“Warum schweigen immer noch so viele in Chemnitz? Wie kann es Tausenden egal sein, dass Rechtsextreme, Pegida und AfD Seite an Seite marschieren?“

Es ist mein Chemnitz, immer noch. Trotz des Verbrechens. Trotz der Hetze. Trotz der verdammt vielen Gleichgültigen. Ich bin dort geboren und aufgewachsen, habe dort studiert und gearbeitet, und seit 13 Jahren fahre ich immer wieder hin – zu meiner Familie, in die Heimat.

Was seit dem vorletzten Wochenende in Chemnitz passiert, tut weh. Schon seit Beginn der Pegida-Demos in Dresden im Jahr 2014 begleitete mich stets ein unangenehmes Gefühl nach Sachsen. Ich hab’ es immer weggeschoben. Wird sich schon wieder normalisieren, hatte ich gehofft – Pegida wird sich verflüchtigen, der Hass wird verschwinden. Wie bequem, wie blauäugig. Dann die unmenschlichen Übergriffe auf Asylbewerber in Freital, Heidenau, Clausnitz, Bautzen… Und jetzt Chemnitz. Aus dem unangenehmen Gefühl ist ein dicker Brocken geworden, der mir seit Tagen schwer im Magen liegt. Ist das noch meine Heimat? Am liebsten würde ich mich abwenden – traurig, fassungslos, angewidert. Würde gern sagen, dass ich mit dieser Stadt doch gar nichts mehr zu tun habe. Aber das kann ich nicht, denn damit würde ich einen Teil Heimat verlieren, einen Teil von mir selbst.

Am Sonntag war ich dort. Etwa 1000 Menschen waren zu einer Kundgebung zusammengekommen, zu der die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Sachsen aufgerufen hatte. Das Motto: Für Dialog, Gewaltlosigkeit, Recht, Respekt, Barmherzigkeit, Problembewusstsein und Demokratie. Nur 1000 Teilnehmer! Beschämend wenige. Immerhin 1000, muss man wohl leider sagen. Gesternbeim Konzert waren es sehr viel mehr– ein großartiges Signal, aber die meisten kamen von außerhalb.

In meinen Kopf hämmert ständig diese Frage: Warum schweigen immer noch so viele in Chemnitz? Wie kann es Tausenden egal sein, dass Rechtsextreme, Pegida und AfD Seite an Seite marschieren? Es gibt seit Tagen unzählige Erklärversuche, aber sie stellen nicht endgültig zufrieden:

Ja, der Rechtsextremismus wurde in Sachsen viel zu lange ignoriert. Ja, im Osten sind immer noch viele Menschen desillusioniert, weil die Wiedervereinigung ihrer Biografie einen heftigen Bruch verpasst hat. Ja, etliche haben den Eindruck, nur Menschen zweiter Klasse zu sein, weil nicht alles so blüht wie erwartet. Ja, etliche fühlen sich vergessen, weil Schule, Post und Polizei aus dem Dorf verschwunden sind. Und ja, viele wurden mit ihren Ängsten vor Flüchtlingen und Zuwanderung von der Politik alleingelassen.

Aber das alles erklärt noch nicht, warum so viele keinen anderen Weg finden, als ihre Wut, Angst und Ohnmacht durch Hass und Ausgrenzung anderer auszudrücken – und warum so viele dies schweigend hinnehmen.

Vielleicht, weil sie und wir alle das Zuhören verlernt haben und sprachlos geworden sind?

Gesagt wird zwar viel, pausenlos und verbissen, oft krawallig. Aber es hilft nicht, sich gegenseitig mit Vorwürfen oder Häme zu überziehen. Die Wütenden in Sachsen werden sich nicht besinnen, solange sie immer wieder als dumpfer Mob bezeichnet werden. Im Gegenteil, sie werden sich noch mehr in ihrer Haltung bestärkt sehen und bei jenen Orientierung suchen, die einen anderen Staat propagieren. Einen Staat, in dem zum Beispiel Vielfalt keinen Platz mehr hat, wie die AfD Niedersachsen erst vor wenigen Tagen deutlich gemacht hat: „Für uns ist Vielfalt an sich nicht förderungswürdig“, heißt es in der Pressemitteilung eines Landtagsabgeordneten. Wer Vielfalt nicht will, der richtet sich letztlich gegen sich selbst, aber vorher geht vieles andere zugrunde.

Von der Kirchen-Kundgebung in Chemnitz ging am Sonntag ein wichtiges Signal aus: Wir müssen miteinander reden – mit allen, besonders mit jenen, die Rechtsextremen und Aufwieglern hinterherlaufen oder gleichgültig zusehen, mit Nachbarn, Freunden, Kollegen und in den Familien, nicht nur in Sachsen, sondern auch hier bei uns. Denn was dort passiert, geschieht schleichend auch an vielen anderen Orten.

Miteinander reden heißt, alle Gesprächspartner als Menschen wertzuschätzen, ohne zu bewerten und zu verurteilen, ohne sie in Schubladen zu stecken. Auch dann zuhören, wenn ihre Haltungen nur schwer zu ertragen sind. Ergründen, was sie bewegt, von ihren Verletzungen und Enttäuschungen erfahren. Deutlich machen, wohin Hass führt. Andere Wege suchen, um Wut, Angst und Frust auszudrücken und zu überwinden. Für Solidarität begeistern. Fröhlich und mit langem Atem.