Braunschweig. Generalstaatsanwalt Norbert Wolf geht an diesem Montag in den Ruhestand. Vorher hat der meinungsstarke Jurist noch einiges zu sagen.

Generalstaatsanwalt Norbert Wolf steht seit 14 Jahren an der Spitze der Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig. Der Jurist geht nun in den Ruhestand. Vorher sprach er mit Armin Maus und Andre Dolle über die Spahn-Debatte, No-Go-Areas und den Abgas-Skandal.

CDU-Minister Jens Spahn hat eine Debatte losgetreten. Er behauptet, dass der Staat nicht mehr willens oder in der Lage sei, Recht durchzusetzen. Was sagen Sie dazu?

Wir sind sehr entschlossen, das Recht durchzusetzen – auch gegen Widerstand. Ich erinnere mich an die Zeit, als wir vor knapp drei Jahren Straftäter hatten, die sich unter die Flüchtlinge in der Landesaufnahmebehörde Braunschweig gemischt hatten. Die Polizei gründete die Soko Zentrale Ermittlungen, unsere Staatsanwaltschaft hatte auf einen Schlag 400 Verfahren mehr. Wir haben reagiert und häufig beschleunigte Verfahren mit Hauptverhandlungshaft eingesetzt. Die Täter wurden an Ort und Stelle festgenommen und spätestens eine Woche später abgeurteilt. Das hat sich schnell herumgesprochen.

Herr Spahn behauptet, dass Drogendealer 20 Mal ertappt und doch immer wieder laufen gelassen werden. Ist das so?

Ich kenne solche Fälle nicht. Ich meine allerdings, wir sollten unsere Kräfte konzentrieren. Da, wo geschlagen, gemordet, gestohlen oder eingebrochen wird, da müssen wir konsequent verfolgen und den Bürger schützen. Wir sollten uns nicht verzetteln. So schützen viele neue Strafgesetze immer abstraktere Rechtsgüter. Der Schutz des Menschen, seiner Rechte, tritt dabei zurück. Ich verweise auf das Anti-Doping-Gesetz vom 10. Dezember 2015, das den dopenden Sportler als gefährlichen Straftäter entdeckt hat. Dies ist ein Beispiel für die Rückkehr zum bereits überwunden geglaubten Strafrechtsschutz bloßer Moralvorstellungen.

Empfinden Sie die Spahn-Debatte als populistisch?

Wir sind längst weiter. Gerade bei häufig auffallenden Intensivtätern reagieren wir sehr entschieden. Wir haben etwa Fallkonferenzen für jugendliche Intensivtäter. Da ist neben der Staats- anwaltschaft auch die Polizei und die Jugendhilfe beteiligt. In diesen Fällen ermitteln wir nicht routinemäßig, sondern personenbezogen. Sämtliche Verfahren, die einen Intensivtäter betreffen, werden bei einem Staatsanwalt und einem Polizeibeamten zusammengezogen. Erkenntnisse gehen so nicht verloren, jede Entscheidung wird genau auf die Person des Beschuldigten abgestimmt.

Wie werten Sie zum Beispiel den Fall des wiederholt auffälligen Neonazis, der vor zweieinhalb Jahren zwei Schüler der Neuen Oberschule in Braunschweig attackiert, und einem der beiden per Tritt den Kiefer gebrochen hatte? Der Täter bekam eine Bewährungsstrafe.

Kurze Zeit später, während der Bewährung, hat er einen anderen Menschen mit Pflastersteinen beworfen. Wieder gab es Bewährung. Die Staatsanwaltschaft hielt das Urteil für falsch und legte Berufung ein. Die Berufungskammer erkannte wieder auf Bewährung. Wir alle sollten hoffen, dass das Gericht recht hat und er nicht erneut gewalttätig wird. Falls doch, werden wir reagieren.

Ist der Staat teilweise zu weich?

Das glaube ich nicht. In Einzelfällen mag es Konflikte geben, in denen auch unsere Behörde anderer Meinung als das Gericht ist. Ich meine: Wir sollten im Einzelfall rechtzeitig intervenieren, bevor das Gericht nach erneuter Straffälligkeit die Vollstreckung mehrerer Bewährungsstrafen anordnen muss. Es gibt allerdings eine Entwicklung, die mir Sorge bereitet: Es gibt eine Untersuchung des Lehrstuhls für Kriminologie in Göttingen, die besagt, dass die Staatsanwaltschaften bundesweit 55 Prozent aller anklagefähigen Strafsachen einstellen.

Das sind Fälle, die der Laie als Nichtigkeit bezeichnen würde?

