Chemnitz. Chemnitz, das sind nicht nur „Faschos“. Unser Autor kennt die sächsische Stadt – und hofft, dass sie heute ein anderes Gesicht zeigt.

Wenn alles gut läuft, zeigt Chemnitz am Montag sein anderes Gesicht. Das Gesicht einer Stadt, die so viel besser ist als ihr Ruf. Eine Stadt mit einer lebendigen Kunst- und Kulturszene. Eine Stadt, in der die Kunstsammlungen mit aufsehenerregenden Einzelausstellungen wie der von Bob Dylan oder das Museum Gunzenhauser mit seinen Werken von Otto Dix von sich reden macht.

Eine Stadt, die mit dem Kaßberg eines der größten Gründerzeitviertel Europas hat. Eine Stadt, in der die Technische Universität sehr eng mit dem Mittelstand verbunden ist. Schon früher war die Region die Herzkammer der Industrialisierung und Heimat eines liberalen Bürgertums. Heute spricht vieles dafür, dass die Region wieder so eine Herzkammer werden wird.

Kraftklub wollen was verändern und nicht nach Berlin

Ich habe in Chemnitz studiert und denke in diesen Tagen oft an diese Zeit zurück. In Chemnitz gab es Freiräume und kulturelle Nischen, wie ich sie später nirgendwo anders mehr erlebt habe. Wenn du was machen wolltest, hast du es selbst getan. Heute ist die Chemnitzer Band Kraftklub so ein Beispiel für dieses Selbstverständnis. Alle Bandmitglieder kommen aus Chemnitz und haben schon in Schülerbands zusammengespielt. Drei Nummer-Eins-Alben später sind es genau diese Jungs („Ich will nicht nach Berlin“), die wieder etwas machen und nicht nur reden.

Demonstrationen in Chemnitz bleiben weitgehend friedlich

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    All dem blinden Hass und der Wut nach dem Mord am dem 35-jährigen Chemnitzer Daniel H. setzten sie etwas entgegen, das auch Daniel H gemocht hat: Musik. Kraftklub haben gerufen und einige der bekanntesten deutschsprachigen Künstler kommen, darunter Marteria, Casper und die Die Toten Hosen (

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    ab 17 Uhr).

