Salzgitter. Wie stellt sich eine Architektin, die die Stadt nie zuvor gesehen hat, Salzgitters Innenstädte der Zukunft vor? Hier lesen Sie, welche Ideen sie hat.

Wir starten dieses kleine Experiment in Lebenstedt. Marie Jacobsen war nie zuvor in Salzgitter. Sie hat sich aber in den Tagen vor diesem Termin informiert. Wie ist Salzgitter entstanden? Wann und wie wurde die Innenstadt in Lebenstedt gebaut? Wie ist das mit dem zweiten Zentrum in Salzgitter-Bad? Nun also ihr erster Besuch in der ungewöhnlichen Großstadt, die in so gar kein Raster anderer Großstädte in Deutschland passt. Marie Jacobsen ist nicht einfach „nur“ eine Besucherin. Die 28-Jährige ist Architektin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Städtebau und Entwurfsmethodik von Professor Uwe Brederlau an der TU Braunschweig. Marie Jacobsen blickt also bei ihrem ersten Besuch in Salzgitter mit ganz anderen Augen auf die Stadt. Wir hatten sie gebeten, mit unserer Zeitung einen Rundgang durch die Innenstädte von Lebenstedt und Salzgitter-Bad zu unternehmen – und uns ihre Sicht der Dinge zu schildern, ihre Ideen, ihre Eindrücke.

Marie Jacobsen zeigt in Lebenstedt einen Bestandsbau, der schon ermöglicht, was sie für Lebenstedts Innenstadt vorschlägt: Wohnen. Allerdings müsste auch dieses Gebäude ertüchtigt werden.
Marie Jacobsen zeigt in Lebenstedt einen Bestandsbau, der schon ermöglicht, was sie für Lebenstedts Innenstadt vorschlägt: Wohnen. Allerdings müsste auch dieses Gebäude ertüchtigt werden. © Stefani Koch

Ein spannendes Experiment: Eine Architektin, die noch nie zuvor in Salzgitter war, erkundet die Innenstadt von Lebenstedt

Hintergrund unserer Bitte ist der Salzgitter-Check. Bei der großen Online-Umfrage unserer Zeitung in Zusammenarbeit mit der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften hatten die Innenstädte in Lebenstedt und Salzgitter-Bad schlechte Noten bekommen (4,53 und 3,88).

Dann also los. Der Rundgang mit der Architektin startet. „Hier fehlt direkt die Orientierung. Als Fußgänger fühlt man sich hier völlig orientierungslos“, sagt Marie Jacobsen und schaut sich um. Kein Wunder. Wer nämlich zum Eingang der Fußgängerzone in Lebenstedt neben der Landessparkasse steht, noch nie hier war, kann gar nicht sehen, dass hier die Fußgängerzone beginnt. Die nämlich macht kurz hinter der Landessparkasse einen Knick, und der versperrt die Sicht. Nur, wer es wagt, sich ein Stück weiter vorzutasten, weiß dann, wo er ist. Kurze Zeit später stehen wir am Monument. Beherrscht wird dieser Bereich vom Neubau, in dem sich unter anderem Douglas und Esprit befinden. Die Architektin schaut sich um. „Hier gibt es keine gewachsene Innenstadt. Hier ist versucht worden, sie nachzubauen.“ Schon nach wenigen Minuten stellt die Expertin die Frage nach dem Leitbild. „Möchte man hier eine Flaniermeile? Dann müsste alles eher kleinteilig sein“, erklärt sie. So aber, mit den eher großen Flächen und der zum Teil gar geschlossenen Fassade (Deichmann) zum Monument-Platz hin sei kein Konzept erkennbar.

