteilung, Gehörlose eine Nachricht in Gebärdensprache – denn sie stehen bei Ansagen völlig hilflos da, wie unsere Leserin ja auch anmerkt.

Rollstuhlfahrer oder bewegungseingeschränkte Fahrgäste können zudem eingeben, wann sie möglicherweise Hilfe beim Ein- und Aussteigen brauchen oder ob sie eine verlängerte Umsteigezeit benötigen. Den Bus- und Straßenbahnfahrern wird daraufhin auf einem Display im Fahrzeug angezeigt, an welcher Haltestelle sie einen längeren Aufenthalt einplanen müssen, um auf die später zusteigenden Fahrgäste zu warten. Zudem sehen sie so schon im Vorfeld, wann sie die Rampe für Rollstuhlfahrer ausklappen müssen.

Katharina Karnahl vom DLR sieht die Digitalisierung dann auch als Chance, um die Barrierefreiheit insgesamt zu verbessern. „Mit Hilfe dieser App gibt es die Möglichkeit, Angebote viel besser zu individualisieren und auf die Bedürfnisse der Fahrgäste zuzuschneiden“, sagt sie. Mobilität sei längst kein „Randproblem“ mehr. „Unsere Gesellschaft wird immer älter und damit muss sich auch der Zugang zum öffentlichen Nahverkehr wandeln.“