Hannover. Die Wahlperiode wurde in der Kultuspolitik von Corona und Lehrermangel geprägt.

Mehr „Quereinsteiger“, weniger Teilzeit, pensionierte Lehrer zurückholen und bis zu 400 Euro Prämien für neue Lehrkräfte: Es war im Juni, als Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) ein „Lehrkräfte-Gewinnungspaket“ vorstellte. Im niedersächsischen Kultusministerium wusste man vor den Sommerferien 2022 schließlich am besten, was die Stunde in Sachen Lehrermangel geschlagen hatte. Doch als der Minister im August in seiner Schuljahres-Pressekonferenz die Karten auf den Tisch legen musste, war die Botschaft keine frohe. Die Decke sei zu dünn, räumte Tonne selber ein. Malte Kern, Vorsitzender des Landesschülerrats, hatte es im Juni so gesagt: „Momentan ist die Lage an unseren Schulen definitiv nicht akzeptabel, was den Unterrichtsausfall angeht.“

GEW warnte schon 2009

Neu ist das Thema nicht: 2009 etwa warnte der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm in einem Gutachten im Auftrag der GEW, weniger als die Hälfte der durch Pensionierung ausscheidenden Lehrkräfte könne bis 2015 durch junge ersetzt werden. Klemm hatte unter anderem Daten des Statistischen Bundesamtes zu Studierenden und zu Abbrecherquoten ausgewertet.

Aktuell hält Niedersachsens GEW frühere eigene Berechnungen, wonach an Niedersachsens Schulen 7000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen, schon wieder für überholt. Insgesamt geht die Gewerkschaft von einem Fehlen von 10.000 Lehr- und Fachkräften aus, die an den Schulen fehlten.

Niedersachsens Philologen-Vorsitzender Christoph Rabbow hatte zuletzt von mindestens 8000 zusätzlichen Lehrkräften gesprochen, die bis 2030 nötig seien. Dazu kommt ein weiteres Problem, mit dem sich die Länder sowie die Kultusministerkonferenz bis heute herumschlagen. Schon Klemm warnte weiter, „dass die zur Verfügung stehenden Absolventen mit ihren studierten Lehrämtern und Fächern erfahrungsgemäß die Schulformen und die Fachnachfrage nicht abbilden werden“. Soll heißen: Was nutzen viele Deutschlehrer an Gymnasien, wenn Naturwissenschaften gebraucht werden – oder Lehrer an Haupt- und Realschulen? „Überbucht“ nennt eine Arbeitsgruppe von Wissenschafts- und Kultusministerium das Studium für das Lehramt an Gymnasien.

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Ministerium: 3000 Lehrer mehr

Zwar weist man im Kultusministerium gern darauf hin, dass in den Einstellungsrunden die Zahl der neuen Lehrkräfte seit Jahren über jener der der Pensionäre lag: rund 3000 Lehrer mehr seien so im „System“. Doch das reicht bei weitem nicht aus. Politisch begründete Großvorhaben wie die Inklusion behinderter Kinder, der Ausbau des Ganztagsangebots oder auch Sprachförderung kosten in großem Umfang Lehrerstunden, die den Schulen – wie jene für den Pflichtunterricht – zugewiesen werden müssen. Dass Schule mehr sei als Unterricht, betonten insbesondere SPD-Politiker. Das sehen zwar auch CDU, Grüne und FDP so. Doch CDU-Spitzenkandidat Bernd Althusmann, ein ehemaliger Kultusminister, forderte schon vor Jahren, mehr Stunden in den Unterricht umzuschichten. Zum Beispiel aus dem Ganztag.

Niederlage vor Gericht wirkt nach

Zum anderen gibt es zwar etliche Stellschrauben dafür, wie viel Unterricht mit dem vorhandenen Personal möglich ist. Wie viele Anrechnungsstunden für besondere Belastungen oder Funktionen von Pädagogen gibt es, wie viele Ermäßigungen, durch die die Unterrichtsverpflichtung der Betroffenen sinkt? Kultusminister Tonne, der mit den Verbänden regelmäßig zu Gesprächsrunden zusammenkommt, fasst solche heißen Eisen derzeit lieber nicht an. Unvergessen ist die Niederlage des Landes vor dem Oberverwaltungsgericht in Lüneburg, als die Regelstundenzahl für Gymnasiallehrer erhöht werden sollte. Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) hing die „bittere Niederlage“ (Heiligenstadt) wie ein Klotz am Bein. Vergleichbares wollen weder Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) noch Tonne erleben.

„Versorgung“ bleibt schlecht

Die Folge: Die rechnerische Unterrichtsversorgung, das Verhältnis von Soll und Ist-Stunden, soll laut Ministeriums-Prognose mit 98,5 Prozent weiter unter dem Wert Hundert liegen. Oppositionspolitiker bezweifeln selbst diesen Wert massiv. Ein Wert wird später auf Basis eines Stichtags erhoben. Um eine Vertretungsreserve an Lehrkräften zu haben, die kurzfristige Ausfälle im Kollegium auffangen kann, sind allerdings Werte von deutlich über 100 nötig. Der Lehrermangel ist außerdem sehr spezifisch: auf dem Land in der Regel problematischer als in Ballungsräumen, an Haupt-, Real- und Oberschulen deutlich ausgeprägter als an Gymnasien. Und von Schule zu Schule verschieden.

Problem Bedarfsprognosen

Sowohl der Philologenverband als auch die GEW haben zum neuen Schuljahr Forderungen und Vorschläge auf den Tisch gelegt. Einiges davon sei nicht falsch, hieß es aus dem Kultusministerium.

Dabei geht es beispielsweise um ein Erhöhen der Ausbildungskapazitäten an den Hochschulen und Studienseminaren. Doch die müssen ja auch ausgelastet werden. Die angehenden Neu-Lehrer müssen dann bei der Stange bleiben und auch nach dem Abschluss nicht in andere Bundesländer abwandern. Dazu wollen nun alle vier Landtagsfraktionen die Besoldung für Grund-, Hauptschul- und Realschullehrer aufstocken – eine alte Forderung, die aber zuletzt an Landesfinanzminister Reinhold Hilbers (CDU) gescheitert sei, wie es bei der SPD heißt. Und davor offenbar an anderen Ministern. „Die Bezahlung der Lehrkräfte an Grund-, Haupt- und Realschulen nach A 13 oder E 13 wie in den anderen Schulformen ist schleunigst umzusetzen“, sagt GEW-Landeschef Stefan Störmer. Die Grünen legen einen starken Akzent auf mehr Ressourcen für Schulen in sozial schwierigen Lagen, die SPD verspricht Tablets. Die AfD fordert laut Programm eine „politisch neutrale Schule“ und die Wiederherstellung des dreigliedrigen Schulsystems.

Das Land hat „erstmalig auch fächerspezifische Bedarfsprognosen“ erstellt. Das Ziel ist die Steuerung der Studienplatzkapazitäten. „Schwerpunkt Hauptschule wird fast nicht mehr angewählt“, hieß es schon am 2. September 2019 in einem Papier von Wissenschaftsministerium und Kultusministerium. Man sieht: Mit Lösungen ist eher nicht zu rechnen.