Wo geht es hier in der Fußgängerzone? Für den Besucher ist das nicht schnell zu erkennen.
Wo geht es hier in der Fußgängerzone? Für den Besucher ist das nicht schnell zu erkennen. © Rudolf Karliczek

Eines sei klar: Salzgitter habe das Innenstadt-Problem nicht exklusiv. Die Frage, die sich die Verantwortlichen nun stellen müssten: „Wo soll es hingehen. Die Innenstädte, wie es sie früher gab, funktionieren heute nicht mehr. Diese Zeit kommt nicht zurück. Ein Leitbild kann helfen, einmal den ganzen Bestand aufzunehmen und zu gucken: Was für Lösungen gibt es“, erklärt Marie Jacobsen. Offenbach zum Beispiel sei diesen Schritt gegangen. „Mit einem Leitbild könnte man auch solche Neubauten wie hier am Monument überprüfen, bevor sie passieren.“

Hinter dem Monument geht der Blick der Architektin nach oben. Hier gibt es schon, was sie sich gut vorstellen könnte, um aus der bisher nur zur Geschäftszeit mehr oder weniger belebten Innenstadt einen Ort zu machen, an dem auch außerhalb der Laden-Öffnungszeiten etwas los ist: Wohnen. „Hier wird ja schon gewohnt. Aber der bauliche Zustand müsste verbessert werden. Und auch die Gestaltung spielt eine große Rolle. Hier zum Beispiel fehlen Balkone, dort auf der anderen Seite ist die Qualität des Wohnens ganz offensichtlich auch nicht sehr hoch“, blickt sich die Architektin weiter um. Die Frage der Wohn-Qualität werde immer wichtiger. Ebenso wie die Gestaltung des Quartiers. „Hier gibt es Sitzgelegenheiten, aber mitten auf dem Platz. Menschen wollen aber am Rand sitzen – mit der Möglichkeit zu schauen und zu beobachten“, fällt ihr auf. Längst gebe es Grundregeln, nach denen Plätze gestaltet würden. Und: Es sei insgesamt viel zu viel versiegelter Raum, ein Farbkonzept sei nicht erkennbar.

Wir erreichen die Überdachung am Fischzug, Leerstände fallen auf. Es sieht schmuddelig aus. „Jeder Leerstand tut weh, gibt sofort eine weitere Abwertung“, erklärt Marie Jacobsen. Eine temporäre Nutzung könnte helfen, diesen „broken window“-Effekt zu mildern. Dass das aufgrund der Eigentumsverhältnisse oft schwierig sei, wisse sie. Aber: Der Aufwand lohne sich. „Studierende würden sich vielleicht freuen, Räume vorübergehend nutzen zu können. Vielleicht könnte auch die Ostfalia hier ein Gesicht in der Innenstadt bekommen“, schlägt sie vor.

Die Architektin sagt: Das reine Einkaufen wird die Innenstädte künftig nicht mehr bespielen

Wir sind am Ende, blicken hinüber in Richtung Brawo-Carree und Busbahnhof. „Eigentlich ist das das Gesicht der Stadt, wenn man am Bahnhof ankommt. Was will man sich hier für ein Gesicht geben? Eigentlich müsste hier ein moderner Mobilitätsort sein. Mit Fahrradständern, der Möglichkeit, Roller zu mieten, einer öffentlichen Toilette, einem Bäcker…“ Und das Carree – das ja durch die breite Willy-Brandt- und Albert-Schweitzer-Straße von der Fußgängerzone getrennt wird? „Das ist wirklich schwierig. Wenn schon die größeren Ladenflächen in der Fußgängerzone nicht funktionieren… Vielleicht muss man sich hier vom Einkaufen verabschieden und ganz neu überlegen, was es für das Carree für eine Nutzung geben könnte. Wohnungen oder ein Fitnessstudio vielleicht?“ Prädestiniert sei die Lage hier – direkt an der Fußgängerzone für Senioren-Wohnen.

Viel versiegelter Boden, wenig Aufenthaltsqualität. Das ist nicht mehr zeitgemäß.
Viel versiegelter Boden, wenig Aufenthaltsqualität. Das ist nicht mehr zeitgemäß. © Rudolf Karliczek

Wir drehen einen kurzen Bogen über die Berliner Straße und nähern uns der Cretailpassage von hinten. An ihrem Ende: Wieder ein kleiner Platz, versiegelt, mit Brunnen. Drumherum wird schon jetzt gewohnt. Aber wieder ist der Wohnraum von eher minderer Qualität. „Warum nicht den Platz entsiegeln und die Gastronomie dort bündeln, wo sich die Menschen aufhalten sollen: in der Fußgängerzone und nicht am Rand“, schlägt die Architektin vor. Überhaupt sei die Bündelung ein wichtiger Faktor. Den Innenstadtbereich zu verkleinern und auf dieser kleineren Fläche attraktive Angebote mit hoher Aufenthaltsqualität zu machen – das könnte ein Weg sein.

