Braunschweig. Die Göttinger Historikerin Petra Terhoeven spricht über Linksterrorismus in Europa - und über die nach wie vor zu kurz kommende Opferperspektive.

Petra Terhoeven (53) ist Professorin für Europäische Kultur- und Zeitgeschichte an der Universität Göttingen. Viel beachtet wurde ihr 2017 im Beck-Verlag erschienenes Buch „Die Rote Armee Fraktion. Eine Geschichte terroristischer Gewalt“. Über das Thema ihres Vortrags bei den Helmstedter Universitätstagen an diesem Samstag hat sie mit uns gesprochen.

Deutschland und Italien werden oft verglichen, sei es mit Blick auf die späte nationale Einigung, sei es mit Blick auf Faschismus und Nationalsozialismus. Sie haben untersucht, wie mit dem politischen Mord von links in beiden Ländern umgegangen wurde und sprechen in Helmstedt über RAF und Rote Brigaden. Haben Sie viel Gemeinsames festgestellt?

Ja, es gibt bemerkenswerte Parallelen, zumal sich die Ereignisse in Italien und in der Bundesrepublik auch gegenseitig beeinflusst haben. Schon die ideologischen Grundlagen und die Feindbilder der Roten Brigaden wie der RAF ähnelten einander sehr. Es ging immer auch um die Vergangenheit, um das, was man als dünne Legitimationsdecke der postfaschistischen Demokratien bezeichnen kann. Allerdings zeigt sich bereits an der Stelle ein wesentlicher Unterschied: Dem deutschen Linksterrorismus ging es darum, den Staat als immer noch in den Händen von Nazis zu brandmarken, was schon sehr früh damit einherging, dass sich die Terroristinnen und Terroristen als Opfer dieses Staates stilisierten. In Italien verstand sich der Linksterrorismus als Fortsetzung der „Resistenza“, also des Kampfes gegen die Faschisten bzw. die deutschen Besatzer im Weltkrieg. Die Roten Brigaden haben sich dem Projekt verschrieben, diese angeblich „unvollendete Revolution“ jener Jahre zu einem Ende zu führen, und zwar unabhängig von der aus ihrer Sicht viel zu weichen Kommunistischen Partei Italiens. Und man darf eines auf keinen Fall vergessen: Der Neo-Faschismus in Italien war ständig präsent, im Parlament und auf der Straße und auch als terroristische Gefahr. Das war alles andere als eine bloße Projektion.

Hatte der italienische Linksterrorismus vor diesem Hintergrund mehr Rückhalt in der Gesellschaft?

Auf jeden Fall. Schon um 1968 gab es in Italien etwas, das in Deutschland nie gelungen ist: eine Art Schulterschluss der revoltierenden Studenten mit der Arbeiterbewegung. Auch wenn es den Roten Brigaden nur in begrenztem Umfang gelang, die Fabrikarbeiter in den großen Städten des Nordens tatsächlich zu agitieren: Der italienische Terrorismus war zunächst ganz anders geerdet, während er in Deutschland von vornherein einen sozusagen selbstmörderischen Impuls hatte, Motto: Wir machen jetzt was, obwohl wir eigentlich schon ahnen, dass es vergeblich ist. Auch deshalb war Italien für viele junge Linke aus der Bundesrepublik das Traumland der Revolution. Die Genossen wurden glühend beneidet. In beiden Ländern waren die Militanten aber auch von antiimperialistischen Ideen aus aller Welt beeinflusst, allen voran von Fidel Castros Kuba. Nach ein paar Jahren veränderten sich die Attacken der Roten Brigaden: Während es zunächst gegen unbeliebte Vorarbeiter oder Manager in den norditalienischen Fabriken ging, sollte ab 1974 dezidiert das „Herz des Staates“ angegriffen werden, also Politiker, Richter, Journalisten. Später wurden sogar prominente Mitglieder des historischen Widerstands ermordet.

Petra Terhoeven lehrt Zeitgeschichte in Göttingen.
Petra Terhoeven lehrt Zeitgeschichte in Göttingen. © picture alliance/dpa/dpa Pool | Carsten Koall

Spielten die Verbrechen der faschistischen Zeit für den italienischen Linksterrorismus denn eine wirklich große Rolle?

