Braunschweig. Die Nato übt über Niedersachsen. Warum gibt es Air Defender 2023 eigentlich? Das sind die Hintergründe.

Ab Montag findet mit „Air Defender 2023“ die größte Verlegeübung von Nato-Luftstreitkräften seit Ende des Kalten Krieges statt. Auch Norddeutschland wird dabei im Fokus stehen: Während von Jagel und Hohn in Schleswig Holstein die Kampfjets starten, gilt Wunstorf bei Hannover als eine logistische Drehscheibe für die Übung. Laut Bundeswehr nehmen insgesamt fast 10.000 Soldaten samt 230 Flugzeugen aus 25 Nato-Staaten teil. Was ist der Hintergrund der gigantischen Militär-Übung? Wir beantworten die wichtigsten Fragen:

Was wird bei „Air Defender“ geübt?

Die Verlegung von Material aus den westlichen Staaten des transatlantischen Bündnisses in seine östlichen sogenannten Frontstaaten Estland und Rumänien. Mit dem Ukraine-Krieg hat das laut Nato nichts zu tun. Großübungen wie diese bedürften Jahre der Planung, zumal sie erst seit einigen Jahren wieder zum Repertoire westlicher Streitkräfte gehören.

Warum findet diese Militärübung überhaupt statt?

„Air Defender 2023“ ist eine Luftverladeübung, mit der die Nato beweisen will, dass sie in der Lage ist, schnell Personal und Material über die Luft von einem Ende des Bündnisgebietes ans andere zu bringen. Eine Gefechtsübung ist „Air Defender“ nur hintergründig.

Warum ist diese Übung so groß angelegt?

Bis zum Ende des Kalten Krieges waren Großübungen wie diese an der militärischen Tagesordnung. 1988 etwa nahmen an der Übung „Reforger“ laut offizieller Publikationen aus der Zeit rund 190.000 Soldaten teil. Übungen wie diese sollten die Streitkräfte der Nato auf einen Konflikt zwischen zwei gleichwertigen Blöcken vorbereiten, in dem ganze Armeen mit Hunderttausenden Soldaten in der Mitte Europas aufeinander trafen. Bis zur Annexion der Krim durch Russland war dieses Szenario größtenteils aus den Plänen westlicher Militärs verschwunden. Mit Übungen wie „Air Defender 2023“ sollen diese Fähigkeiten wieder aufgebaut und getestet werden.

Was bekommen wir von dieser Übung in Niedersachsen mit?

Nicht sehr viel. Die Bundeswehr erklärt, dass die Flüge größtenteils nachts stattfinden. Mit vereinzelten Einschränkungen im Flugverkehr rund um Hannover ist dennoch zu rechnen. Branchenverbände halten das für untertrieben. Auf seinen Urlaubsflieger soll aber niemand ganz verzichten müssen.

Hat die Übung etwas mit Russland zu tun?

Ja, wenn auch nicht mit dem Krieg gegen die Ukraine. Die Erkenntnis, dass die Landes- und Bündnisverteidigung gegenüber Russland wieder priorisiert werden soll, lässt sich zuerst im Weißbuch 2016 nachlesen, in dem die Bundesregierung die militärische Grundausrichtung Deutschlands wiedergibt. Seit den 1990ern war die auf Stabilisierungseinsätze und Aufstandsbekämpfung in Afghanistan oder dem zerfallenen Jugoslawien ausgerichtet. Nun wird die militärische Stärke Russlands wieder als Bedrohung der westlichen Sicherheitsordnung wahrgenommen. „Der zunehmende Einsatz hybrider Instrumente zur gezielten Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden schafft Unsicherheit in Bezug auf russische Ziele. Dies erfordert Antworten der betroffenen Staaten, aber auch von EU und Nato“, heißt es in dem Dokument.

Ist „Air Defender“ eine einmalige Sache?

Nein. In diesem Jahr stehen noch weitere Manöver in ganz Europa an. Wegen der neuen sicherheitspolitischen Lage will die Nato zunehmend auf den Ebenen militärischer Großverbände, also Divisionen und Brigaden, seine Fähigkeiten testen. Mit Tausenden Soldaten, aber strikt defensiv, wie das Bündnis immer wieder betont.

Wo fliegen die Transport- und Kampfflugzeuge?

