Wolfenbüttel. Das CDU-Urgestein kritisiert im Interview mit unserer Zeitung den Verzicht seiner Partei aufs Finanzministerium und findet lobende Worte für Gabriel.

Wolfgang Bosbach hat ein Heimspiel. Beim Kundenabend im Bankhaus C. L. Seeliger in Wolfenbüttel, das der Gastgeber zur Begrüßung als „konservativ“ beschreibt, legt das konservative CDU-Urgestein aus Bergisch-Gladbach einen Auftritt hin, der mehr an eine Unterhaltungsshow als einen Politiker-Vortrag erinnert – mit einem Parforce-Ritt durch Tages-, Europa- und Weltpolitik, gespickt mit einer Menge Anekdoten aus 23 Jahren Dienstzeit im Bundestag, die für große Erheiterung im Publikum sorgten. Vor seinem Auftritt sprach der ehemalige Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestags, der sich unter anderem wegen einer Krebserkrankung 2017 aus der Politik zurückzog, mit unserem Redakteur Johannes Kaufmann.

Herr Bosbach, was sagen Sie zum Thema des Tages, der Wiederauflage der Großen Koalition?

Andere Koalitionen waren rechnerisch möglich, aber nicht politisch. Jamaika wäre ein interessantes Projekt gewesen, aber durch den plötzlichen Ausstieg der FDP hatte sich die Lage völlig verändert.

„Ich habe Sigmar Gabriel über die Jahre hinweg als sehr angenehmen Kollegen erlebt. “
„Ich habe Sigmar Gabriel über die Jahre hinweg als sehr angenehmen Kollegen erlebt. “ © Wolfgang Bosbach, langjähriger Bundestagsabgeordneter der CDU

Sie haben sich gegenüber der vergangenen Koalition immer wieder kritisch geäußert. Wäre Ihnen eine andere Koalition lieber?

Das hängt davon ab, welche Politik diese Koalition gemacht hätte. Wir haben mit der SPD gut und vertrauensvoll zusammengearbeitet. Aus der Perspektive eines Innenpolitikers muss ich sogar sagen, dass es mit der FDP in vielen Punkten schwieriger war als mit der SPD. Das betrifft insbesondere die Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung.

Die neue Große Koalition hat einen eindeutigen Schwerpunkt bei der inneren Sicherheit gesetzt. Es gibt keine neuen Eingriffsbefugnisse für die Sicherheitsbehörden, aber eine bessere personelle und technische Ausstattung.

Bei der Innenpolitik gefällt Ihnen also der neue Koalitionsvertrag?

Ja, da gibt es eine deutliche Stärkung von Bundespolizei, Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz. Das gilt sogar für die Länder, wo viele tausend neue Stellen in Aussicht gestellt werden. Wobei nicht klar ist, wie der Bund eigentlich garantieren will, dass die Länder dies umsetzen.

Was ist mit dem Rest des Vertrags?

Koalition bedeutet nicht Fusion. Man muss Kompromisse machen. Ich persönlich hätte mir ein viel mutigeres Vorgehen im Steuerrecht gewünscht, eine Steuerreform, die den Namen wirklich verdient, mit den Zielen: einfacher, transparenter, gerechter.

Die ewigen Schlagworte der FDP.

Deswegen müssen sie ja nicht falsch sein. Es geht um eine deutliche Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen von den Wirkungen der kalten Progression. Denn was nutzt es dem Arbeitnehmer, wenn der Soli zwar abgeschmolzen wird, aber die kalte Progression ihn immer stärker belastet?

Innenpolitik positiv, Steuern negativ. Und die Gesamtbilanz?

Der Vertrag ist eine gute Basis für die kommende Legislaturperiode. Das Hauptproblem sehe ich in der Ressortverteilung, insbesondere im Verlust des Finanzministeriums. Es geht dabei nicht um die Person Olaf Scholz, den ich kenne und schätze, sondern um die Kombination des Ressortwechsels zur SPD mit der Ankündigung des damaligen SPD-Vorsitzenden Martin Schulz, die europäische Stabilitätspolitik zu beenden. Es geht im Klartext darum, dass wir in Europa den Weg in die Verschuldung ungebremst fortsetzen.

Schulz ist zurückgetreten. Besteht diese Gefahr dennoch fort?

Das sieht man schon an dem Engagement von acht Staaten Nordeuropas, die befürchten, dass die traditionelle Stabilitätspolitik unter der Verantwortung des damaligen Finanzministers Wolfgang Schäuble jetzt aufgeweicht werden könnte. [Anm. d. Red.: Die Finanzminister der Niederlande, Irlands, Dänemarks, Schwedens, Finnlands und der drei baltischen Staaten warnen in einem aktuellen Papier vor einer Umwandlung der EU in eine Transferunion]. Und dass sich auch zwei Staaten bei diesem Thema melden, die gar nicht zum Euroraum gehören, zeigt, dass das keine substanzlose Befürchtung ist. Dass wir den Weg in die Transferunion fortsetzen.