Fälle, in denen nach Auffassung der Staatsanwaltschaft kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht. Vor zehn bis fünfzehn Jahren waren es erst ein Drittel aller Fälle. Da stellt sich die Frage: Treffen die Strafgesetze noch zuverlässig? Die Gesetzesflut der letzten Jahre bringt die Gefahr mit sich, dass Strafen zunehmend als willkürlich empfunden werden. Man kann nicht nicht-kommunizieren. So enthält jede Einstellung eines Verfahrens eine Botschaft des Rechtsstaats an die Betroffenen und an die Gesellschaft. Ein Rechtsstaat, der überall stark sein will, der immer weitere Lebensbereiche strafrechtlich durchdringt, läuft Gefahr, seine Möglichkeiten zu überdehnen. Er verspricht viel und hält immer weniger.

Wie kann es sein, dass es in Deutschland in mancher Großstadt No-Go-Areas gibt? Wie kann es sein, dass es in Ostdeutschland sogenannte völkisch befreite Zonen gibt, in denen sich ein Flüchtling nicht frei bewegen kann?

Solche Gebiete gibt es bei uns nicht. Wir brauchen keine neuen Gesetze, wir müssen die bestehenden Gesetze anwenden. Polizei, Staatsanwaltschaften und Gericht müssen handlungsfähig bleiben.

Ein großes Ärgernis sind Gaffer bei Unfällen, die mit ihrem Handy Filmchen machen und die Einsatzkräfte behindern. Ihnen drohen bis zu zwei Jahre Haft, und doch scheint das keine abschreckende Wirkung zu haben. Was läuft da falsch?

Nicht Gesetze schrecken ab, sondern die Gewissheit der Bestrafung. Die Polizei, die die Unfallstelle sichert, soll jetzt auch noch an Ort und Stelle Beweise sichern und die Strafverfolgung einleiten. Wir werden sehen, ob das gelingt.

Damit Gesetze angewendet werden, brauchen Behörden Personal. Wie steht es um das Personal bei der Staatsanwaltschaft?

Im Vergleich zu früher sind wir personell ganz gut aufgestellt. Das gilt auch für unsere Ermittlungen beim Abgas-Skandal.

Wie viele Staatsanwälte ermitteln derzeit im Abgas-Skandal?

Wir haben elfeinhalb Stellen zusätzlich zur Verfügung gestellt bekommen. Die eingesetzten Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sind sehr kompetent. Viele haben sich schon lange mit großen Wirtschaftsdelikten und Korruptionsfällen befasst. Auch die internationale Dimension des Verfahrens ist ihnen nicht neu.

Finden Sie gute Leute?

Die Bewerberzahlen gehen zurück, weil der Markt für Juristen gut ist – auch in den großen Kanzleien. Der Verdienst innerhalb der Staatsanwaltschaften ist unter den Bundesländern unterschiedlich. Es gibt Unterschiede von bis zu 800 Euro brutto. Niedersachsen liegt in der Mitte. Braunschweig ist aber ein attraktiver Standort. Wir haben mit Braunschweig und Göttingen in unserem Bezirk zwei größere, reizvolle Städte, in deren Umkreis es auch attraktive Arbeitgeber für die Partner der Staatsanwälte gibt.

Bei großen Kanzleien reden wir sicher nicht nur von 800 Euro Unterschied, sondern vom Mehrfachen.

Da können wir nicht mithalten. Ich kenne jedoch manche dieser Juristen, die sagen: Ich habe super verdient, aber meine Ehe ist kaputt und ich bin ausgebrannt. Wer in einer Großkanzlei in Hamburg oder Frankfurt gearbeitet hat oder aus der Zoll- oder Steuerfahndung kommt, ist geradezu ideal für unsere Wirtschaftsstrafsachen geeignet.

Sind das auch die Leute, die im Abgas-Skandal ermitteln?

Zum Teil ja.

Der Abgas-Skandal liegt zweieinhalb Jahre zurück. Es gab aber immer wieder Razzien bei VW. Bekommen Sie ständig neue Tipps?

Die Ermittlungen schreiten stetig voran. Wir vernehmen Zeugen und stellen fest, dass es weitere Beweismittel gibt: Dateien oder Unterlagen – auch Personen, die wir noch nicht befragt haben. Deshalb dauern die Ermittlungen in diesem komplexen Fall länger. Unser Konzept und die Ergebnisse der jeweiligen Ermittlungen unterliegen dem Geheimnis. Zum Schutz der weiteren Ermittlungen, aber auch zur Schonung berechtigter Interessen von Betroffenen arbeiten wir vertraulich. Wenn wir Geschäftsräume oder Wohnungen durchsuchen, kommt das zum Teil erst Wochen später ohne unser Zutun an die Öffentlichkeit.

