Braunschweig. Bauen ohne Müll – Braunschweig könnte Maßstäbe setzen, sagt der Architekt Rainer Ottinger. Wie soll das gehen?

In die Debatte um eine Konzerthalle mit städtischer Musikschule für Braunschweig haben sich auch mehrere Braunschweiger Architekten und die TU Braunschweig eingeschaltet. Dabei wogt nach dem „Karstadt-Schock“ unter dem Stichwort „Umbau im Bestand“ die Diskussion auch um die Frage, ob ein solch ambitioniertes städtebauliches Projekt angesichts der massiven Leerstands-Probleme nicht in der Innenstadt angesiedelt werden sollte.

Gegen einen Neubau sprächen auch Ökologie- und Klima-Gesichtspunkte, wird argumentiert. Der Rat der Stadt hat sich bekanntlich für die Prüfung eines Neubaus im Bahnhofs-Umfeld an Viewegs Garten entschieden. Dafür bricht nun wiederum der Braunschweiger Architekt Rainer Ottinger eine Lanze. Wir sprechen mit ihm.

Architekt Rainer Ottinger.
Architekt Rainer Ottinger. © regios24 | Stefan Lohmann

Die hiesige Architektur-Szene ist in diesen Tagen hin- und hergerissen. Es herrscht offensichtlich Diskussionsbedarf. Was ist Ihnen wichtig?

Wir sollten in Braunschweig so mutig sein, die Chance zu nutzen, mit der überregional ausstrahlenden Aufgabenstellung eines „Hauses der Musik“ ein ökologisch-kulturelles Leuchtturmprojekt zu verwirklichen statt reflexartig damit innerstädtische Immobilien-Probleme lösen zu wollen.

Als Architekt, aber vor allem als bewusster Bewohner unser Erde, kann und darf man sich der Notwendigkeit nicht entziehen, vorab jedes Bauprojekt auf den ökologischen Prüfstand zu stellen. Natürlich ist es auf den ersten Blick naheliegend, bestehende Bausubstanz zu nutzen – und keine neue Fläche zu versiegeln.

Bei genauer Betrachtung sollte aber geprüft werden, ob die bestehende Gebäudestruktur ohne große Eingriffe für die neue Nutzung konfektioniert und nachhaltig qualifiziert werden kann. Ich habe da im Falle des leerstehenden Galeria-Karstadt-Hauses am Bohlweg auf den ersten Blick meine Zweifel.

Braunschweig hat stattdessen, wie es von der Stadt jetzt im neuen Bahnhofs-Umfeld geprüft wird, die historische Chance, an markanter städtebaulicher Stelle, die in den nächsten Jahren städtebaulich weiterentwickelt werden soll, ein ökologisches, kulturelles und architektonisches Projekt mit überregionaler Strahlkraft zu realisieren.

Die einen Architekten sagen so, die anderen so. Es gibt vehemente Plädoyers fürs Bauen im Bestand. Neu zu bauen ist also doch kein Teufelszeug?

Auf keinen Fall! Wenn ich sage: Leuchtturmprojekt, dann hat das neben der Nutzung hohe Signalwirkung, wie man zukünftig ökologisch mit neuer Bausubstanz umgehen kann und muss. Bei dem vorgeschlagenen Standort gibt es die Möglichkeit, im Einklang und Verbund mit der umgebenden Grünfläche einen architektonischen Entwurf in der Qualität eines echten Wahrzeichens zu schaffen.

Die Vorgaben dafür sollten sein, Prinzipien des Niedrig- oder sogar Null-Energiestandards vorzusehen mit CO2-neutralen Baustoffen – und Bauweisen im „Cradle-To-Cradle-Verfahren“.

Was ist das nun wieder?

Immer mehr Gebäude sollten und müssen im Rahmen einer tatsächlichen Kreislaufwirtschaft gebaut werden. Die dabei eingesetzten Materialien müssen in der Lage sein, in Zukunft wieder zerlegt und in den Bau- beziehungsweise Natur-Kreislauf zurückgeführt werden zu können. Bei einem Umbau im Bestand vom Volumen und der Kaufhausstruktur des Galeria-Hauses würden mit einem gewünschten Saal für über 1000 Besucher über mehrere Geschosse Unmengen an Bauschutt und Schrott entstehen, der entsorgt werden müsste.

Cradle to Cradle: Nie mehr Baustoff-Müll? Modell „The Cradle“ im Medienhafen Düsseldorf, Baustelle im März 2022.
Cradle to Cradle: Nie mehr Baustoff-Müll? Modell „The Cradle“ im Medienhafen Düsseldorf, Baustelle im März 2022. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Von Kreislaufwirtschaft und solchen Life-Cycle-Strategien wird viel geredet. Wie steht es damit aber in der Realität?

Leider sind wir damit noch längst nicht weit genug! Ja, es wird immer wieder neu diskutiert, jetzt endlich auch in der Politik. Ausgangspunkt ist die Analyse: Das Bauen, wie wir es bisher praktizieren, ist neben anderen Verursachern für unsere ökologischen Probleme in erheblichem Ausmaß mit verantwortlich.

Nicht nur wir Architekten, auch die Bauherren und vor allem die gesetzgebende Politik, sie alle müssen sich sehr wohl Gedanken machen, wie man mit dem neuen Bauen umgeht. Und das werden nicht nur Umbau und Nachnutzung sein, es wird und muss auch Neubau sein. Und der muss zwingend einen neuen Standard bekommen.

Ja, „Cradle to Cradle“ („Von der Wiege bis zur Wiege“) und Holzbauweise sind ein wenig teurer, aber man darf auch nicht vergessen, dass langfristig Kosten und Folgekosten eingespart werden können. Man muss über einen langfristigen Zeitrahmen bilanzieren und entscheiden.

