2017 und 2019 besuchte der Ukrainer Andrij Melnyk unsere Redaktion und warnte schon damals vor Putin. Konnten oder wollten wir es nicht hören?

Dirk Breyvogel kommentiert in einem öffentlichen Brief den Ukraine-Krieg.
Der Adressat: ein Gesprächspartner, den er in diesen Tagen nicht vergessen kann: Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk.

Sehr geehrter Herr Botschafter,

ich traf Sie zweimal. Das erste Mal besuchten Sie die Redaktion unserer Zeitung Anfang März 2017. Fast genau auf den Tag fünf Jahre ist das jetzt her. Damals stellten Sie sich in einem Interview den Fragen unserer Leser. Ich durfte dabei sein, wie Sie diesen eloquent und höflich Rede und Antwort standen. Begeistert waren Sie insbesondere von den jungen Menschen, die dem Gespräch beiwohnten, die sich ganz generell für Politik und die Weltlage interessierten. Sie sollten sich das bewahren und die Ukraine nie vergessen, gaben Sie ihnen mit auf den Weg, als Sie das Medienhaus verließen. Heute läuft es mir eiskalt den Rücken runter, wenn ich an Ihre Worte zurückdenke.

Schon damals sprachen Sie von einem Krieg, der in der Ostukraine tobt. Ein Stellungskrieg, unerbittlich. Und über Flucht und Vertreibung. „Wir erleben unser täglich Aleppo.“ So lautete die Überschrift, die das Interview in der Ausgabe vom 6. März 2017 zierte.

Im Interview selbst forderten Sie damals, den Druck auf Russland mit Sanktionen aufrecht zu erhalten. Wenige Tage zuvor hatte Wladimir Putin mit der Anerkennung der in den Separatistengebieten Donezk und Luhansk ausgestellten Pässe, das zuvor beschlossene Minsker Abkommen gebrochen. Ich frage mich heute: Wo war damals unsere Empörung? Da war die Krim schon drei Jahre annektiert.

Immer höflich, keine Tiraden

Sie wahrten im Gespräch stets die Contenance, als der Name Putin fiel. Sie vergriffen sich nicht im Ton, hetzten nicht, nannten ihn weder einen Despoten noch einen „Wahnsinnigen“, wie es in diesen Tagen immer wieder zu hören ist, selbst von Regierungschefs. Dabei ahnten Sie vermutlich, was auf die Ukraine zukommen könnte. Heute herrscht schreckliche Gewissheit. Ihre Eltern in Lwiw (Lemberg) und die Schwiegereltern in Kiew müssen um ihr Leben bangen. Der Blick auf Ihren Lebenslauf zeigt: Sie sind Jahrgang 1975. Sie sind der Ältere von uns beiden. Nicht einmal zwei Jahre trennen uns. Aber zwischen den Erfahrungen, die das Leben bereit hält, liegen nicht erst seit vergangenen Donnerstag Welten.

Damals sagten Sie beinahe prophetisch: „Über die Lockerung der Sanktionen wurde schon diskutiert, aber wenige haben sich einen Plan überlegt, was passiert, wenn die Provokationen zunehmen und die Eskalationsstufen steigen. Hier würde ich mir mehr Mut wünschen, die Sanktionen auch zu verschärfen. Diese Debatte kommt mir zu kurz.“ Eine Aussage, die uns heute, wenn wir auf den Einmarsch Russlands schauen, bis ins Mark treffen sollte. Aus der Zunahme der Provokationen ist ein Krieg mitten in Europa geworden. Wer der Aggressor ist, bestreitet niemand mehr, außer der Aggressor selbst.

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2019: Optimistisch, dass der Despot einlenkt

Im Juni 2019 waren Sie dann wieder in unserer Region, besuchten Wirtschaftsunternehmen und wissenschaftliche Einrichtungen wie das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und das Niedersächsische Forschungszentrum für Fahrzeugtechnik. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Müller aus Braunschweig begleitete Sie. Ich erlebte Sie optimistischer als zwei Jahre zuvor. Putin werde am Ende unter dem Druck der Welt einlenken und die Eskalation nicht weiter vorantreiben, hofften Sie inständig. Dass dieser Wunsch sich nicht erfüllte, können wir Ihnen schlecht zum Vorwurf machen. Denn es war der Naivität des Westens geschuldet, die Putin immer mehr Raum gab, so vorzugehen, wie er es heute macht. Knallhart und ohne Rücksicht auf andere.

Sie als Botschafter waren immer sehr klar, in dem, wie Sie Putin einschätzten und auch in der Frage der Nato-Osterweiterung. „Wenn die Ukraine schon vor zehn Jahren in der Nato gewesen wäre, hätte es diesen Krieg nicht gegeben! Davon bin ich überzeugt“, erklärten Sie damals mit Blick auf den Konflikt in der Ost-Ukraine. Eine Aussage, die heute vermutlich viele Politiker, die am Sonntag nach der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag sprachen, unterschreiben würden.

