Goslar. Im Interview geht der Europapolitiker Bernd Lange (SPD) aus Hannover auf die Energiekrise ein – und schlägt Lösungsansätze vor. Was nun helfen kann.

Die „Energiekrise“ als Folge des Ukrainekrieges belastet die gesamte Europäische Union. Wie steht Deutschland politisch da im EU-Vergleich? Darüber referierte der SPD-Europaabgeordnete Bernd Lange (Hannover) vor Sozialdemokraten in Goslar. Der „Goslarschen Zeitung“ stand Lange im Interview Rede und Antwort.

Herr Lange, wenn Sie als Sohn eines Tankstellenbesitzers heute an einer Zapfsäule vorfahren, was geht Ihnen da durch den Kopf?

Ich weiß natürlich, dass dieses Thema nicht nur relevant ist an der Tankstelle, sondern generell für kleine und mittlere Betriebe. Das habe ich als Kind schon hautnah mitbekommen, wie eng da kalkuliert werden muss, wie gering die Gewinnmargen sind – und wie es mit den Angestellten ist. Da hatte mein Vater schon viele schlaflose Nächte, und ich war häufig mit im Geschäft. Das bleibt also schon im Kopf.

Wie bringt man solche Erfahrungen in die Politik ein, dass die Trauben auch bei Unternehmern häufig sehr hoch hängen? Die SPD gilt nicht gerade als die Partei der Unternehmer.

Gerade für kleine und mittlere Betriebe gilt ja das, was Sie beschrieben haben. Etwa, wenn es um die Frage bürokratischer Hürden geht. Oder, dass man gerade im Handelsbereich für kleine und mittlere Betriebe Transparenz und Einfachheit organisieren sollte, damit sie davon profitieren können. Es ist also eine wichtige Erfahrung, nicht nur zu schauen, wie sich VW positioniert oder Conti, sondern gerade auch, was es für kleine und mittlere Betriebe bedeutet. Sie sind nach wie vor das Rückgrat unserer Wirtschaft, und diese Betriebe bilden nach wie vor auch die meisten jungen Menschen aus. Somit sind diese Unternehmen auch im sozialdemokratischen Sinne eine wichtige Größe.

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Gehen wir einen Schritt weiter: Viele bibbern, weil wir diese enormen Preissteigerungen bei Energie verzeichnen müssen. Darunter leiden viele Privathaushalte, aber das ist häufig nicht so massiv wie bei vielen kleinen und mittleren Betrieben, die Laufzeitverträge mit ihren Energieversorgern haben. Da schlägt es mächtig ins Kontor. Was ist die richtige Strategie – gerade auch aus europäischer Sicht?

Das ist eine sehr komplexe Fragestellung. In der Tat brennt es da. Viele Unternehmen bekommen derzeit keine längerfristigen Verträge mehr. Ich war jüngst bei einer Tischlerei, die ihren Strom auf dem Spotmarkt einkaufen muss.

Und das ist vermutlich zehnmal so teuer.

Ja, exakt. Und das geht natürlich nicht gut.

Ist der Betrieb quasi beim Energieversorger rausgeworfen worden, oder hat die Tischlerei keinen neuen Vertrag mehr bekommen?

Der Vertrag ist ausgelaufen, und der Betrieb hat keinen neuen mehr bekommen.

Dieses Drama betrifft ja viele Unternehmen, insbesondere kleine und mittlere. Was also kann Politik tun?

Deshalb ist es richtig, Strom- und Gaspreis zu deckeln. Einige europäische Länder haben das ja auch schon gemacht. Frankreich zum Beispiel. Spanien und Portugal auch. Es geht darum, ein Zusammenbrechen der kleinen und mittleren Betriebe zu verhindern. Und ich denke auch, dass man genau schauen muss, wo Preissteigerungen aufgrund der veränderten Strukturen und der Produktionsbedingungen entstehen, oder wo Preise wirklich durch Windfall-Profits hochgehen.

Also unerwartete Gewinne durch den Ukraine-Krieg und die damit sprunghaft veränderte Marktlage.

Genau. Die Finnen machen das im Übrigen sehr transparent. Beim finnischen Neste-Konzern, der Kraftstoffe und Rohstoffe herstellt und Tankstellen betreibt, kann man Tag für Tag die Gewinnmarge sehen. Und da können Sie auch die sprunghaft gestiegene Gewinnmarge erkennen, ohne dass sich Angebot und Nachfrage wesentlich verändert hätten.

