Vitali Klitschko ist als Bürgermeister von Kiew zum Gesicht des Widerstands geworden. Rückblick auf eine persönliche Begegnung.

Es gibt Sätze, die im Nachhinein eine ganz andere Bedeutung bekommen. Als ich 2014 auf Einladung der EU-Kommission nach Kiew reiste, trafen wir auch den frisch gekürten Bürgermeister Vitali Klitschko. „Als Boxer hat er wenige Niederlagen einstecken müssen; als Politiker stehen ihm noch harte Proben bevor“, schrieb ich anschließend in einem Porträt über den ehemaligen Weltmeister im Schwergewicht, der den Boxring gegen die Bühne der Politik eingetauscht hatte.

Wie wahr im Rückblick.

Damals, im September 2014, war Klitschko erst wenige Monate im Amt. Er empfing uns in Anzug und Krawatte im Rathaus der ukrainischen Hauptstadt, ein Bau im Stil des sozialistischen Klassizismus mit hohen Gängen und Marmorsäulen – wie geschaffen für einen Zwei-Meter-Mann, neben dem sich jeder Gast automatisch klein fühlt.

Klitschko wurde 2014 zum Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt gewählt

„Auf dem Weg nach Europa kann uns keiner stoppen“, sagte Klitschko damals kämpferisch. Worte, die den unbändigen Wunsch der Ukrainer nach Freiheit, Demokratie und, den Anschluss an den Westen transportierten. Die Proteste auf dem Maidan Nesaleschnosti, dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, waren da nicht lange her.

2014: Auf dem Maidan in Kiew standen riesige Plakate, die an die Proteste erinnerten. Eines zeigt Vitali Klitschko inmitten der Demonstranten. Auslöser für die Proteste damals war die Entscheidung der ukrainischen Regierung, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterschreiben.
2014: Auf dem Maidan in Kiew standen riesige Plakate, die an die Proteste erinnerten. Eines zeigt Vitali Klitschko inmitten der Demonstranten. Auslöser für die Proteste damals war die Entscheidung der ukrainischen Regierung, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterschreiben. © Archivfoto: Katrin Schiebold

Auf den Straßen klafften noch Löcher, wo Demonstranten Pflastersteine ausgehebelt hatten, um sie wütend der Staatsmacht entgegenzuschleudern. Von November 2013 bis Februar 2014 hatten zuweilen Tausende auf dem Platz ausgeharrt und gegen die Entscheidung des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch protestiert, das Assoziierungsabkommen mit der EU auf Eis zu legen und sich Russland zuzuwenden. Klitschko war – zumindest für den Westen -– das Gesicht dieser Maidan-Proteste, weil er sich als Oppositionsführer unter die Demonstranten mischte. Die Proteste endeten nach deren blutiger Niederschlagung in einem tragischen Finale mit mehr als 100 Toten.

Ich erinnere mich in diesen Tagen oft an die Begegnung mit dem prominenten Ex-Boxprofi, der sich nach seiner sportlichen Karriere nicht auf seinen Millionen ausruhen wollte. Er hat alles erreicht, er hätte sich locker zurückziehen können. Stattdessen zog er in die Politik. Er benannte schon damals zentrale Probleme seines Landes, deren Tragweite von vielen Beobachtern nur ansatzweise erkannt wurden. Er sprach in einem etwas holprigen Deutsch von seinem Einsatz für Reformen, gegen Korruption in Politik und Verwaltung, der Bedrohung durch Putin und der Notwendigkeit, warmes Wasser zu rationieren – weil zwischenzeitlich kein Gas mehr aus Russland in die Ukraine kam. „Dr. Eisenfaust“. Diesen Spitznamen bekam Klitschko als Boxer. Unerbittlichkeit, Entschlossenheit ist es jetzt wieder, die er im Krieg ausstrahlt.

Vitali Klitschko hat seinen Anzug gegen eine Tarnuniform eingetauscht

Seite an Seite mit seinem Bruder Wladimir zeigt er sich in diesen Tagen auf Videos in den Sozialen Netzwerken. Den Anzug hat er längst gegen eine Tarnuniform ausgetauscht, mal spricht er vor der ukrainischen Flagge, mal vor der Stadtkarte von Kiew, mal vor einem Eingang zur Metro. Er warnt vor Luftangriffen, mahnt, die Sperrstunde einzuhalten und spricht den Bürgerinnen und Bürgern Mut zu, während Kolonnen von russischen Panzern auf Kiew zurollen. Die jahrelang trainierte Willensstärke kommt dem Sportler zugute.

