„Als Berichterstatter arbeiten wir daran, das Unfassbare greifbar zu machen. Wir wollen gesellschaftliche Fragen, die die Tat aufwirft, beantworten.“

Manchmal zeigt sich die Welt, in der wir leben, von ihrer schlechtesten Seite. Dann offenbart sich, wozu Menschen fähig sind – und was sie sich gegenseitig antun können. Wie in der vergangenen Woche in Salzgitter, als die 15-jährige Anastasia mutmaßlich von einem 13- und einem 14-Jährigen ermordet worden ist. Die Tat hat nicht nur die Menschen im Fredenberg in Salzgitter entsetzt, sondern weit darüber hinaus. Berichtet wurde selbst über die Grenzen Deutschlands hinaus. Die Berichterstattung in Kriminalfällen, besonders wenn es sich um ein Tötungsdelikt handelt, ist immer eine sensible Angelegenheit. Das trifft noch mehr zu, wenn die Tatbeteiligten Kinder und Jugendliche sind.

Es gibt Richtlinien, die für Redaktionen und ihre Berichterstattung in solchen Fällen gelten. Sie sind im Pressekodex des Deutschen Presserats festgehalten. An ihn halten wir uns. Der Pressekodex enthält Maßgaben, von der Sorgfaltspflicht bis hin zur Nennung von Nationalitäten oder Tatdetails. Es gibt Richtlinien, die eindeutig sind – und andere, die für jeden Fall einzeln geprüft werden müssen.

Das haben wir getan. In Redaktionskonferenzen, in intensiven Gesprächen zwischen der Chefredaktion, Inhaltsverantwortlichen und Berichtenden. Ich möchte Sie an unseren Entscheidungen teilhaben lassen.

Trauergäste, die auf dem städtischen Friedhof in Salzgitter-Lebenstedt unterwegs sind.
Trauergäste, die auf dem städtischen Friedhof in Salzgitter-Lebenstedt unterwegs sind. © dpa | Julian Stratenschulte

Richtlinie 8.1
Kriminalberichterstattung:

„Wir berichten, was ist. Das ist unsere Pflicht und Verantwortung“

Wir berichten, was ist. Das ist unsere Pflicht und Verantwortung. So schlimm und unerträglich die Geschehnisse auch sein mögen – auch für unsere Kolleginnen und Kollegen. Bei der Entscheidung, was wir berichten, zeigen wir Haltung: Wir wägen genau ab, welche Details wir veröffentlichen, und welche nicht. Denn es gilt auch:Richtlinie 11.1
Unangemessene Darstellung:

Es gab in der vergangenen Woche Stimmen von Leserinnen und Lesern, die uns Effekthascherei und „unnötig reißerische Berichterstattung über Verbrechen“ vorgeworfen haben. Nicht nur in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die getötete Anastasia, sondern auch mit dem Prozess über schwerste Misshandlungen einer Frau aus Goslar, der gerade vor dem Landgericht Braunschweig verhandelt wird. Wir respektieren die Meinung unserer Leserinnen und Leser. Und dennoch möchte ich widersprechen.

Im Fall von Anastasia haben wir uns klar dazu entschieden, nur die entscheidenden Details zu nennen. Denn: Das Opfer – und auch die mutmaßlichen Täter – sind Kinder und Jugendliche. Sie stehen unter besonderem Schutz, der über dem Interesse der Öffentlichkeit steht. Deshalb gibt es Informationen, die wir kennen, die wir aber aufgrund dieser Regeln nicht veröffentlichen.

„Bei sensiblen Themen arbeiten wir Team“

Im Fall des Misshandlungsprozesses ist die Gemengelage eine andere. Dieser Fall ist außergewöhnlich: das massive Netzwerk im Hintergrund, das die Misshandlungen laut Anklage organisiert hat, das Ausmaß der Gewalt und auch die Angeklagte selbst.

