Braunschweig. Die Zahl der Asylklagen am Verwaltungsgericht Braunschweig steigt rasant. Alle Richter müssen über abgelehnte Anträge entscheiden.

Unser Leser Kurt Dockhorn aus Braunschweig fragt:

Gibt es eine vorgegebene Reihenfolge, nach der die eingereichten Fälle abgearbeitet werden müssen?

Die Antwort recherchierte Andre Dolle

Akten liegen auf dem Tisch von Richterin Astrid Karger. In jeder Akte ist ein Schicksal abgelegt. Es ist neun Uhr am Verwaltungsgericht in Braunschweig in der Wilhelmstraße. Gleich wird verhandelt über die Leben, die in den Akten aufbewahrt werden. Stündlich stehen an diesem Vormittag die Verhandlungen an. In all den Fällen am Gericht lassen sich die Fragen verkürzen: Gehen oder bleiben? Darf die Familie folgen oder nicht?

Asylverfahren

In Kammern ist das Verwaltungsgericht organisiert, oft sind es drei Richter. Jede Kammer hat eine Spezial-Zuständigkeit: Baurecht zum Beispiel, Schulrecht oder Straßenrecht. Es dreht sich um sämtliche Bereiche, in denen der Bürger mit der öffentlichen Verwaltung in Berührung kommt. Immer häufiger aber müssen die Richter in Braunschweig Urteile zum Asylrecht fällen.

Jeder der 28 Richter am Verwaltungsgericht beschäftigt sich mittlerweile damit. Die Fälle werden auf die Richter verteilt. Es gibt Experten für Syrien, Afghanistan oder den Iran.

Richterin Karger ist eigentlich für Tierschutzrecht, Umweltrecht oder Gentechnikrecht zuständig. Das sind alles Themen, die nahe beieinander liegen. Nun also Asylrecht. Karger und auch ihre zwei Kolleginnen aus ihrer Kammer haben sich auf das Bürgerkriegsland Syrien spezialisiert.

Mit nüchterner Stimme liest Karger aus der Akte eines Syrers vor. Der hat sich mit seinem Sohn, einem Anwalt und einem extra bestellten Dolmetscher im Gerichtssaal eingefunden. Der Syrer wirkt nervös, nestelt an seinem Pullover herum. Deutsch spricht er nicht, sein Sohn schon.

Der Syrer zeigt dem Dolmetscher seinen Gewerkschaftsausweis vor. „Lesen Sie mal vor, was da drauf steht“, sagt Richterin Karger. „Äh, ja“, sagt der Dolmetscher irritiert. Der Syrer redet immer wieder dazwischen, die Brille steckt im kurzen grauen Haar, er rudert aufgeregt mit den Armen.

„Was hat denn eigentlich die Gewerkschaft mit Ihrem Fall zu tun?“, fragt die Richterin. Erst langsam klärt sich auf, dass der Syrer zum Militär hätte gehen sollen. Zu den National Defence Forces. „Mir wurde gesagt, du bist ein kräftiger Mann, du bist Kofferträger im Hotel – du kannst das“, übersetzt der Dolmetscher. Dabei ist der Syrer im August 2015, als er zum Militär-Training gehen soll, schon 54 Jahre alt. „Der Militärdienst ist in Syrien bis zum 42. Lebensjahr möglich“, sagt der Syrer. „Aber in diesen Nationalen Verteidigungsdienst werden auch noch 57-Jährige oder 58-Jährige eingezogen.“ Die Gewerkschaften, so erläutert er, seien vom Staat aufgefordert worden, ihre Mitglieder zu motivieren.

„Und war das der Grund, warum Sie Syrien im August 2015 verlassen haben?“, fragt die Richterin. Er wollte sich nicht an den Kämpfen beteiligen, lässt der Syrer übersetzen. Hinzu kommt aber: Im Stadtteil von Damaskus, in dem er lebte, wohnt ein besonders hoher Anteil von Juden, es gibt eine Synagoge. Er selbst sei zwar kein Jude, laut seiner Darstellung trenne das syrische Regime in diesem Stadtteil aber nicht zwischen Juden und Muslimen – eine Art Sippenhaft sei das. „Bei einer Kontrolle wurde ich gezwungen, mein Auto abzugeben und wurde fast erschossen.“ Er wechselte mit seiner Frau, seiner Tochter und dem Sohn den Stadtteil, doch das Militär war weiter hinter ihm her, sagt er. Dann erreichte ihn ein Brief: Am 15. September 2015 sollte er seinen Dienst antreten. Da reisten er und sein Sohn aus. Da er auch seinen Sohn vom Militär fernhielt, stehen beide namentlich auf einer offiziellen Liste eines Sicherheitsdienstes, sagt der Syrer. Das hätten seine Frau und seine Tochter erfahren. „Die beiden sind in Gefahr“, sagt er.

„Dass Sie zum Militär sollten, reicht alleine aber nicht aus“, sagt die Richterin. Die Syrer protestieren. Der Anwalt springt ihnen bei: Er bezeichnet den Stadtteil, in dem sie wohnten, als oppositionelle Zone. „Dass er sich dem Militär entzogen hat, gilt als oppositioneller Akt.“ Die Liste mit den Namen sei die erste Stufe der Fahndung.

Die Richterin bleibt hart: „Es sind nicht genügend Anhaltspunkte vorhanden.“ Ein Urteil gibt es heute nicht. Die Tendenz ist aber klar. „Eine Entscheidung wird Ihnen zugestellt“, sagt Karger. Der Syrer bedankt sich, macht einen tiefen Knicks.