Wieso hat die CDU trotz eines derart schlechten Wahlergebnisses der SPD auf das Finanzministerium verzichtet?

Dafür gibt es nur eine Erklärung: die Befürchtung, dass die SPD an dieser Frage die Koalition hätte scheitern lassen. Umgekehrt muss man dann annehmen: Wenn das für die SPD der alles entscheidende Punkt war, dann bestimmt nicht, um die Politik von Wolfgang Schäuble fortzusetzen, sondern um eine ganz andere Politik zu machen. Deswegen muss die Union höllisch aufpassen, dass das Erbe von Wolfgang Schäuble nicht verspielt wird. Allein die Forderung von Martin Schulz nach einem „Ende des deutschen Spardiktats“ deutet schon auf höhere Schulden hin.

Welchen Schrecken hat eine Transferunion für Sie?

Wir geben den Grundsatz auf, dass Handlung und Haftung zusammengehören. Außerdem entsteht dadurch ein Demokratieproblem. Denn die Steuerzahler der stabilitätsorientierten Länder in Europa haben keinen Einfluss auf politische Entscheidungen in Griechenland, Spanien oder Italien. Warum sollen sie dann dafür haften, dass diese Länder über ihre Verhältnisse leben? Ich möchte aber auch nicht, dass der Eindruck entsteht, das wirtschaftlich starke Deutschland diktiere den Menschen in anderen Ländern ihre Lebensbedingungen – weil die Menschen in Europa dann nicht mehr aufeinander zu-, sondern aufeinander losgehen.

Was verspricht sich die SPD von einem Abrücken von diesem Grundsatz?

Für die SPD spielt Solidarität eine überragende Rolle, und sie hält es für solidarisch, wenn die Steuerzahler in anderen Ländern für die Überschuldung anderer Staaten haften. Ich halte das nicht für solidarisch.

Zurück zur neuen Koalition: Was sagen Sie zum neuen Kabinett?

Es ist eine interessante Mischung auf beiden Seiten: erfahrene, alte Politiker und junge, neue Gesichter. Ich persönlich bedaure es sehr, dass Sigmar Gabriel der neuen Regierung nicht angehören wird. Wir hatten immer ein gutes Verhältnis. Ich habe Gabriel über die Jahre hinweg im persönlichen Umgang als sehr angenehmen Kollegen erlebt. Als ich vom Vorsitz des Innenausschusses zurückgetreten bin, habe ich keinen Anruf von der Kanzlerin bekommen, sondern vom Vizekanzler, der mir sein Bedauern ausdrückte. Seine SPD-Kollegen im Innenausschuss hätten ihm berichtet, dass ich das prima machen würde. Das fand ich eine sehr schöne Geste.

Schadet sich die SPD damit, ihren beliebtesten Politiker nicht ins Kabinett aufzunehmen?

Nicht nur, weil er einer der beliebtesten Politiker im Land ist. Das kann man als Außenminister kaum verhindern. Die sind traditionell beliebt. Sondern, weil sich viele auch in der SPD an der Stillosigkeit stören werden, mit der Sigmar Gabriel abserviert wurde. Ich habe es übrigens auch sehr bedauert, auf welche Weise Thomas de Maizière und Hermann Gröhe ihre Ämter verloren haben.

Mit Jens Spahn rückt auch ein Kritiker von Angela Merkel ins Kabinett. Ist das ein Zeichen dafür, dass die Kanzlerin geschwächt ist?

Die Kanzlerin ist nicht geschwächt. Das hat die überwältigende Zustimmung beim CDU-Parteitag in Berlin gezeigt. Aber es ist ein Zeichen dafür, dass Angela Merkel verstanden hat, dass die CDU eine Volkspartei ist, die verschiedene Wurzeln hat: eine christlich-soziale, eine liberale und eine wertkonservative. Und der Baum bleibt nur stabil, wenn man alle Wurzeln pflegt.

Dieser konservative Flügel wurde in der vergangenen Regierung arg marginalisiert. Ändert sich das?

Ich glaube, dass man in Zukunft genauer hinhören wird und das, was die Konservativen sagen, nicht länger als Nörgelei der Ewiggestrigen abtun kann. Das zeigt auch die aktuelle Debatte über eine mögliche Änderung des Paragraphen 219a des Strafgesetzbuchs. Hier geht es um den Schutz des ungeborenen Lebens, ein Thema von großer auch symbolischer Bedeutung, weil es ein klassisches wertkonservatives Thema ist.

Welcher Wurzel würden Sie Angela Merkel denn eigentlich zuordnen?