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    In der Nacht vom 25. auf den 26. August wird in Chemnitz am Rande eines Stadtfestes ein 35-jähriger Mann niedergestochen. Am 27. August ziehen bereits tausende rechtsgerichtete Gruppen durch Chemnitz’ Straßen. Die Polizei hat Mühe, die Gruppe vom Gegenprotest fernzuhalten. Immer wieder versuchten sie Polizeiketten zu durchbrechen, werfen Flaschen und Böller. Die Polizei ermittelt gegen zehn Personen, die den Hitlergruß gezeigt haben.
    In der Nacht vom 25. auf den 26. August wird in Chemnitz am Rande eines Stadtfestes ein 35-jähriger Mann niedergestochen. Am 27. August ziehen bereits tausende rechtsgerichtete Gruppen durch Chemnitz’ Straßen. Die Polizei hat Mühe, die Gruppe vom Gegenprotest fernzuhalten. Immer wieder versuchten sie Polizeiketten zu durchbrechen, werfen Flaschen und Böller. Die Polizei ermittelt gegen zehn Personen, die den Hitlergruß gezeigt haben. © dpa | Jan Woitas
    Journalisten werden attackiert.
    Journalisten werden attackiert. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
    Nach den Ausschreitungen liegen 37 Strafanzeigen vor, mehrheitlich zu Körperverletzungsdelikten, Sachbeschädigungen und Straftaten nach dem Versammlungsgesetz.
    Nach den Ausschreitungen liegen 37 Strafanzeigen vor, mehrheitlich zu Körperverletzungsdelikten, Sachbeschädigungen und Straftaten nach dem Versammlungsgesetz. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
    Laut Polizei werden 18 Menschen verletzt, darunter drei Beamte.
    Laut Polizei werden 18 Menschen verletzt, darunter drei Beamte. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
    Der 35 Jahre alte Daniel H. hatte deutsche und kubanische Wurzeln. Am Tatort werden zahlreiche Blumen und Kerzen niedergelegt.
    Der 35 Jahre alte Daniel H. hatte deutsche und kubanische Wurzeln. Am Tatort werden zahlreiche Blumen und Kerzen niedergelegt. © dpa | Jan Woitas
    Ein 23 Jahre alter Syrer und ein 22 Jahre alter Iraker werden verdächtigt, Daniel H. getötet und zwei weitere Männer durch Messerstiche zum Teil schwer verletzt zu haben. Als dringend tatverdächtig wird zudem ein 22-jähriger Iraker mit Haftbefehl gesucht.
    Ein 23 Jahre alter Syrer und ein 22 Jahre alter Iraker werden verdächtigt, Daniel H. getötet und zwei weitere Männer durch Messerstiche zum Teil schwer verletzt zu haben. Als dringend tatverdächtig wird zudem ein 22-jähriger Iraker mit Haftbefehl gesucht. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
    Familienministerin Franziska Giffey (SPD) reist als erstes Mitglied der Bundesregierung nach Chemnitz und besucht den Tatort.
    Familienministerin Franziska Giffey (SPD) reist als erstes Mitglied der Bundesregierung nach Chemnitz und besucht den Tatort. © dpa | Sebastian Kahnert
    Am 1. September kommt es in Chemnitz erneut zu mehreren Demonstrationen.
    Am 1. September kommt es in Chemnitz erneut zu mehreren Demonstrationen. © dpa | ---
    Der Polizei zufolge stehen 8000 Teilnehmern rechtsgerichteter Proteste 3000 Gegendemonstranten gegenüber.
    Der Polizei zufolge stehen 8000 Teilnehmern rechtsgerichteter Proteste 3000 Gegendemonstranten gegenüber. © dpa | Ralf Hirschberger
    Auch Björn Höcke, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, nimmt an der Demonstration teil.
    Auch Björn Höcke, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, nimmt an der Demonstration teil. © dpa | Ralf Hirschberger
    Die Gegenseite will Gesicht zeigen: Am 3. September kommen rund 65.000 Zuschauer und Demonstranten in die sächsische Stadt, um unter dem Motto „#wirsindmehr“ gegen Rechts zu demonstrieren.
    Die Gegenseite will Gesicht zeigen: Am 3. September kommen rund 65.000 Zuschauer und Demonstranten in die sächsische Stadt, um unter dem Motto „#wirsindmehr“ gegen Rechts zu demonstrieren. © dpa | Sebastian Kahnert
    Bei dem Konzert treten unter anderem Marteria und Casper, Feine Sahne Fischfilet, Kraftklub und Die Toten Hosen auf.
    Bei dem Konzert treten unter anderem Marteria und Casper, Feine Sahne Fischfilet, Kraftklub und Die Toten Hosen auf. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
    Campino, Sänger von Die Toten Hosen, setzt ein Zeichen gegen Rassismus.
    Campino, Sänger von Die Toten Hosen, setzt ein Zeichen gegen Rassismus. © dpa | Sebastian Kahnert
    „Die Würde des Menschen ist antastbar“ steht auf einem Banner in Anspielung auf Artikel 1 des Grundgesetzes. Darin heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
    „Die Würde des Menschen ist antastbar“ steht auf einem Banner in Anspielung auf Artikel 1 des Grundgesetzes. Darin heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ © dpa | Sebastian Kahnert