Auch Sie saßen bei der Debatte auf der Tribüne des Bundestages, wurden von Ex-Präsident Joachim Gauck in die Arme genommen, bekamen stellvertretend für Ihre Landsleute und deren Kampf um die Freiheit stehende Ovationen vom Parlament. Große Gesten, aber wie denken Sie darüber? Noch am Tag der russischen Invasion, dem 24. Februar, erklärten Sie im ZDF, in den letzten Monaten das Weinen verlernt zu haben, um dann zu sagen: „Heute dagegen habe ich es getan.“ Was war passiert? Immer wieder waren Ihre öffentlichen Forderungen nach Waffenlieferungen verpufft, hatten sich Politiker weggeduckt und auf andere Hilfe für die Ukraine verwiesen. Noch eine Woche zuvor haben Sie sich für die Forschheit im Auftreten rechtfertigen müssen. Unerträglich, oder?

Was Vitali Klitschko wohl gerade über Deutschland denkt?

Auch der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, muss so empfunden haben. Er hatte nach der Ankündigung einer Lieferung von 5000 Bundeswehr-Helmen für sein Land provokant gefragt: „Wollt ihr uns auch noch Kissen schicken?“ Erst als Deutschland sich mit dieser strikten Haltung zunehmend in der westlichen Staatengemeinschaft isolierte, reagierte Bundeskanzler Olaf Scholz und schwenkte nicht nur in der Frage der Waffenlieferungen um. Nun gilt mit Blick auf Despoten und Diktaturen Abschreckung statt Annäherung, damit die Freiheit der demokratischen Welt eine Chance hat, verteidigt zu werden. Für die Ukraine, für Ihre Heimat, kommt das womöglich zu spät.

Die Weitsicht, die Sie als Botschafter in beiden Gesprächen mit dieser Redaktion offenbarten, hat Deutschland lange Zeit gefehlt. Vielleicht wollten wir auch nicht glauben, was nicht sein durfte. Wie so oft in der letzten Zeit, wenn im Nachhinein die Erklärungen dazu geliefert werden mussten, das Augenscheinliche nicht erkannt zu haben. So scheint es zuletzt ein Fetisch deutscher Politik geworden zu sein – vielleicht auch seiner Begleitung durch uns Medien – lieber erklären zu wollen, warum das Kind in den Brunnen gefallen ist, als zu verhindern, dass es hineinfällt. Dabei balancierte es, um beim Bild zu bleiben, schon lange mit verbundenen Augen auf dem Rand des Brunnens.

Wie viel Zeit und Geld investieren wir jetzt in die Verteidigung?

Der Krieg in der Ukraine ist das schrecklichste, weil für uns selbst existenzbedrohendste Beispiel einer Politik, die im Abwarten und Zögern mehr Sinn als im aktiven Gestalten sieht. Es ist noch gar nicht lange her, dass der Vorgänger der heutigen Grünen Außenministerin Annalena Baerbock, Heiko Maas, die Gefahr der Übernahme des Taliban-Regimes in Afghanistan negierte. Öffentlich, bei einer Fragestunde im Bundestag, sagte der SPD-Politiker wenige Wochen vor dem übereilten Rückzug aus dem Land, er habe keine Hinweise, dass eine solche Situation bevorstünde. Hier war Maas nicht der einzige, der später eingestehen musste, sich fundamental geirrt zu haben.

Man bekommt immer öfter das Gefühl, es müsse erst etwas ganz Einschneidendes passieren, damit die deutsche Politik, so hat es die Journalistin Eva Quadbeck in der letzten Woche bezeichnet, aus ihrer „Komfortzone“ herauskommt. Wie geht Ihre Analyse, Herr Botschafter? Dann wird in Deutschland oft von Zäsur gesprochen, ob beim Klimaschutz, der Energiepolitik oder zuletzt bei Corona. Insbesondere bei letztgenannter Krise darf man aus meiner Sicht gespannt sein, ob die durch die Pandemie offengelegten Probleme angesichts der jüngsten verteidigungspolitischen Herausforderungen wirklich in jedweder Konsequenz angegangen werden. Man könnte ketzerisch fragen: Wer will sich mit den Faxgeräten in Gesundheitsämtern beschäftigen, wenn die territoriale Integrität Deutschlands gefährdet erscheint?

Wird Ukraine nur der Anfang weiterer Kriege?

Die Ansage von CDU-Fraktionschef Friedrich Merz am Sonntag im Bundestag war schon mal ein Fingerzeig, wohin die Reise gehen könnte. Der Krieg in der Ukraine hätte nicht nur eine Zeitenwende eingeläutet, so Oppositionsführer Merz, sondern sei die zentrale Aufgabe der Kanzlerschaft von Scholz. Das lässt erahnen, welche anderen Themen nachgeordnet behandelt werden könnten.