Nein, das kann man nicht behaupten. Ich würde sogar sagen, dass die Linksradikalen an der allgemeinen Verdrängung der Verbrechen des faschistischen Italien teilgehabt haben, ob es nun um Äthiopien geht, um Libyen oder den Balkan. Die deutsche Besatzung ab 1943 mit ihren vielen Opfern unter der italienischen Zivilbevölkerung war eine Art Erinnerungsschleuse, durch die die eigene Tätervergangenheit nicht mehr durchkam. Außerdem tendierte man dazu, die „wahre Seele“ des Volkes als antifaschistisch zu verstehen. Die an sich „guten“ Italiener waren halt von diesem Mussolini und einer Handvoll anderer unterdrückt worden… Dieser Mythos spielt bis heute eine Rolle. Und auch da lohnt sich der Vergleich mit Deutschland: Wie wäre die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland wohl ohne Auschwitz und ohne die Nürnberger Prozesse gelaufen? Und noch eine Frage stellt sich in diesem Zusammenhang: Wie wichtig war bei der Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers durch die RAF überhaupt noch die Tatsache, dass er bei der SS gewesen ist? Der Ex-Terrorist Stefan Wisniewski hat im Interview dazu gesagt, es habe die Idee gegeben, dem entführten Schleyer für das Foto ein Schild um den Hals zu hängen mit dem Aufdruck „Gefangener seiner eigenen Geschichte“. Aber es wurde am Ende halt nicht so gemacht. 1977 ging es wohl ohnehin nur noch darum, „die Stammheimer“ aus dem Gefängnis zu holen, da durfte der „Austauschwert“ der Geisel nicht allzu sehr leiden.

Als Feindbild, zugleich fast als eine Art Popstar spielte Andreas Baader in Deutschland eine Riesenrolle. Gab es vergleichbare Phänomene in Italien?

In diesem Maße eher nicht. Die Angelegenheit wurde von vornherein politischer verstanden. Sicher, es gab eine gewisse Mythenbildung um den Gründer der Roten Brigaden, Renato Curcio, und seine 1975 beim Polizeieinsatz erschossene Frau „Mara“ Cagol. Auch den Namen Mario Moretti kennt man in Italien bis heute. Doch die Intensität, in der sich Künstlerinnen und Künstler in Deutschland an dem Thema RAF abgearbeitet haben, diese überbordende Fülle an Literatur, Film, Musik, bildender Kunst bis hin zum „Prada-Meinhof-Phänomen“, kennt man in Italien nicht. Die Brigaden wurden als Speerspitze einer politischen Bewegung verstanden, weniger als „Easy Rider“.

Die Roten Brigaden haben mehr gemordet als die RAF. Man zählt 179 Todesopfer gegenüber den 34 der RAF. Hat der italienische Staat entsprechend härter reagiert?

In den frühen 70ern scheint die Polizei in Italien die Aktionen nicht so ganz ernst genommen zu haben. Vielleicht war die Polizei auch überfordert – wie in Deutschland übrigens auch, man denke nur an das nicht verhinderte Attentat bei den Olympischen Spielen 1972 und die gescheiterte Befreiung der Geiseln. Die Idee des übermächtigen Staates ist zum Teil ja die Übernahme der terroristischen Ideologie. 1975, nach der Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz, hat der Staat noch nachgegeben. Da schafften es die Terroristen wirklich, fünf Leute aus dem Gefängnis freizupressen. Spätestens seit man wusste, dass sie wieder in den Untergrund gegangen waren, hat sich Helmut Schmidt geschworen, dass ihm das niemals wieder passiert. In Italien kam hinzu, dass die Regierungen christdemokratisch waren und die Kommunisten immer in der Opposition, was einen erheblichen Unterschied darstellte zu der Konstellation einer sozialliberalen Regierung mit einer konservativen Opposition, die immer behauptet hat, dass die Regierung nicht entschlossen genug gegen den Terrorismus und die vielgeschmähten „Sympathisanten“ vorgeht. In Italien ist die Gewalt dann Ende der 70er Jahre massiv eskaliert. Spätestens nach der Entführung und Ermordung des christdemokratischen Spitzenpolitikers und mehrfachen Ministerpräsidenten Aldo Moro 1978 mussten sich die Behörden andere Mittel der Terrorismusbekämpfung einfallen lassen. Es gab zum einen härtere Gesetze, sogar härtere als in Deutschland. Zum anderen gab es seit 1982 eine Kronzeugenregelung: Wer aussagt und sich distanziert, kommt frei. Das hat zu einer – vielleicht auch katholisch unterlegten – Kultur der öffentlichen Beichten geführt, zu vielen Aussteiger- und Läuterungsgeschichten, die es in Deutschland so nicht gab, vielleicht von Peter-Jürgen Boocks Geschichte einmal abgesehen. Die Kronzeugenregelung hat beim Niedergang der Roten Brigaden in den 80ern eine wichtige Rolle gespielt. Die Dauerpräsenz der Täter in den Medien und die Straflosigkeit für so manchen Ex-Terroristen war allerdings für die Opfer sehr schmerzhaft – darüber gibt es viele Berichte.