VW-Kunden und auch das Oberlandesgericht Braunschweig wünschen sich, dass die Ermittlungen schneller vorangehen. Im Verfahren am Gericht geht es um Aktionärsklagen in Höhe von acht Milliarden Euro. Stehen Sie unter Druck?

Nein, überhaupt nicht. Man ist versucht, bei solchen Ereignissen von fieberhaften Ermittlungen zu sprechen. Dagegen sind ein kühler Kopf und Genauigkeit gefragt.

Sind Sie mit Ihren Verfahrenslaufzeiten generell zufrieden?

Statistisch sind wir sehr gut. In unserem Bezirk von Wolfsburg bis Hann. Münden liegen wir bundesweit in der Spitzengruppe. Ermittlungsverfahren dauern bei uns im Schnitt 1,3 Monate. Bis zur Anklage benötigen wir 2,4 Monate. Danach entscheiden die Gerichte. Mir ist aber klar: In Einzelfällen nutzt es den Betroffenen nichts, dass unsere Statistik so toll ist. In jedem Einzelfall kommt es darauf an, schleunig den Sachverhalt zu klären und über Einstellung oder Anklage zu entscheiden, auch im Interesse von Geschädigten.

Verdächtige dürfen in der Regel bis zu sechs Monate in Haft bleiben, ohne angeklagt zu werden. Halten Sie das für vertretbar?

Das Gebot der Beschleunigung gilt schon unterhalb von sechs Monaten. Im europäischen Vergleich ist die Frist kurz. Bei der Fußball-WM 1998 in Frankreich schlugen deutsche Hooligans den Polizisten Daniel Nivel ins Koma. Während der in Hannover Verfolgte bereits im Strafvollzug war, saß der Hooligan, gegen den in Frankreich ermittelt wurde, noch in Untersuchungshaft. Die Ermittlungen dort dauerten 20 Monate. In Deutschland ist ein Beschuldigter spätestens nach 6 Monaten aus der Untersuchungshaft zu entlassen, wenn nicht besonders schwierige oder umfangreiche Ermittlungen eine längere Haft rechtfertigen. In unserem Bezirk hat es in den letzten zehn Jahren keine Entlassung wegen zu langer Ermittlungen gegeben.

Wenn Sie auf Ihre Amtszeit zurückblicken: Was lief gut, was weniger?

Schutz und Hilfe für Opfer von Straftaten sind wichtiger geworden. Das „Braunschweiger Modell“ zur Vernehmung kindlicher Opferzeugen, die Intervention bei häuslicher Gewalt und der Täter-Opfer-Ausgleich können sich sehen lassen. In Großverfahren arbeitet die Staatsanwaltschaft Braunschweig äußerst professionell. Anlässlich der Ermittlungen 2005 wegen Veruntreuung von Firmengeldern bei VW haben wir nicht immer angenehme Erfahrungen gesammelt, die uns heute zugutekommen. Ermittlungen im Team und der Umgang mit großen Datenmengen gehören jetzt zur Kernkompetenz. Ein großer Schritt war die Entwicklung einer elektronischen Doppelakte, die den umfangreichsten Verfahrensstoff beherrschbar macht.

Die Debatte um Ihre Nachfolge ist im Gange. Die FDP wirft den großen Parteien Einflussnahme vor und fordert einen externen Kandidaten. Wie bewerten Sie das Gerangel?

Ich hätte mir gewünscht, dass Anfang Mai ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin das Amt antreten wird. Jetzt muss mein ständiger Vertreter, der Leitende Oberstaatsanwalt Eckehard Niestroj, vorübergehend die Generalstaatsanwaltschaft leiten. Mit seiner Kompetenz und großen Erfahrung wird ihm das gut gelingen.

Ist die Nachfolgeregelung früher auch so gelaufen?

Nein, das ist sie nicht. Ich selber und mein Vorgänger sind mit dem Ausscheiden des Generalstaatsanwalts in das Amt eingeführt worden. Heute werden Entscheidungen der Landesregierung über die Besetzung solcher Ämter immer häufiger rechtlich angegriffen und von Verwaltungsgerichten überprüft. Mag sein, dass es deswegen länger dauert.

Was machen Sie als Privatmann?

Ich habe versucht, im Amt des Generalstaatsanwalts mein Bestes zu tun. Jetzt beginnt ein ganz neuer Lebensabschnitt. Familie und Freunde stehen im Vordergrund.