Das Verfahren bringt alle Beteiligten an ihre Grenzen. Man versteht die Dimension des Falles erst, wenn man zumindest einige Einzelheiten kennt. Denn das Grauen zeigt sich im Detail. Nicht alles, was vor Gericht ans Licht kommt, findet Eingang in die Berichterstattung. Die Details, die wir berichten, sind bereits gewichtet. Und dennoch: Wir sind das Auge und das Ohr unserer Leserinnen und Leser – sie müssen sich darauf verlassen können, dass wir berichten, was ist. Verklausulierte und abstrakte Darstellungen würden in diesem Fall die Realität nicht ausreichend abbilden – aber das ist unsere Aufgabe.

Viele Bürgerinnen und Bürger trauern nach dem gewaltsamen Tod um die 15-jährige Anastasia.
Viele Bürgerinnen und Bürger trauern nach dem gewaltsamen Tod um die 15-jährige Anastasia. © dpa | Julian Stratenschulte

Besonders bei Kriminalfällen wie diesem wägen wir immer ab, was zumutbar ist und was nicht. Dass unser Autor für die Darstellung der grausamen Realität kritisiert wurde, ist einer der Gründe dafür, warum Sie heute diesen Wochenkommentar lesen. Denn: Dies war keine individuelle Entscheidung eines einzelnen Kollegen. Die Redaktion hat sich dafür entschieden, diese Details zu veröffentlichen. Gerade bei so sensiblen Themen arbeiten wir im Team.

Richtlinie 12.1
Berichterstattung über Straftaten:

Andere Medien haben im Fall der getöteten Anastasia sofort über die Wurzeln des Opfers und der mutmaßlichen Täter berichtet. Wir haben redaktionsintern darüber diskutiert – und uns zunächst dagegen entschieden. Zum einen, weil Falschmeldungen und öffentliche Hetzjagden den Stadtteil in Salzgitter bereits aufgeheizt hatten und zu befürchten war, dass sich Hass gegen Unschuldige richtet. Zum anderen, weil diese Informationen in diesem Fall bisher nicht tatrelevant – und damit nicht berichtenswert – scheinen. Da diese Richtlinie in der Medienbranche umstritten ist, haben wir auch redaktionsintern viel diskutiert und unsere Argumente sorgfältig abgewogen.

Richtlinie 8.2
Opferschutz:

Ein junges Mädchen ist gewaltsam zu Tode gekommen. Diese Tatsache an sich ist schwer zu ertragen. Wie schwer muss es da für die Familie und das Umfeld des Opfers sein? Deshalb zeigen wir weder Bilder von Anastasia noch nennen wir Details zu ihrem Lebensumfeld, die nicht mit der konkreten Tat in Verbindung stehen. Von der öffentlich stattfindenden Trauerfeier haben wir aus respektvollem Abstand berichtet.

„Anastasia soll kein namenloses Opfer bleiben“

Wir haben uns aber dazu entschieden, Anastasias Vornamen zu nennen. Damit sie kein namenloses Opfer bleibt. Dies unterstreicht auch die öffentliche Gedenkfeier. Hier steht die Person und die Trauer um sie im Mittelpunkt. Der Pressekodex schreibt vor: Wir objektivieren keine Menschen. Hier handeln wir genau nach dieser Maxime. Wir schützen Anastasias Identität – und versuchen ihre Würde zu wahren.

Als Berichterstatter arbeiten wir daran, das Unfassbare greifbar zu machen. Wir werden versuchen, die gesellschaftlichen Fragen, die die Tat aufwirft, zu beantworten: Wie können sich Menschen so etwas gegenseitig antun? Und wie lassen sich solche Taten verhindern? Dafür sprechen wir mit Ermittlerinnen und Kriminologen, mit Psychologinnen und Sozialarbeitern.

Wir stellen Fragen: Gibt es genug Hilfsangebote, die Gewaltverbrechen wie dieses präventiv verhindern können? Brauchen wir mehr Unterstützung vor allem für Kinder und Jugendliche? Und gibt es in unserer Region soziale Brennpunkte, die besondere Aufmerksamkeit von Politik und Gesellschaft benötigen? Wir schaffen Raum für die öffentliche Debatte. Auch darüber, wie wir aus Ihrer Perspektive unseren Job machen. Weil das unsere Aufgabe ist.