War der Tod Aldo Moros generell ein Wendepunkt? Vergleichbar mit dem entsprechenden Foto Hanns Martin Schleyers ist ja dieses makabre Foto, auf dem er zu sehen ist, wie er eine Zeitungsschlagzeile in die Kamera halten muss, die aus der Frage besteht, ob er schon getötet wurde…

Ja, furchtbar. Allerdings hatten die Journalisten wohl Hinweise, dass dies tatsächlich der Fall war, offenbar aufgrund gezielt gestreuter Gerüchte. Bei der Betrachtung solcher Fotos sollte man eines nie vergessen: Sie sind Teil der Gewalt. Es geht um die Demütigung der Opfer, um Trophäen. Wie in gewisser Weise Terrorismus überhaupt als „Kampf um Bilder“ zu verstehen ist. Dass Moros Schicksal ein Wendepunkt war, glaube ich unbedingt. Die Stimmung in der Bevölkerung war danach anders. Es gab Referenden für härtere Gesetze, für eine Ausdehnung des polizeilichen Gewahrsams, vielfach auch die Forderung, die Todesstrafe wiedereinzuführen, auch eine Parallele zum „Deutschen Herbst“ 1977 übrigens. Die Tatsache, dass man Aldo Moro nicht gefunden hat, wurde von vielen Italienerinnen und Italienern als nationale Schande empfunden und führte zu erheblichen Veränderungen in der Polizei und bei den Geheimdiensten – abgesehen von den nie enden wollenden Gerüchten, denen zufolge die Hälfte seiner Partei ihn gar nicht habe finden wollen… Wie dem auch sei: Sicher weiß man, dass Moro selbst während dieser 55 Tage immer bitterer wurde, was seine Parteifreunde betrifft. „Mein Blut wird über euch kommen“, schrieb er. Und als er ermordet worden war, gab es einen Staatsakt mit dem Papst und der gesamten Polit-Prominenz – aber ohne die Leiche. Die Witwe wollte ihn nämlich nur privat bestatten lassen.

Der Christdemokrat Aldo Moro, fotografiert am 20 April 1978.
Der Christdemokrat Aldo Moro, fotografiert am 20 April 1978. © picture-alliance / dpa | dpa

Sie haben geschrieben, man solle über „Selbstviktimisierungen“ der Täter das Leid der echten Terrorismusopfer nicht vergessen. Es hat in Italien mehr Opfer linksterroristischer Gewalt gegeben. Haben die Opfer auch eine stärkere Stimme?

Hierauf bezieht sich mein aktuelles Projekt. In den 70ern hatten die Opfer in beiden Ländern einen schweren Stand. Die Gesellschaften waren hier wie da nicht sensibilisiert für Themen wie Trauma und psychische Folgen von Gewalt. Die Menschen, um die es geht, waren in den Medien unglaublich exponiert. Auch manche Politiker haben sich mit befreiten Geiseln geschmückt – z.B. im Falle der in Mogadischu befreiten „Landshut“. Ihre Therapien mussten sie trotzdem selbst bezahlen.
In Italien kam die organisierte Interessenvertretung von Hinterbliebenen viel früher in Gang, schon nach dem schrecklichen, von Rechtsterroristen verübten Anschlag auf dem Hauptbahnhof von Bologna 1980, bei dem 85 Menschen starben. Fünf Jahre später gelang die Gründung so einer Vereinigung auch für die Opfer von Linksterrorismus. Die Organisation hat heute Tausende von Mitgliedern. Die haben viel erreicht, sind noch sehr aktiv. In Deutschland ist ein vergleichbarer Zusammenschluss nie gelungen, die Opfer sind weitgehend Einzelkämpfer geblieben.

Umfragen zufolge könnte eine neofaschistische Partei bei den Wahlen an diesem Sonntag siegen und in der nächsten Regierung den Ton angeben. Frage an die Historikerin: Was ist da schiefgelaufen?

Aus meiner Sicht hat das damit zu tun, dass die Geschichte des Faschismus, aber auch des Neofaschismus niemals gründlich aufgearbeitet und verstanden wurde. Der Linksterrorismus ist spätestens seit 1978 ein großes Thema gewesen. In jeder Stadt gibt es eine „Piazza Moro“. Für den Rechtsterrorismus gilt das nicht. Hinzu kommt der schwere Rückschlag durch Silvio Berlusconis Regierungen. Berlusconi hat antikommunistische Ressentiments wiederbelebt, bewusst Tabus gebrochen, die Postfaschisten salonfähig gemacht und 1994 in die Regierung geholt. Zudem vergesse man nicht beim Blick auf die Wahlergebnisse: Die Stärke der Rechten ist auch die Schwäche der anderen Parteien. Zugkräftiges und integres Spitzenpersonal sucht man leider auch bei den Linken oft vergeblich.