Kaffeepause. Es waren viele Eindrücke, „in meinem Kopf sind schon viele Bilder, viele Ideen“, sagt Marie Jacobsen nachdenklich. Die alles entscheidende Frage sei auch hier in Salzgitter: „Was passiert nach dem Einkaufen? Lünen zum Beispiel hat sich diese Frage gestellt. Ein großer Einschnitt dort war die Aufgabe des Hertie-Kaufhauses. Die Verantwortlichen haben sich entschieden, den Bereich der Innenstadt kleiner zu fassen und auf kleinteilige Strukturen zu setzen. Aber: Nicht nur die Bauwerke sind entscheidend, sondern auch die Fragen: Welche Akteure bekommt man in die Innenstadt? Welche Rolle spielt die Stadtgesellschaft, gibt es Quartiere?“ Eines sei ganz klar: Das reine Einkaufen werde die Innenstädte künftig nicht mehr bespielen. „Das kommt nicht zurück. Es braucht neue Ideen.“ Wichtig wäre es hier in Salzgitter aus ihrer Sicht, zunächst einmal die gesamte Stadtstruktur aufzuzeichnen und zu gucken: „Was gibt es alles schon? Wie kann das eine mit dem anderen verbunden werden? Welche To-do´s gibt es?“ Es brauche ein Bild von einer Stadt – geleitet von der Frage: „Was soll hier zusammenkommen?“ Und schon sprudeln die Ideen? Warum nicht auch hochwertiges Wohnen anbieten?

„Wohnen in den Innenstädten – mit kurzen Wegen und guter Infrastruktur, das ist gefragt“

„Wohnen für die Menschen, die in den großen Industrieunternehmen arbeiten. Die nicht aufs Auto angewiesen sein wollen. Die hier in Bahnhofsnähe gut wohnen könnten. Mit der richtigen Infrastruktur. Die temporär zum Beispiel auch in Büros arbeiten könnten, die zum Beispiel VW hier einrichten könnte. Nicht jeder Mitarbeitende muss jeden Tag in der Fabrik sein“, denkt Marie Jacobsen eine neue Idee für Lebenstedts City. Salzgitter biete so viel Raum, so viele bereits vorhandene Gebäude. Warum nicht einfach einmal anders denken? „Wohnen in den Innenstädten – mit kurzen Wegen und guter Infrastruktur, das ist gefragt“, sagt die Architektin. Sie ist bereits mittendrin, Salzgitter einfach neu zu denken. „Es ist klar, dass es oft auch an den Akteuren scheitert. Den Immobilienbesitzern in Innenstädten, die oft ausländische Gesellschaften sind, die kaum zu erreichen sind. Aber solange es kein Bild gibt, wohin es gehen könnte, kann nichts Nachhaltiges passieren. Ich könnte mir gut vorstellen, dass wir uns hier als Institut einbringen. Wir machen solche Projekte gerne.“

Wir schlendern zurück durch die Fußgängerzone, blicken in die Durchgänge, hier und da auch auf die Geschäfte in der Chemnitzer Straße. Was immer wieder auffällt: Viel ist versiegelt, Grün gibt es wenig, einladende Oasen zum Verweilen gar nicht. Wir kommen schließlich wieder gegenüber des Rathauses an. „Als erstes müsste hier eigentlich das Schild verschwinden“, sagt sie beim Blick auf „City Lebenstedt – Einkaufen und (Er)Leben“. Denn: „Einkaufen und Erleben – stimmt das noch?“, fragt Marie Jacobsen. Wir schweigen. Und steigen ins Auto, um uns auf den Weg nach Salzgitter-Bad zu machen. Was der Besuch dort brachte, lesen Sie in unserer nächsten Ausgabe.

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