Die Videos geben Hoffnung und Kraft, weil wir zu dem Bild des personifizierten Bösen, zu der Eisesmiene eines Wladimir Putin am schier endlos langen Konferenztisch, ein Gegengewicht brauchen – einen David, der Goliath gegenübertritt. Putin, mit der Stärke einer Atommacht im Rücken, gegen Klitschko und den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die sich in Kiew, im Herzen der Ukraine, an die Seite der Bevölkerung stellen – sie sind schon jetzt zu Heldenfiguren in diesem Krieg geworden, zu Gesichtern des Widerstands gegen eine russische Übermacht.

Die Ukraine fordert einen EU-Beitritt im Eilverfahren, doch es gibt hohe Hürden

Freiheit, Demokratie – siebeneinhalb Jahre nach der Begegnung im Kiewer Rathaus ist dieser Wunsch ins Unermessliche gewachsen, ein Wunsch, der Putins kriegerischen Zorn provoziert. Schon im Dezember hatte Klitschko an Deutschland appelliert: „Wir sind ein europäisches Land, das mehr denn je europäische Unterstützung braucht.“ In einer flammenden Rede forderte auch Präsident Selenskyj in dieser Woche erneut die Aufnahme in die EU im Eilverfahren. Und angesichts der schrecklichen Bilder aus der Ukraine, der Bomben, der Toten, Verletzten, des Leids gibt es tatsächlich Handlungsdruck. Die Bilder treffen ins Herz, sie wühlen auf, machen fassungslos. Man ist versucht zu sagen: Klar gehört ihr dazu, kommt sofort rein in unsere Gemeinschaft! Doch so einfach ist es nicht. Jetzt Erwartungen zu wecken, die sich so schnell nicht erfüllen lassen, wäre ein fatales Signal.

Tatsächlich ist die Aufnahme in die EU ein komplizierter, langwieriger Prozess, für den aus gutem Grund strenge Kriterien gelten. Erforderlich sind Reformen, um die staatlichen Strukturen schrittweise an Europas Werte- und Rechtsrahmen anzupassen. Seit über zwei Jahrzehnten fördert die EU ihren strategischen Partner Ukraine. Doch noch immer ist der Einfluss der Oligarchen groß, es gibt enge Verflechtungen zwischen der Wirtschaft, hochrangigen Beamten, der Regierung, dem Parlament, der Justiz. Bislang ist das Land beim Kampf gegen die Korruption und beim Aufbau einer Rechtsstaatlichkeit nicht schnell genug vorangekommen. Das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine, das seit 2016 in Kraft ist, bildet die Grundlage für die nötigen Reformen. Dieser Prozess kann und muss jetzt vorangetrieben werden, der Status der Ukraine als Beitrittskandidat ist das nächste Ziel. Das Versprechen nach einem sofortigen EU-Beitritt hilft dagegen nicht. Es mag als Rettungsanker gesehen werden, wäre aber zu diesem Zeitpunkt reine Symbolpolitik.

Vitali Klitschko als Boxer: Hier feiert er den Sieg über Manuel Charr in Moskau im September 2012. Klitschko blieb Weltmeister im Schwergewicht.
Vitali Klitschko als Boxer: Hier feiert er den Sieg über Manuel Charr in Moskau im September 2012. Klitschko blieb Weltmeister im Schwergewicht. © dpa | Sergei Ilnitsky

Wäre die Ukraine Mitglied der EU, wären ihre europäischen Partner laut einer 2009 in den EU-Vertrag eingefügten Beistandsklausel zu Hilfe verpflichtet. Finanzielle Hilfe, Sanktionen gegen Russland, Waffenlieferungen, schnelle Lösungen bei der Aufnahme von Flüchtlingen – faktisch wendet die EU die Beistandsklausel aber schon jetzt in Bezug auf die Ukraine mit vielen der ihr zur Verfügung stehenden Mittel an. Diese Einigkeit ist wichtig, die Menschen in der Ukraine haben die Unterstützung der Europäer verdient.

„Klitschkos härtester Kampf“, lautete die Überschrift zu meinem Artikel im Jahr 2014 – mit Blick auf seine politische Karriere an der Spitze einer Stadt, die nun von russischen Truppen umzingelt ist, eine Stadt zwischen Angst und Siegeswillen.

Ob der Box-Champion diesen Kampf gewinnen kann? Man kann kaum noch daran glauben, der K.o. ist nur eine Frage der Zeit. Eines ist Klitschko in diesem Krieg aber bereits: ein moralischer Sieger.

Die Autorin war von 2007 bis 2010 EU-Korrespondentin in Brüssel. 2014 traf sie bei einer Reise mit der EU-Kommission Vitali Klitschko in Kiew.