Wir haben eine Marktwirtschaft, aber mindestens in Not- und Krisenzeiten können Politik und Regierung Einfluss nehmen auf ein solches Marktgeschehen. Vor allem dann, wenn es zum Nachteil der Bürger und der meisten anderen Unternehmen geht. Warum gibt es in Europa immer noch diese Kopplung von Gaspreis und Strompreis? Die ist ja nicht gottgegeben.

Nein, und deshalb müssen wir da jetzt auch ran. Diese Kopplung ist ja ursprünglich entstanden, um die neuen regenerativen Energien zu unterstützen, weil es damals die teuerste Form der Stromerzeugung war. Aber das hat sich inzwischen völlig verändert. Die verdienen sich momentan eine goldene Nase. Deswegen ist auch in der Diskussion, dass man von diesen zusätzlich verdienenden Energieträgern einen Solidarbeitrag einfordert.

Und wie? Es ist ja wiederholt von einer sogenannten Übergewinnsteuer die Rede.

In der Tat ist es ein Vorschlag der Europäischen Kommission, dass man einen Durchschnittssatz des Ertrags der vergangenen drei Jahre als Maßstab nimmt und dann den Mehrertrag entsprechend besteuert. Der Vorschlag der Kommission sind 33 Prozent – allerdings ist das in der Umsetzung eine nationalstaatliche Angelegenheit.

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    Ist das ein Vorschlag, der in allen EU-Ländern Anklang finden kann?

    So, wie ich die jüngste Diskussion verstanden habe, ja. Aber das muss jetzt zunächst noch mal in einen Gesetzgebungskontext gegossen werden. Es basiert im Übrigen auf Artikel 122 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, in dem es um Notmaßnahmen geht. Insofern haben wir im Energiebereich genau diesen Fall, der diesen Artikel zum Tragen bringt.

    Eine knifflige Frage für einen Sozialdemokraten: Wenn auch zwischendrin mit fünf Jahren Unterbrechung, sind Sie seit 1994 Europaabgeordneter. Damit gehören Sie sicher zu den erfahrensten EU-Parlamentariern überhaupt. Sie haben eine immense Erfahrung im Austausch der EU-Staaten und mit Kollegen aus anderen Ländern, gerade auch jetzt in Ihrer Funktion als Ausschussvorsitzender für internationalen Handel. Wir wissen, dass etwa Polen, Tschechien, Slowakei und die baltischen Staaten immer darauf hingewiesen haben, sich nicht so derart abhängig zu machen von Russland in Energiefragen. Wie beurteilen Sie die falsche Strategie in Deutschland, auch unter SPD-Verantwortung? Und hätten Sie da nicht als Europaabgeordneter auch innerhalb der SPD für mehr Durchblick sorgen können?

    Das hängt auch damit zusammen, wie man den Energiemarkt organisiert. Wir hatten ja in den 1980er und 90er Jahren eine große Liberalisierungswelle. Damit war Energie nicht mehr eine strategische Frage, sondern eigentlich nur noch die Preisfrage.

    Russisches Gas hat einen hohen Brennwert und war gleichzeitig preisgünstig. Deswegen ist in der Tat, gerade in Deutschland, so verfahren worden. Aus heutiger Sicht wissen wir um die strategische Komponente, und damit müssen wir anders umgehen. Das war aber im Mainstream vor 20 Jahren nicht der Fall.

    In der Schule haben wir gelernt, dass der Staat bestimmte Sicherheitspolitik betreiben muss – gerade auch in Fragen der Energieversorgung.

    Bernd Lange (SPD, Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten), Vorsitzender des Ausschusses für internationalen Handel.
    Bernd Lange (SPD, Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten), Vorsitzender des Ausschusses für internationalen Handel. © picture alliance/dpa | Philipp von Ditfurth

    Ja, aber damalige Wirtschaftsminister wie Bangemann oder Hausmann haben genau dies liberalisiert – und damit im Grunde den Prozess eingeleitet, dass es eben nicht mehr eine strategische Frage war. Das war falsch, aber das war in anderen europäischen Ländern auch der Fall. Ich war beispielsweise mal an einer Gesetzgebung beteiligt, bei der es um die Frage ging, ob man gemeinschaftlich einkauft, ob Transparenz in die Energielieferungsverträge kommt. Da haben die Staaten geblockt: Das sei nationale Souveränität, und die Unternehmen sollen selbst wirtschaften. Aus heutiger Sicht falsch.

