„Egal, wie die Ermittlungen der Polizei ausgehen, ob die „Wahrheit“ ans Licht kommt – dieser Fall zeigt, wie oft es nur Schwarz und Weiß gibt.“

„Ich will Leute zum Lachen bringen.“ Mit diesen Worten umschreibt der Internetstar Faguimba Dabo, besser bekannt als @dfaguimba, seine Mission, mit der er auf der Kurzvideo-Plattform TikTok mittlerweile fast vier Millionen Menschen fesselt. In der vergangenen Woche hat der Salzgitteraner (27) aber zum Nachdenken statt zum Lachen angeregt.

  1. Zum Nachdenken über einen Vorfall in der Braunschweiger Innenstadt, bei dem sich eine Passantin von dem Influencer eben nicht unterhalten, sondern beleidigt gefühlt und die Polizei gerufen hatte. So ihre Sichtweise, wie sie sich aus dem Polizeibericht ergibt.
  2. Zum Nachdenken über denselben Vorfall aus den Augen des Afrikaners, der sich zwar nicht uns gegenüber direkt geäußert hat, aber in seiner Kommunikationskammer im Netz von Beleidigungen einer schlecht gelaunten Frau spricht, die sich über seine Herkunft und Hautfarbe auslässt.
  3. Zum Nachdenken über einen Polizeieinsatz mit anschließender Strafanzeige gegen @dfaguimba wegen Beleidigung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, der in Ausschnitten über ein Handyvideo auf TikTok viral ging und auf diesem Kanal, den viele junge Menschen konsumieren, zu heftigen Rassismusvorwürfen gegen die Polizei führte. Ganz gefährliche Vorverurteilungen, so einfach in die Welt zu setzen, so schwer wieder auszuräumen.
  4. Zum Nachdenken – abgesehen von diesem Einzelfall – über die enorme Reichweite und Verbreitungsschnelligkeit von Videosequenzen im Netz, die eine Wahrheit suggerieren, die die ganze sein kann, aber genauso die halbe oder noch weniger.
  5. Zum Nachdenken über eine Welt, in der soziale Medien wie Whatsapp, Facebook, Twitter, Instagram oder eben TikTok so machtvoll und ihre Akteure so sehr Vorbild sind, dass sie eigene Welten produzieren können – teils Gesinnungswelten, teils aber hochwertvolle Plattformen, auf der sich junge Menschen mit großer Sicherheit und auch Umsicht bewegen, und das nicht nur um Fotos und Videos auszutauschen und Kontakte zu knüpfen, sondern sich über Politik, Wirtschaft, Kultur, teils hochkomplexe Wissenschaft zu informieren.
  6. Zum Nachdenken über Möglichkeiten, so früh wie möglich Medienkompetenz zu vermitteln, das heißt die Fähigkeit, Inhalte kritisch zu hinterfragen, aber ohne den pädagogischen Zeigefinger, ohne diese gewisse Hybris, alles (besser) zu wissen, sondern mit besagter Wertschätzung für die digitale Welt, die immer mehr unsere Zukunft ist.

Egal, wie die Ermittlungen der Polizei ausgehen, ob überhaupt die „Wahrheit“ ans Licht kommt… Dieser Fall zeigt, wie oft es heutzutage nur Schwarz und Weiß gibt, wie sich Ideologien Bahn brechen, wie fragil unsere Gesellschaft doch in Teilen ist, wie sehr wir auch im Alltag für unsere Demokratie kämpfen müssen, gegen Fakenews, Hassrhetorik, letztlich totalitäre Strukturen. Vor diesem Hintergrund macht die Zukunft Angst, die nahe Zukunft: Wir steuern in Niedersachsen auf Wahlen zu und gleichzeitig in eine so nie dagewesene Energiekrise.

Ich erinnere mich gut, wie mir ein 14-Jähriger vor der Bundestagswahl die Wahlprogramme einzelner Parteien erklärte – mit dem Brustton der Überzeugung, ansteckend in seinem politischen Wissensdurst, inhaltlich in Teilen aber ziemlich haarsträubend. Es war seine Erkenntnis aus dem Netz, sie hatte ihn erreicht auf Augenhöhe, authentisch, glaubwürdig. Diese Generation, schon in jungen Jahren beeindruckend politisch, die sich existenzielle Sorgen macht um Klimawandel, Kriege und Co – sie braucht auch unsere Lebenserfahrung, unsere Begleitung, um auf ihrem Weg durch die digitale Welt nicht an die Falschen zu geraten.

Was die Energiekrise und die hohen Preise angeht, ja, da ist schon jetzt die Rede von einem „deutschen Wutwinter“, den Extremisten nutzen werden, um Verunsicherung zu verbreiten. Es werden Menschen auf die Straße gehen, aber viele Parolen werden wie in der Pandemie digital die Runde machen und für ideologische Zwecke missbraucht werden. Klar wird mit Begriffen seit jeher handfest Politik gemacht und die Welt zu oft in Freund und Feind aufgeteilt, aber was wir mehr denn je brauchen, sind Dialog und Debatte, gern auch streitbar.

… und da kommt mir eine der großen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts in den Sinn: Hannah Arendt, die politische Philosophin jüdischer Herkunft, die 1906 in Hannover geboren wurde und 1975 in New York starb. Ihr Begriff des „Denkens ohne Geländer“ fasziniert mich, lehrt er doch frei, mutig, eigenverantwortlich, ohne Zwänge, ohne (Vor)-Urteile zu denken.

Sie selbst erklärt ihn so: „Wenn Sie Treppen hinauf- oder heruntersteigen, können Sie sich immer am Geländer festhalten, damit Sie nicht fallen. Das Geländer jedoch ist uns abhanden gekommen. So verständige ich mich mit mir selbst. Und ,Denken ohne Geländer’, ist in der Tat, was ich zu tun versuche.“ An anderer Stelle heißt es: „Jede neue Generation, jedes neue Menschenwesen muss, indem ihm bewusst wird, dass es zwischen eine unendliche Vergangenheit und eine unendliche Zukunft hingestellt ist, den Pfad des Denkens neu entdecken und mühsam bahnen…“

Auch das ist zum Nachdenken. Und Nachahmen.