    Der deutsche Rapper Marteria sagte, er fühle sich durch die Vorkommnisse in Chemnitz an die fremdenfeindlichen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen erinnert.
    Der deutsche Rapper Marteria sagte, er fühle sich durch die Vorkommnisse in Chemnitz an die fremdenfeindlichen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen erinnert. © dpa | Sebastian Kahnert
    Das Motto des Konzerts: Wir sind mehr – mehr als die rechtsgerichteten Teilnehmer, die in Chemnitz nach dem Tod des jungen Mannes auflaufen. Dieses Foto vom 1. September zeigt noch die Teilnehmer der Kundgebung der rechtspopulistischen Bürgerbewegung Pro Chemnitz, die sich vor dem Karl-Marx-Denkmal versammeln.
    Das Motto des Konzerts: Wir sind mehr – mehr als die rechtsgerichteten Teilnehmer, die in Chemnitz nach dem Tod des jungen Mannes auflaufen. Dieses Foto vom 1. September zeigt noch die Teilnehmer der Kundgebung der rechtspopulistischen Bürgerbewegung Pro Chemnitz, die sich vor dem Karl-Marx-Denkmal versammeln. © dpa | Boris Roessler
    „Weder grau noch braun“: Die Vorfälle in Chemnitz befeuern in Politik und Gesellschaft die Debatte über Ausländerfeindlichkeit und Integration. Auch über die Vorfälle wird scharf diskutiert.
    „Weder grau noch braun“: Die Vorfälle in Chemnitz befeuern in Politik und Gesellschaft die Debatte über Ausländerfeindlichkeit und Integration. Auch über die Vorfälle wird scharf diskutiert. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
    Gab es Hetzjagden – ja oder nein? Die Debatte dazu nimmt schnell Fahrt auf.
    Gab es Hetzjagden – ja oder nein? Die Debatte dazu nimmt schnell Fahrt auf. © REUTERS | Matthias Rietschel
    Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer erklärt, es habe keinen Mob, keine Pogrome oder Hetzjagden in Chemnitz gegeben. Davon hatte zuvor die Bundesregierung gesprochen.
    Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer erklärt, es habe keinen Mob, keine Pogrome oder Hetzjagden in Chemnitz gegeben. Davon hatte zuvor die Bundesregierung gesprochen. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
    Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen problematisiert den Begriff „Hetzjagden“ in einem Zeitungsinterview. Ein Video, dass eben jene Jagden auf Ausländer zeige, stellt er in Frage.
    Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen problematisiert den Begriff „Hetzjagden“ in einem Zeitungsinterview. Ein Video, dass eben jene Jagden auf Ausländer zeige, stellt er in Frage. © dpa | Kay Nietfeld
    Anfang September wird bekannt, dass am 27. August das jüdische Restaurant „Shalom“ in Chemnitz angegriffen wurde.
    Anfang September wird bekannt, dass am 27. August das jüdische Restaurant „Shalom“ in Chemnitz angegriffen wurde. © dpa | Hendrik Schmidt
    Gut drei Wochen nach der tödlichen Messerattacke kommt einer der beiden inhaftierten Tatverdächtigen auf freien Fuß. Das verkündet sein Anwalt Ulrich Dost-Roxin.
    Gut drei Wochen nach der tödlichen Messerattacke kommt einer der beiden inhaftierten Tatverdächtigen auf freien Fuß. Das verkündet sein Anwalt Ulrich Dost-Roxin. © dpa | Hendrik Schmidt
    Die SPD fordert nach den Äußerungen Maaßens personelle Konsequenzen. Der Verfassungsschutzchef müsse seinen Posten räumen.
    Die SPD fordert nach den Äußerungen Maaßens personelle Konsequenzen. Der Verfassungsschutzchef müsse seinen Posten räumen. © Getty Images | Michele Tantussi
    Krisentreffen im Kanzleramt: Am 18. September entscheidet die Koalitionsspitze über die Zukunft von Hans-Georg Maaßen.
    Krisentreffen im Kanzleramt: Am 18. September entscheidet die Koalitionsspitze über die Zukunft von Hans-Georg Maaßen. © dpa | Kay Nietfeld
    Maaßen muss seine Sachen packen. Der Verfassungsschutzpräsident wird nach seinen umstrittenen Äußerungen zu den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz abgelöst. Doch statt Kündigung erwartet Maaßen der Wechsel ins Bundesinnenministerium als Staatssekretär. Eine Lösung, die bei der Opposition, aber auch in Teilen der SPD scharfe Kritik auslöst.
    Maaßen muss seine Sachen packen. Der Verfassungsschutzpräsident wird nach seinen umstrittenen Äußerungen zu den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz abgelöst. Doch statt Kündigung erwartet Maaßen der Wechsel ins Bundesinnenministerium als Staatssekretär. Eine Lösung, die bei der Opposition, aber auch in Teilen der SPD scharfe Kritik auslöst. © picture alliance/dpa | dpa Picture-Alliance / Bernd von Jutrczenka
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    Politisches Tatmotiv? Ach was, normale „Rauferei“