Er und sein Sohn genießen subsidiären Schutz. Dieser ist eingeschränkt. Die beiden haben derzeit nicht das Recht, Angehörige nach Deutschland nachzuholen. Bei ihnen ist der Familiennachzug ausgesetzt. Die Regelung trifft vor allem Syrer, läuft am 16. März 2018 allerdings aus. Syrien gilt zwar als Bürgerkriegsland. Wer seine Familie nachholen will, muss aber nachweisen, dass er selbst politisch verfolgt wird.

Die besondere Herausforderung:

In Asylverfahren fehlen Zeugen

Das wiederum stellt die Richter am Verwaltungsgericht vor eine besondere Herausforderung. „Asylverfahren sind besonders schwierig“, sagt Torsten Baumgarten, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Braunschweig. Im Gespräch in seinem Büro geht es um Grundsätzliches. „In Asylverfahren können Sie nicht auf Zeugen zurückgreifen“, sagt Baumgarten. Mögliche Zeugen sind Tausende von Kilometern entfernt. Richter müssen bei Asylklagen zudem eine Gefahrenprognose für die Zukunft treffen, nicht ein vergangenes Ereignis aufklären. Das hat gravierende Folgen für die Betroffenen – wenn die Prognose falsch ist.

Baumgarten sagt: „Hinter jedem Asylverfahren, hinter jedem Aktenzeichen steht ein menschliches Schicksal.“ Darauf einzugehen, dies zu berücksichtigen und dann die nach dem Gesetz richtige Entscheidung zu treffen, ist Aufgabe der Richter. Ein schweres Unterfangen. Ein Richter entscheidet schon mal fünf bis sechs Eilverfahren – pro Tag. „Man kann das nicht ganz ausblenden. Das nimmt man mit nach Hause“, sagt Baumgarten.

Die meisten Anträge stammen von Afghanen, Syrern, Iranern und Irakern. „Genau in dieser Reihenfolge“, so Baumgarten. Er kümmert sich sonst um Schulrecht oder Fahrerlaubnisrecht. Die Personallage bezeichnet er als „dramatisch“. 16 Richter würden fehlen. „Wir können nicht mehr garantieren, dass auch andere Verfahren als Asylverfahren in angemessen kurzer Zeit bearbeitet werden.“ Darunter versteht Baumgarten eine Verfahrensdauer von maximal neun Monaten. „Auf diesem Stand waren wir.“

Dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Fehler macht, liegt auf der Hand. Etwa jede vierte Entscheidung des BAMF landet vor einem Verwaltungsgericht. Baumgarten schätzt, dass jede dritte Asyl-Entscheidung des Gerichts in Braunschweig im Sinne der Kläger ausfällt. Baumgarten ist Diplomat. Er sagt: „Wir würden uns wünschen, dass die Mitarbeiter beim BAMF mehr Zeit haben.“

Da das BAMF derzeit vor allem Anträge von Afghanen abarbeitet, landen diese mit zeitlicher Verzögerung an den Gerichten. So auch in Braunschweig.

Auch beim zweiten und beim dritten Fall, den Richterin Karger an diesem Vormittag verhandelt, geht es um den subsidiären Schutz. Die Kläger wollen den vollen Schutz. Im zweiten Fall erscheint der Kläger aus unersichtlichen Gründen nicht. Beim dritten Fall eines Syrers – wieder aus Damaskus – ist der junge Kläger gekommen. Er hat einen besonders leidenschaftlichen Anwalt mitgebracht. Frederek Freckmann aus Hannover wird grundsätzlich. Auch sein Mandant will nicht zum Wehrdienst.

„Das allein reicht nicht aus“, sagt Richterin Karger. „Jeder Mann im gewissen Alter kann in Syrien zum Militär einberufen werden.“ Der junge Syrer greift immer wieder zu seiner kleinen Papiertüte eines bekannten Kaffee-Herstellers. Er ist bereits im Oktober 2012 aus Syrien ausgereist, lebte drei Jahre im Libanon, kam dann nach Deutschland. Obwohl der junge Syrer ganz gut Deutsch spricht, gab es im Vorfeld Verständnisschwierigkeiten zwischen Anwalt und Mandant. Erst in der Verhandlung kommt mit Hilfe des Dolmetschers heraus, dass der Syrer in seiner Heimat an Demonstrationen teilgenommen hat, festgehalten und auch geschlagen wurde – wenn auch nur leicht. All das hatte das BAMF nicht festgestellt. Der Richterin reicht das dennoch nicht aus. Freckmann sagt: „Jeder einzelne Punkt zählt zwar nicht, aber kumuliert muss man seinen Fall doch anerkennen.“ Die Richterin erwidert: „Bis auf den kleinen Zwischenfall gab es für ihn keine direkten Konsequenzen. Er wurde nicht als Oppositioneller erfasst.“

Die beiden Juristen werfen mit Urteilen von höheren Gerichten um sich, denn die Rechtsprechung ist nicht einheitlich. So hat das Oberverwaltungsgericht Baden-Württemberg einen drohenden Militärdienst in Syrien durchaus anerkannt. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg aber nicht. Auf das stützen sich die Braunschweiger. Beim subsidiären Schutz ist der Aufenthalt auf ein Jahr befristet. Der junge Syrer wird also erneut einen Antrag stellen müssen. Richterin Karger sagt: „Das Urteil wird Ihnen zugestellt.“