Herr Botschafter, Sie waren sich Ihrer Haltung wahrscheinlich immer sicher, wohl auch, weil Ihnen die seit Jahren bestehende Bedrohungslage und das Wissen um die Gefahr für ihre Verwandten und Bekannten es nicht möglich machten, die Augen zu verschließen. Eine Klarheit, die die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik mit Blick auf Russland in den letzten Jahren nur allzu oft hat vermissen lassen.

Zu Nord Stream 2 ist alles gesagt. Die interessengeleitete deutsche Energiepolitik im Umfeld der kriegerischen Ereignisse von heute zu erklären, wirkt immer kleinkariert und egozentrisch. Heute wissen wir auf einmal sehr genau, was wir falsch gemacht haben. Es wäre wünschenswert, wenn wir künftig diesen Weitblick vor dem nächsten Konflikt walten lassen und unsere Position frühzeitiger klären würden. Oder glauben wir, dass das, was in der Ukraine passiert, sich nicht wiederholen könnte?

Putin durfte sich zu oft in unserer Mitte präsentieren

Putin hat immer von unserer Wankelmütigkeit profitiert. Er hat unsere Sowohl-als-auch-Politik immer zu seinen Gunsten interpretieren können, und wir haben ihm die Chance gegeben, das zu tun. Natürlich gibt und gab es für unser Verhalten gute Gründe. Sie liegen in unserer Geschichte. Es wäre populistisch und falsch zugleich, die deutsche Verantwortung für den Lauf der Geschichte im 20. Jahrhundert – für Gräuel, Krieg, Vertreibung – angesichts der Entwicklungen in der Ukraine unter den Tisch fallen zu lassen. Es war politische Räson, so zu handeln, dass sich so etwas nie wiederholt. Dazu gehörte und gehört Diplomatie als wichtigstes Mittel, gerade mit Russland. Daher fiel uns oft zwangsläufig die Rolle als Mittler in Konflikten des 21. Jahrhunderts zu. Im Umgang mit Krisen hat diese Rolle leider auch zu einer gewissen Art der Bequemlichkeit geführt. So war der Versuch, einen Kompromiss zu erzielen, oft auch Mittel zum Zweck, seine eigene Position nicht abschließend klären zu müssen. Erst Putins Krieg hat diese Haltung über Bord geworfen.

Doch viel zu lange haben wir es zugelassen, dass sich dieser Mann, der jetzt die Welt in Atem hält, auf der Weltbühne in unserer Mitte präsentieren konnte. Wie müssen sich da die Ukrainer gefühlt haben? Wie Sie persönlich? Ob bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi, wenige Wochen vor der Krim-Annexion, bei der Fußball-WM 2018 oder bei jährlich stattfindenden Formel-1-Rennen – all diese Ereignisse haben den Anschein eines professionellen Umgangs mit Despoten erweckt, die auch ein fatales Signal an andere Staaten sendete. Zuständige Sportverbände und Ausrichter ließen sich mit der Aussicht auf maximalen wirtschaftlichen Erfolg korrumpieren. Die Öffentlichkeit führte Scheindebatten über Menschenrechtsverletzungen nur genau so lang, bis das Ereignis losging. Und wir? Wir alle spielten das Spiel mit.

Was in Russland geschah, haben wir oft nur „verurteilt“. Hinter dem Bedauern der Entwicklungen haben wir uns versteckt, bis es zur Floskel wurde. Auftragsmorde, Giftanschläge, Inhaftierungen: Die Namen der Opfer kennen wir so wie Sie: Politkowskaja, Nemzow, Litwinenko, Skripal, Nawalny oder Chodorkowski. Es gab die Einmischung in kriegerische Konflikte (Georgien), dann Annexionen wie auf der Krim. Alles war geebnet für das, was wir heute in Ihrer Heimat sehen. Aber erst jetzt, da man es nicht mehr anders als Krieg nennen kann, haben wir die Klarheit der Sprache für uns entdeckt.

Herr Botschafter, heute denke ich über Ihre Worte ganz anders. Meine Naivität von damals empfinde ich fast schon als peinlich. Ich hoffe, Sie können mir das verzeihen. Während unserer Gespräche ertappte ich mich sogar dabei, diese Gedanken zuzulassen: Übertreiben Sie bewusst? Kann es sein, dass hier nur die eine Seite uneingeschränkte Solidarität einfordert zu Lasten der anderen, die auch das Recht hat, gehört zu werden? Kann es sein, dass dieser Alarmismus kalkuliert ist? Nein, nein und nochmals nein. So lautet meine Antwort heute.

Einer der wichtigsten Eigenschaften eines Botschafters sei es, aufmerksam zuhören zu können, erklärten Sie 2017 unseren Lesern. Dabei wäre es an uns gewesen, Ihnen besser zuzuhören. Dann wäre die Welt heute friedlicher – und Ihr Land vielleicht noch frei.

Bleiben Sie stark,
Ihr Dirk Breyvogel