    Was ist der Lernprozess? Einmal mit Blick auf die Produkte auf dem Energiemarkt, also Gas, Strom, aber auch Wasser. Auch beim Wasser können uns die Liberalisierungswellen mit Blick auf Klimawandel und Versorgung um die Ohren schlagen. Was erwarten Sie? Werden die Staaten wieder mehr Wert legen auf eigene Sicherheit in der Versorgung?

    Das müssen wir natürlich europäisch denken. Wir haben einen Binnenmarkt, also muss auch ein Energiepreisdeckel europäisch gedacht werden. Ansonsten haben wir eine Verschiebung der Marktbedingungen. Insofern glaube ich schon, dass die Frage der Daseinsvorsorge mit Bereichen wie Strom, Gas und Wasser in der Tat sehr, sehr stark in den Vordergrund rücken wird. Und das ist auch richtig so.

    Oder unterliegen wir politisch wieder den alten Fehlern, die wir bislang immer gesehen haben: Wenn eine gewisse Ruhe wieder eingekehrt ist, bleibt alles gut so, wie es war?

    Nein, das glaube ich nicht. Das kann man auch sehen an den energiepolitischen Entscheidungen, die wirklich eine besondere Dynamik bekommen haben, wie sie vor dem 24. Februar, also vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, überhaupt nicht denkbar gewesen sind. Etwa, was den Einkauf von Energie betrifft, die Frage eines neuen Energiemarkt-Designs, die Frage des Strompreises, der Infrastruktur und der Zusammenarbeit. Das hat sich fundamental geändert. Zum Zweiten kommt hinzu, dass die Transformation zu einem kohlendioxidneutralen Wirtschaften mit dieser Krise einen deutlichen Beschleunigungsschub bekommen hat.

    Sie sagen optimistisch, wir bekommen einen Beschleunigungsschub, einen Innovationsschub, auch Schub für einen strukturellen Wandel, was Energieversorgung und Klimaschutz anbelangt. Können wir also aus der Krise auch Chancen ziehen?

    Das alles hat eine deutliche Dynamisierung bekommen. Unsere Zielsetzungen – etwa die 45 Prozent Energiegewinnung aus erneuerbaren Energien ab 2030 –, aber auch für Energieeinsparung haben sich deutlich beschleunigt in den letzten sechs Monaten. Auch die Frage der Finanzierung und Subventionen. Früher konnte man überhaupt nicht denken, dass das Beihilferecht der EU aufgebrochen wird und wirklich erhebliche Summen in die Infrastruktur gesteckt werden können. Das hat sich wirklich fundamental geändert – auch bei Entscheidungen zur Unterstützung von Unternehmen. Schauen wir uns etwa Salzgitter an: fast eine Milliarde Euro für den Umstieg auf grüne Wasserstofftechnologie. Diese Veränderung ist allerorten erkennbar. Das wird uns in drei, vier Jahren deutlich vorangebracht haben – auch wenn es bis dahin ein bisschen schwierig wird. Das ist leider genau das Problem.

    Schwierig ist es auch deshalb, weil wir ein Land der Bürokratie sind. Beispiel Goslar: Solarzellen auf den Dächern der Altstadt? Verboten. Solarzellen auf öffentlichen Gebäuden oder im Gewerbegebiet? Bis auf ein neues Projekt von Med-X-Press weitgehend Fehlanzeige. Solarstrom im Zweifel vom Nachbarn? Geht nicht. Es gibt in Deutschland Unmengen bürokratischer Hemmnisse. Ist das in anderen EU-Ländern besser?

    Das kann ich im Detail nicht sagen. Aber ich weiß, dass die Frage des Vorrangs von erneuerbaren Energien überall stark diskutiert und umgesetzt wird. Aber es gibt natürlich auch andere Länder, wie Dänemark, die sicherlich weniger bürokratisch mit erneuerbaren Energien umgegangen sind – und auch den Entscheidungsprozess viel stärker darauf fokussiert haben. Dieses Urteil beispielsweise des Oberverwaltungsgerichts in Lüneburg, dass drei Windkraftanlagen nicht akzeptiert worden sind, weil sie die Sicht auf eine alte Windmühle verhindern, das ist wirklich in Deutschland absurd. Darüber lacht die ganze Welt.