Braunschweig. In Niedersachsen setzt die Justiz auf ein Programm, dass Islamisten Wege aus der salafistischen Szene zeigt.

Unser Leser Sebastian Kölsch schreibt auf unserer Facebook-Seite:

Gar nicht erst wieder reinlassen nach Deutschland, solche potenziellen Terroristen.

Zu dem Thema recherchierte Katrin Schiebold

Harry S. sitzt hinter Gittern, als die Reise in den Dschihad beginnt. Der Bremer hatte mit Freunden einen Supermarkt ausgeraubt und war zu zwei Jahren Haft verurteilt worden. Im Gefängnis lernt er einen Salafisten kennen, der ihm schnell einbläut, was der „wahre Islam“ ist. 2015, drei Jahre nach seiner Freilassung, reist Harry S. nach Syrien und schließt sich dem Islamischen Staat an. Bekannt wird er, weil er in einem Propagandavideo des IS die schwarze Fahne durchs Bild trägt. Zu sehen ist auch, wie mehrere Gefangene der Terrormiliz hingerichtet werden.

Der Fall Harry S. steht beispielhaft für den Werdegang etlicher Islamisten: In einer Phase persönlicher Krisen geraten Jugendliche in die Fänge radikaler Salafisten – zum Beispiel solche, die im Auftrag der Terrormiliz IS Anhänger in Deutschland rekrutieren. Wie angeblich der Hildesheimer Prediger Abu Walaa und vier seiner mutmaßlichen Helfer, die sich derzeit unter anderem wegen Mitgliedschaft und Unterstützung des IS vor dem Oberlandesgericht in Celle verantworten müssen. Oder solche, die für den IS in Syrien oder dem Irak gekämpft haben und nun wieder zurück in ihrer Heimat sind.

Solche Islamisten gar nicht erst nach Deutschland einreisen zu lassen, wie es unser Leser fordert, ist in vielen Fällen gar nicht möglich. Viele mutmaßlichen Terroristen sind Deutsche. Nach Angaben des niedersächsischen Innenministeriums hat von den sogenannten Gefährdern in Niedersachsen, die nicht im Gefängnis sitzen, rund die Hälfte die deutsche Staatsbürgerschaft. Ihnen kann auch nicht einfach der Pass entzogen werden: Niemand darf staatenlos gemacht werden. Einige davon haben aber neben dem deutschen auch einen ausländischen Pass. In solchen Fällen soll es nach den Plänen der Bundesregierung künftig möglich sein, einer Person die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen, wenn sie sich nachweislich an terroristischen Kampfhandlungen im Ausland beteiligt hat. Ein entsprechender Gesetzentwurf soll bis Frühjahr 2019 vorgelegt werden. Dennoch mehren sich vor allem in der SPD die Stimmen, dass der Passentzug nicht die einzige Lösung bleiben darf: Wenn Dschihadisten aus den IS-Gebieten zurückkehren, brauche es Strafverfolgung und Deradikalisierung. Auch in den Haftanstalten.

Tatsächlich wächst mit der zunehmenden Zahl von verurteilten Syrien-Rückkehrern und IS-Kämpfern die Sorge, dass die Gefängnisse zu Brutstätten der Radikalisierung werden könnten. Nach einer Studie des King’s College in London aus dem Jahr 2016 wurden 27 Prozent aller europäischen Dschihadisten im Gefängnis von islamistischen Predigern radikalisiert. Untersucht wurden die Lebensläufe von 79 Dschihadisten aus Deutschland, Belgien, Großbritannien, Dänemark, Frankreich und den Niederlanden. Von den 15 untersuchten deutschen Dschihadisten saßen sechs vor ihrer Festnahme bereits wegen kleinerer Delikte im Gefängnis.

In Niedersachsen gibt es seit Anfang 2016 ein Programm zur Deradikalisierung und Ausstiegsbegleitung für islamistische Gefangene in Zusammenarbeit mit dem „Violence Prevention Network“ (VPN), einem bundesweit anerkannten Fachträger. Dieser hat durchaus positive Erfahrungen gemacht: „Im Vollzug werden Betroffene sehr ansprechbar; wir erleben sehr oft, dass die Tür noch offen ist“, sagt VPN-Geschäftsführer Thomas Mücke. Zunächst gehe es darum, mit den Insassen ins Gespräch zu kommen: Was sind die Fragen, die sie sich stellen? Welche Zweifel haben sie? „Es handelt sich schließlich um Menschen, die in einem geschlossenen Kokon leben; sie müssen wieder lernen, selbstständig zu denken.“

Und dann gehe es auch um ganz praktische Fragen: „Wer sich in den Dschihad verabschiedet hat, lässt Freunde und Familie hinter sich und hat oft auch eine Ausbildung abgebrochen“, erklärt Mücke. „Der hat sich entfremdet.“ Betroffene müssten erst wieder in ihr soziales Umfeld eingeführt werden und sie brauchten eine berufliche Perspektive. Nach der Haft beginnt deshalb die sogenannte Stabilisierungsphase: Die Entlassenen müssen dauerhaft in der Gesellschaft Fuß fassen.

Dass selbst vermeintlich hoffnungslose Fälle zu einem Umdenken bereit sind, zeigt wieder das Beispiel des Bremers Harry S.: Im vorigen Jahr wurde er wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung und Verstößen gegen das Waffengesetz zu drei Jahren Gefängnis verurteilt; er sagte gegen andere deutsche Kämpfer aus und konnte das Gericht überzeugen, dass er mit dem Dschihad gebrochen hat.