Ein Leuchtturmprojekt also auch als Symbol und Vorbild für andere?

Ja, so sehe ich das. Es wird entscheidend darauf ankommen, dass wir in Bauweisen einsteigen, bei denen die Baustoffe jederzeit wiederverwendet werden können. Dies gilt es zu zeigen. Und: Gerade die Mischung aus Architektur, Ökologie und Kultur, die wir hier tatsächlich beispielhaft gestalten können, wäre für Braunschweig ein ganz starkes Signal nach draußen.

Gewöhnungsbedürftig in Holz ...

Täuschen Sie sich nicht. Dieser Baustoff ist auch für größere Gebäude hervorragend geeignet, es gibt mittlerweile gute Beispiele, so in Düsseldorf, Hamburg und in verschiedenen Metropolen Europas – Bürogebäude, auch Kulturbauten und Hochhäuser.

Wir müssen diese Bauweise nach vorne treiben. Sonst reden wir nur drüber. Auch wir Architekten müssen da mehr Mut aufbringen und fordernd hartnäckig sein.

Die Kunden hätten’s vielleicht lieber konventionell. Geht das überhaupt mit Holz – Stichworte Heizen und Brandschutz? Der Fachmann weiß es bestimmt besser ...

Selbstverständlich geht es! Sehr gut sogar. Wir bauen gerade selbst mehrere Holzhäuser. In Schweden hat das international tätige Architekturbüro White Architekter mit dem Sara Kulturhaus die Anwendungsmöglichkeiten von Holz als nachwachsendem Baumaterial für komplexe Hochhäuser zukunftsweisend erweitert und Fortschritte im Bereich des nachhaltigen Bauens sichtbar gemacht. Viele Menschen pilgern dorthin.

Holz ist ein wunderbares Baumaterial, nicht nur ökologisch im Sinne einer Kreislaufwirtschaft betrachtet, sondern auch von seinen Dämmeigenschaften und den Kombinationsmöglichkeiten. In Verbindung mit größeren Glasfronten und anderen nachhaltigen Materialien kann eine sehr moderne Architektur entstehen.

Ich bleibe dabei: Ein solches Projekt stünde Braunschweig gut zu Gesicht. Ja, man muss auch hier auf die Kosten schauen – aber, bitte, dies muss in der gleichen kritischen Weise auch für die Kosten eines Umbaues im Bestand geschehen.

Schön und gut. Aber was wird denn nun aus den tatsächlich leerstehenden Kaufhäusern in der Braunschweiger Innenstadt?

Sie müssen umgenutzt werden, da kommen wir nicht drumherum. Doch hier sehe ich eher Funktionen, die kompatibler mit der real vorhandenen Baustruktur sind und mit weniger Abriss konfektioniert werden können. Solche Gebäude eignen sich etwa für Wohn- und Büronutzung, für Co-Working-Spaces oder für kulturelle und gastronomische Einrichtungen. Nutzungen, die mit der Grundsubstanz vereinbar sind und die innerstädtische Umgebung nachhaltig aktivieren.

Bei unserem Leserforum mit zahlreichen Braunschweiger Architekten konnte man den Eindruck gewinnen, mit solch einer Haltung gehörten Sie zu einer Minderheit in der Zunft. Täuscht der Eindruck?

Ja, eindeutig. Die Diskussion, die wir jetzt führen, ist wichtig, sie muss auch entfacht werden. Das tun wir auch in verschiedenen Organisationen und interdisziplinären Kreisen. Da gibt es viel Gesprächs-, aber auch Handlungsbedarf.

Unser Büro hat in den letzten Jahren auch in innerstädtischer Lage in Braunschweig sehr viel Projekte im Bestand realisiert. Aber wir werden für besondere Aufgaben auch Neubauten brauchen. Und hier besteht ein Riesenpotenzial, wie man damit nachhaltig umgehen kann. Grundlage dafür muss immer eine neutrale Analyse sein, für welche Richtung man sich entscheidet.

Eigentlich eine richtig spannende Zeit für Architekten.

Super spannend! Na ja, man hätte schon ein wenig früher kreativ nachhaltig handeln müssen, ganz klar. Aber das hat ja nicht nur mit uns Architekten zu tun, sondern auch mit der Bereitschaft von Investoren und Bauherren. Auch sie müssen bereit sein. Die kategorische Notwendigkeit einer Klimawende sollten sie nicht nur als Herausforderung, sondern als Chance begreifen, über eine langfristige Lebenszyklusbetrachtung im Gebäudebereich ökologisch und finanziell Profit zu schlagen.

Höchste Zeit für ein konzertiertes Planen und Handeln zwischen Politikern, Bauherren, Bauämtern, Bauunternehmen und Architekten. Ein Dickicht von Vorschriften, die extrem viel Geld kosten, aber nicht viel bringen, lähmt massiv. Bitte zurückfahren – und gleichzeitig wirklich sinnvolle neue Lösungen schaffen, um schnell und langfristig ökologisch etwas Gutes zu tun.

Wie schaffen wir es bloß, dass sie sich in 20 oder 30 Jahren nicht wieder die Haare über unsere heutigen Fehler ausraufen werden?

Nur über das von mir vorgeschlagene konzertierte Handeln aller Beteiligten, ohne parteipolitisches Gezerre und Gewinnmaximierung der Investoren. Wir brauchen mehr Einigkeit im selbstverständlichen nachhaltigen Handeln und eine Entschärfung der überbordenden Baugesetze, auch mal die Bereitschaft für individuelle kreative Lösungen. Ich bin aber auch sicher: Das ökologische Problem wird uns die nächsten Jahrzehnte beschäftigen. Dabei werden wir Lösungen sowohl im Bestand als auch im Neubau finden müssen.