Insbesondere im nördlichen Niedersachsen ist die Übung zu sehen: Vom Fliegerhorst Wunstorf aus, Heimatstandort des Lufttransportgeschwaders 62, werden rumänische C-27 „Spartan“-Maschinen ebenso wie amerikanische Flugzeuge der Typen C-17 „Globemaster“ und C-130 „Hercules“ starten, um tägliche Flüge nach Rumänien und Estland zu absolvieren. Kampfflugzeuge, wie die von der Ukraine gewünschten F-16 „Fighting Falcon“, die JAS „Gripen“ oder der Eurofighter werden aus ganz Deutschland dazu stoßen. Das besondere an „Air Defender 2023“: Die Übung ist freilaufend. Das heißt, dass sie im Schwerpunkt außerhalb von militärischen Sperrgebieten stattfindet. Sie ist dennoch auf bestimmte Räume begrenzt. In Niedersachsen sind etwa die Regionen nördlich von Hannover und besonders die Nordsee teil des sogenannten „Verfügungsraums“. Wo genau geflogen wird, hat die Bundeswehr auf ihrer Website zusammengefasst.

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Sind solche Übungen eine neue Idee?

Nein. Bereits 2022 übte das westliche Bündnis mit 30.000 Soldaten in Norwegen mit „Arctic Response“ die Verteidigung unter arktischen Bedingungen geübt, 2018 wurde mit „Trident Juncture“ mit 3000 Soldaten und über 40 Schiffen vor Norwegens Küste, trainiert. Übrigens waren derlei Übungen noch im Kalten Krieg normal. Auch in und um Braunschweig, damals Heimat eines militärischen Großverbandes. 1980 übten beim freilaufenden Manöver „Crusader 80“ fast 100.000 Soldaten mit hunderten Fahrzeugen aus Großbritannien, den USA und Deutschland in der Region. So landeten US-Fallschirmjäger, wie damaligen Berichten zu entnehmen ist, samt ihren Fahrzeugen in der Feldmark bei Algermissen im Landkreis Hildesheim. Die Bevölkerung wurde per Post vorgewarnt.

Kommen Großübungen jetzt häufiger zu uns zurück?

Vermutlich. Mit „Orion 23“ übte die Bundeswehr bereits im Mai gemeinsam mit den französischen Streitkräften in der West-Champagne den Orts- und Häuserkampf zwischen fahrenden Autos und Spaziergängern, wie auf Videos zu sehen ist. Auch ein Szenario für Niedersachsen? Ein Sprecher der Bundeswehr erklärt dazu: „In den kommenden Jahren kann in Niedersachsen unregelmäßig am Boden freilaufend geübt werden. Dabei kann es sich um Verlade- und Gefechtsübungen handeln.“ Konkrete Pläne gäbe es aber nicht. Über die A2 werde aber oft Material verlegt. Allein in der Lüneburger Heide sind Tausende Soldaten untergebracht. Dort befinden sich große Truppenübungsplatze.

Warum steht Estland bei der Übung im Fokus?

Die Grenze der Nato ist nach Osten gewandert. Galt früher Deutschland als möglicher Kriegsschauplatz, ist es heute das Baltikum. Zentrum der militärischen Planer: Estland und Lettland teilen sich im Osten Grenzen mit Russland, Litauen mit der russischen Exklave Kaliningrad sowie Russlands Verbündetem Belarus. Im Fokus ist die sogenannte Suwalki-Lücke. Die Landenge zwischen Kaliningrad und Weißrussland verbindet das Baltikum mit dem Rest Europas. Sie gilt laut Fachmagazin ESUT als „einer der kritischsten Geländeabschnitte im Nato-Territorium“. Sollte die Lücke im Falle eines Krieges durch russische Streitkräfte geschlossen werden, wäre eine Versorgung des Baltikums und der dortigen Nato-Truppen per Land nicht mehr möglich. Aktuell stehen drei „Nato Battle Groups“ mit einer Personalstärke zwischen 1200 und 2000 Soldaten unter der Führung Deutschlands, Großbritanniens und Kanadas im Baltikum.

Und warum auch Rumänien?

Rumänien teilt keine direkte Grenze mit Russland, dafür mit dem ehemaligen Sowjetstaat Moldawien. Dessen Region Transnistrien sucht seit den 1990ern Jahren nach einem kurzen, blutigen Bürgerkrieg die Nähe zu Russland. Mit Ende der Kampfhandlungen wurden dort etwa 3000 russische Soldaten stationiert, offiziell als Friedenstruppen. In Rumänien stehen wiederum etwa 1200 Soldaten der „Nato Forward Presence Group“ unter französischer Führung. Rumänien hält die längste Schwarzmeerküste im europäischen Nato-Territorium.

Das Meer ist für Russland von besonderem Interesse, da dort Häfen mit Zugang in den Westen liegen, die im Winter nicht einfrieren. Hier liegt zudem die Schwarzmeerflotte, die aktuell auch für Raketenbeschuss in der Ukraine verantwortlich ist, vor Anker.

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