Ja, die Pandemie ist ermüdend. Sie nimmt auch keine Rücksicht auf persönliche Schicksalsschläge. Die kommen obendrauf.

Dieser Februartag ist wie gemalt. Die Sonne scheint, der Himmel blau. Der Schnee, der am Wochenende die Region wie schon seit Jahren nicht mehr zugedeckt hatte, liegt immer noch meterhoch an Straßenrändern und Gehwegen. Die Pandemie ist ganz weit weg, wenn man das Juchzen der Kinder auf ihren Schlitten hört und Menschen sieht, die mit ihren Langlaufskiern Loipen durch die Wohnviertel ziehen. Auf dem Weg von der onkologischen Nachuntersuchung stapfe ich hinter der Braunschweiger Stadthalle durch die Straßen. Langsam vergesse ich das Rattern und Klopfen des MRT in der Röhre. Von weitem sehe ich eine ältere Dame. Schwer bepackt mit zwei Einkaufstaschen, Maske im Gesicht, kommt sie mir auf dem sehr schmalen festgetretenen Teil des Gehwegs entgegen.

„Corona hat das mit uns gemacht“

Dann ist sie weg. Fluchtartig hat sie sich in eine Hofeinfahrt geschlagen, lugt ängstlich hervor, um zu sehen, auf welcher Höhe ich bin. Ich rufe ihr zu: „Kommen Sie ruhig. Ich mache Platz. Sie können den Weg nehmen, ich nehme die Straße.“ Beim Passieren spricht sie mich an: „Ist das alles nicht schrecklich, was diese Zeit mit uns macht?“, fragt sie. „Corona hat das mit uns gemacht“, sage ich.

Dirk Breyvogel
Dirk Breyvogel © regios24 | Darius Simka

Auch Sie kennen sicherlich diese Situationen. Seit mehr als einem Jahr weichen wir voreinander aus, nicht aus Respektlosigkeit, sondern aus Respekt vor dem Mitmenschen, den es zu schützen gilt. Vor Corona war das anders. Da sind wir gedankenlos aneinander vorbeigehastet, haben an der Supermarktkasse den Atem des nächsten Kunden gespürt, oder gerochen, der sich nach dem Aufsteller, der die Waren trennt, streckte oder den Zigaretten-Automaten bediente. Ist alles wirklich so schlimm, wie es die Dame empfindet?

Die einzige Sorge: Mehl, Nudeln und Klopapier

Die Nachrichten lassen das zumindest seit Monaten vermuten. Jeden Tag sinkt die Laune etwas mehr, wenn man hört, wie schlecht bei uns das Krisenmanagement funktioniert und wer es wo, wann und wie besser macht. Dabei hatten wir doch so meisterhaft die erste Welle geritten, ohne zu wissen welche Erhebungen im Laufe der Zeit noch auf uns zurollen sollten. Unsere Attitüde im Frühjahr 2020 war in etwa diese: Deutschland wieder aufgebaut, Wirtschaftswunder geschafft, Massenarbeitslosigkeit überwunden, seit Jahren Export- und zwischendurch Fußballweltmeister – so einem Virus wird man wohl noch zeigen, wo der Hammer hängt, oder? Die einzige Sorge, die uns umtrieb: welcher Discounter hat noch Klopapier, Mehl und Nudeln im Sortiment?

Dann wurden wir eines Besseren belehrt. Die Autoren Katja Gloger und Georg Mascolo nennen das in ihrem Buch „Ausbruch. Innenansichten einer Pandemie“ einen „Sommer der Sorglosigkeit“. Man verdrängte während des ständigen Schulterklopfens, welche wesentlichen Aufgaben noch vor dem Herbst anstanden. Man verkämpfte sich in Nebenkriegsschauplätzen, ärgerte sich über Beherbergungsverbote, während heute über Ausgangssperren gesprochen werden muss. Auch das Wort Mutante kam in unserem Wortschatz nicht vor.

Der Staat versagte mehrfach

So richtig begannen die Probleme, als die Politik Entscheidungen fällen musste und es schlicht nicht mehr reichte, die Bürger an Abstand und saubere Hände zu erinnern. Beim Versuch, aktiv raus aus der Pandemie zu finden, versagte der Staat mehrfach. Negativer Höhepunkt: die knauserige Impfstoff-Bestellung durch die EU, beaufsichtigt in der Zeit des deutschen Ratsvorsitzes. Wie weit könnten wir heute bei Öffnungsschritten sein, wenn viel mehr Menschen zumindest die erste Spritze gegen das Virus erhalten hätten? Eine nicht funktionierende Corona-App, Impfvordrängler, Masken-Affäre, ein mieses Timing der Politiker, dann über Lockerungen zu philosophieren, wenn Zurückhaltung angebracht wäre und umgekehrt. Das alles gab uns den Rest. Und jetzt: Astrazeneca...

Doch heute, am Ostersamstag, ist der richtige Zeitpunkt, etwas mehr Hoffnung zuzulassen – mehr Auferstehung, weniger Kreuzigung. Finden Sie nicht auch? Voraussetzung ist allerdings zu begreifen, wie glücklich wir uns schätzen können, als Bürger dieses Staates, die Krise meistern zu dürfen. Seine ökonomische Kraft, seine sozialstaatlichen Errungenschaften geben uns Sicherheit, die viele andere Menschen auf der Welt gerne hätten.

Ostern 2022 wollen wir wieder Hoffnung haben

Wir haben die „Bazooka“ nicht nur im Schrank, sondern auch geladen, weil wir in der Zeit für die Not sparten. Milliardenhilfen fließen, auch wenn unsere Regulierungswut die Auszahlungen verzögert. Unser Gesundheitssystem ist so gut aufgestellt, die intensivmedizinschen Kapazitäten soviel besser als woanders – bislang standen Mediziner in Deutschland noch nicht vor der Entscheidung, wen sie zuerst sterben lassen müssen. Hoffentlich bleibt es so. Für einen Großteil der Weltbevölkerung stellt sich diese Frage gar nicht: er hat weder Impfstoff noch Intensivbetten. Die Menschen sterben auch an Covid-19. Viel öfter wird ihr Leben aber durch Hunger, eine Mine oder eine Bombe beendet.

Schlussendlich: Sollten wir nicht froh sein, in einem Land zu leben, der den Widerspruch gegen die Corona-Politik zulässt? Vor Gericht und auf der Straße. Man darf sogar nach Mallorca reisen, wenn nichts anderes mehr möglich ist. Ja, auch das ist eine Freiheit, die dieser Staat den einen ermöglicht, während andere in 24-Stunden-Schichten Beatmungspatienten umbetten oder dementen Heimbewohnern erklären, warum Masketragen das Gebot der Stunde ist.

Ja, Corona ermüdet. Das Virus nimmt keine Rücksicht auf persönliche Schicksalsschläge. Die kommen obendrauf. Die Pandemie ist eine Zäsur, weil ihr Ausgang offen ist. Das macht Angst, denn das Ende aller liebgewonnenen Selbverständlichkeiten geht damit einher. Vielleicht war es das, was die Frau im Schnee so fassungslos machte. Ohne Rücksicht und Solidarität wird es aber noch viel mühsamer. Ostern 2022 wollen wir wieder Hoffnung haben. Oder etwa nicht?