Wenn Sie sich den politischen Lebenslauf der Kanzlerin ansehen und auch ihre öffentlichen Äußerungen der vergangenen 27 Jahre, werden Sie feststellen, dass sie mal konservativ, mal liberal, mal sozial auftritt. Allein bei der Zuwanderung hat sie schon viele verschiedene Positionen vertreten.

Fordern Sie mehr Verlässlichkeit?

Ich bedauere es vielmehr zutiefst, dass alles reduziert wird auf die Person Angela Merkel, wenn es um politische Inhalte geht. Man wird müde und mürbe, wenn man wie ich Positionen vertritt, die über Jahrzehnte Positionen der CDU waren – und plötzlich als Merkel-Kritiker gilt. Nur weil man bei dem bleibt, was man seit Jahrzehnten sagt und für richtig hält. Man bekommt ein Etikett angeklebt. Es ist ja nicht die Kanzlerin alleine, die politische Kurskorrekturen durchsetzt. Die gesamten Führungsgremien der Partei marschieren mit, das Präsidium, der Bundesvorstand, die Bundestagsfraktion, der Bundesparteitag.

Ein zentrales Sachthema war und ist die Zuwanderungspolitik. Sie haben die Politik ihrer Partei diesbezüglich kritisiert. Wird es in der neuen Koalition besser?

Es sind einige Verbesserungen gegenüber der gegenwärtigen Praxis bei der Aufnahme von Flüchtlingen vereinbart worden. Aber noch immer kommen zwischen 60 und 70 Prozent aller Flüchtlinge ohne Papiere, mit ungeklärter Nationalität und Identität. In vielen Fällen kennen wir das Lebensalter nicht, wenn etwa junge Erwachsene als Jugendliche einreisen. Wir müssen wissen, wer in unser Land kommt – sowohl unter dem Gesichtspunkt des Asyls als auch dem der Gefahrenabwehr. Wir brauchen auch Klarheit bei der Rückführung abgelehnter Asylbewerber. Es ist schon paradox, dass man auch heute noch zwar problemlos ohne Papiere nach Deutschland einreisen, aber nicht ausgewiesen werden kann.

Was wären aus Ihrer Sicht notwendige innenpolitische Maßnahmen?

Niemanden mit ungeklärter Identität darf ins Land einreisen. Ich halte auch die Einrichtung von Transitzentren für wichtig, um Streitfragen vor der Einreise klären zu können. Die SPD hat das damals abgelehnt mit der Begründung, es kämen viel zu viele. Die Zentren würden schnell überlastet. Jetzt sind die Zahlen aber von 890 000 auf etwa 180 000 pro Jahr zurückgegangen. Dieses Argument gilt also nicht mehr.

Gemäß dem Koalitionsvertrag ist diese Zahl, immerhin die Dimension einer kleinen Großstadt, jährlich zu verkraften.

Ja, das ist nicht ganz die Einwohnerzahl Braunschweigs. Wir ziehen oft Parallelen zur Zuwanderung aus anderen Epochen. Vor 250 Jahren war jeder dritte Berliner und Brandenburger ein französischer Protestant. Von Mitte der 1950er bis Anfang der 70er haben wir Millionen sogenannte Gastarbeiter aus Südeuropa angeworben. Das war aber Zuwanderung weit überwiegend aus unserem Kulturkreis. Jedes Jahr 200 000 Menschen aus einem völlig anderen Kulturkreis aufzunehmen, wird eine Herkulesaufgabe in Sachen Integration sein. Kein Land der Welt hat unbegrenzte Aufnahme- und Integrationskräfte. 2015/16 sind uns die Grenzen unserer Möglichkeiten bewusst geworden. Das hat nichts mit Hartherzigkeit zu tun, sondern damit, dass wir auf dem Boden dieses Landes nicht alle Probleme der Welt lösen können.

Sie sind immer sehr offen mit Ihrer Erkrankungen umgegangen. Wie geht es Ihnen gesundheitlich?

Die Krebstherapie kostet viel Kraft. Ich habe keine Schmerzen, aber jeder Tag ist für mich im Grunde ein paar Stunden zu lang. Die Hormonentzugstherapie hat chronische Müdigkeit zur Folge. Ab 20-21 Uhr merke ich, dass ich eigentlich ins Bett müsste. Aber die Therapie zeigt Wirkung.

Jetzt, wo die Dinge bei der neuen Koalition ins Rollen geraten, verspüren Sie da trotz Krankheit Lust, wieder mitzumischen?

Ja und nein. Mir hat die Arbeit im Bundestag über 23 Jahre unglaublich viel Freude gemacht. Das gilt für ein gutes Miteinander mit Kollegen über Parteigrenzen hinweg, für tolle Mitarbeiter in meinem Büro. Aber das Kapitel ist für mich abgeschlossen.

Sehen Sie Ihre Positionen in der CDU denn gut vertreten?

Da ist noch Luft nach oben.