    Die sächsische Landesregierung täte gut daran, genau dieses Chemnitz zu unterstützen. Denn das gehört zu Wahrheit auch dazu. Rechtsextremismus wurde in Sachsen,

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    immer verharmlost und kleingeredet. Von den verbotenen Skindheads Sächsische Schweiz (SSS) bis zur aufgelösten Hooligan-Gruppe HooNaRa (steht für: Hooligans Nazis Rassisten): Die „Faschos“ waren immer irgendwie da und allgegenwärtig.

    Nicht zuletzt konnte der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) auch deshalb in Sachsen untertauchen. In diesen Tagen fiel mir auch wieder ein Gespräch mit Polizisten ein. Damals, vor zehn Jahren, war ich bei einem Stadtfest in der Nähe von Chemnitz. „Glatzen“ jagten ein paar Jugendliche mit etwas zu bunten Haaren durch den Park. Die Polizei tat das

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    Ein politisches Tatmotiv konnte wie so oft nicht nachgewiesen werden.

    Was heute passiert hat eine lange Vorgeschichte

    Auch viele Protagonisten von heute sind die Protagonisten von damals. Der Chef der rechten Partei

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    CHEMNITZ, GERMANY - SEPTEMBER 01: Bjoern Hoecke (C), who heads the right-wing Alternative for Germany (AfD) political party in the Thuringia state parliament, leads a march of silence on September 1, 2018 in Chemnitz, Germany. Two refugees, a Syrian and an Iraqi, are accused of having stabbed Chemnitz local Daniel Hillig following an altercation in the early hours of August 26. The death has sparked angry protests by locals as well as right-wing groups that have led to clashes with police and counter-protesters. (Photo by Sean Gallup/Getty Images)
    Von Julia Emmrich, Karsten Kammholz und Johanna Rüdiger

    der auch die Demonstration vor einer Woche organisierte und Chemnitz damit deutschlandweit in die Nachrichten katapultierte, sitzt seit Jahren im Stadtrat.

    Nahles für AfD-Überwachung durch den Verfassungsschutz

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      Im Jahr 2009 musste er zum Beispiel von Polizisten aus dem Ratssaal getragen werden, weil der den Bürgermeister, die Oberbürgermeisterin und einen Abgeordneten der Linken heftig beleidigt hatte, des Saales verwiesen wurde, aber nicht gehen wollte. Auch der Taktgeber der neuen Rechten, Götz Kubitschek, trat schon vor zehn Jahren gemeinsam mit dem neurechten Autor Felix Menzel an der TU Chemnitz auf. Kurz: Vieles, was heute passiert, hat lange, zum Teil subtile Vorgeschichten.

      Sprechen über „die Chemnitzer“ und „die Sachsen“

      Aber, es gab auch schon immer das andere Chemnitz. Eine Stadt, die Bands wie Kraftklub hervorgebracht hat. Sie sind nicht nur erfolgreich, sondern haben viel für die Chemnitzer Jugendkultur getan. Sie haben ein jährlich stattfindendes Festival ins Leben gerufen, zahlreiche Konzerte organisiert, Proberäume am Leben erhalten – und sie sind geblieben. Sie tun das, was so viele machen: die Stadt lebenswerter machen. Solche Geschichten sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man über „die Chemnitzer“ oder „die Sachsen“ urteilt.

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